Inkretinmimetika

aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie
(Weitergeleitet von Inkretin-Mimetikum)
Zur Navigation springen Zur Suche springen
Inkretin-Effekt

Inkretinmimetika oder GLP-1-Rezeptoragonisten (auch kurz GLP-1-RA oder GLP-1-Agonisten) sind eine Wirkstoffklasse innerhalb der Antidiabetika, die ursprünglich spezifisch zur Behandlung des Diabetes mellitus Typ 2 entwickelt wurde. Sie ahmen die Wirkung der körpereigenen Hormone Glucagon-like Peptide 1 (GLP-1) und glukoseabhängiges insulinotropes Peptid (GIP) nach. Diese werden bei Typ-2-Diabetikern vermindert ausgeschüttet, wodurch der Inkretin-Effekt, d. h. die blutzuckersenkende Wirkung, verringert ist. Inkretinmimetika sind Peptide oder Peptidkonjugate, die in der Regel als subkutane Injektion verabreicht werden.

Eine weitere Stoffklasse, deren Vertreter ebenfalls über den Inkretin-Effekt wirken, sind die Gliptine, die durch Hemmung des Enzyms Dipeptidylpeptidase 4 (DPP-4) den Abbau von GLP-1 und GIP blockieren.

Diabetes mellitus Typ 2

[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Der primäre Einsatzbereich der Inkretinmimetika ist die Therapie des Diabetes mellitus Typ 2.[1] Wenngleich die American Diabetes Association Metformin als Mittel erster Wahl sieht, ist dennoch die zusätzliche Gabe eines GLP-1-Agonisten bei bestimmten Patienten denkbar. Zu ihnen zählen Patienten mit einer Unverträglichkeit gegenüber Metformin, Patienten mit einem Hämoglobin A1c-Wert, der um mehr als 1,5 % über dem Zielwert liegt, oder Patienten, die innerhalb von drei Monaten ihren Ziel-HbA1c-Wert nicht erreichen, insbesondere, wenn eine Atherosklerose, Herzinsuffizienz oder chronisches Nierenversagen vorliegen.[2]

Adipositas und Übergewicht

[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Neben der Behandlung des Typ-2-Diabetes sind einige Inkretinmimetika auch zum medikamentösen Management von Übergewicht und Adipositas zugelassen, in Ergänzung zu Diät und sportlicher Betätigung. Ihre Gabe wird empfohlen, sofern der Body-Mass-Index entweder mindestens 30 kg/m2 beträgt oder aber zwischen 27 und 30 kg/m2 liegt und mit mindestens einer gewichtsbezogenen Komplikation einhergeht.[3]

Potentielle Anwendungsgebiete

[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Ebenfalls zeigen Inkretinmimetika stellenweise antidepressive und neuroprotektive Eigenschaften in der Anwendung bei Diabetikern. Da Diabetes einen Risikofaktor für Depressionen darstellt, wäre es auf diese Weise möglich, Depressionen vorzubeugen. Während zwei Studien ein signifikant verringertes Risiko feststellen konnten, wurde in zwei anderen Studien kein derartiger Effekt nachgewiesen.[4]

Patienten, die wegen Diabetes mellitus Typ 2 mit Inkretinmimetika behandelt wurden, hatten einen signifikant günstigeren Verlauf einer gleichzeitig bestehenden Suchterkrankung (Opiate, Alkohol). Möglicherweise stellen Suchterkrankungen in Zukunft ein weiteres Anwendungsgebiet für Inkretinmimetika dar.[5][6]

Unerwünschte Arzneimittelwirkungen

[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Die wesentlichen unerwünschten Wirkungen (Nebenwirkungen) sind Übelkeit, Durchfall und Erbrechen.[7]

In klinischen Studien wurde über wenige Fälle von Pankreatitis berichtet.[8] Hinweise aus einer 2013 publizierten Autopsiestudie[9] an Diabetes-Patienten auf ein erhöhtes Risiko für eine schädliche Wirkung von GLP-1-basierten Therapien auf die Bauchspeicheldrüse (Pankreas) hielten einer Überprüfung durch den Ausschuss für Humanarzneimittel (CHMP) der Europäischen Arzneimittel-Agentur nicht stand.[8] Das CHMP kam zu dem Schluss, dass die Autopsiestudie selbst eine Reihe von methodischen Einschränkungen und potenziellen Quellen für Verzerrungen aufwies, die eine aussagekräftige Interpretation der Ergebnisse ausschließen. Nach Prüfung der verfügbaren nichtklinischen und klinischen Daten habe sich die Evidenz hinsichtlich des Risikos unerwünschter Ereignisse der Bauchspeicheldrüse im Zusammenhang mit GLP-1-basierten Therapien nicht geändert.[8]

Die Europäische Arzneimittel-Agentur (EMA) informierte im April 2024, dass ein kausaler Zusammenhang zwischen der Anwendung von GLP-1-Agonisten und dem Auftreten von suizidalen und selbstverletzenden Gedanken und Handlungen nicht nachweisbar sei.[10] Der Pharmakovigilanzausschuss (PRAC) der EMA hatte im Juli 2023 – ausgelöst durch die isländische Arzneimittelbehörde – ein Review-Verfahren eingeleitet, nachdem vereinzelt Meldungen über suizidale Gedanken und Selbstverletzungen bei Menschen eingegangen waren, die Liraglutid oder Semaglutid einnahmen. In diesem Verfahren wurden zusätzlich drei weitere GLP-1-Rezeptoragonisten, namentlich Dulaglutid, Exenatid, und Lixisenatid, ausgewertet.[11] Der Ausschuss analysierte die zur Überwachung nach dem Inverkehrbringen erhobenen Daten der Arzneimittelhersteller sowie die die Ergebnisse von zwei Studien, von denen eine von der EMA durchgeführt wurde.[10] Die Beurteilung der EMA ist in Übereinstimmung mit den vorläufigen Ergebnissen einer laufenden Bewertung der US-Behörde FDA, die ebenfalls keinen Zusammenhang fand.[12]

Da Inkretinmimetika die Magenentleerung verzögern, können auch nach der vor Narkosen vorgeschriebenen Nahrungskarenzzeit noch Speisereste im Magen vorhanden sein, so dass das Risiko von Aspirationspneumonien erhöht sein dürfte.[13][14]

Anwendungsbeschränkungen

[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Bei schweren Nierenfunktionsstörungen wird die Anwendung von Inkretinmimetika nicht,[15] bei schweren Leberfunktionsstörungen nicht oder mit Vorsicht empfohlen.[16] Einer 2024 publizierten Studie zufolge können jedoch GLP-1-Rezeptor-Agonisten möglicherweise ein Fortschreiten von Lebererkrankungen bei Typ-2-Diabetes verhindern.[17][18]

Für die Anwendung in der Schwangerschaft liegen unzureichende Daten vor.[15]

Tabellarische Übersicht

[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]
Name Kurzbeschreibung Agonismus Anwendungsgebiete Verabreichung
Exenatid Synthetisch hergestelltes Polypeptid, das der natürlicherweise im Speichel der Gila-Krustenechse vorkommenden Substanz Exendin-4 entspricht, erstes therapeutisch eingesetztes Inkretinmimetikum und Leitsubstanz der Wirkstoffklasse, 53 % Sequenzhomologie[19] zu GLP-1 GLP-1 Typ-2-Diabetes (T2DM) 2 x täglich oder 1 x wöchentlich (Retard) subkutan
Liraglutid Biotechnologisch hergestelltes Analogon des Inkretins GLP-1 mit 97 % Sequenzhomologie[19] und verlängerter HWZ (13 h) GLP-1 T2DM, Gewichtsreduktion 1 x täglich subkutan
Taspoglutid GLP-1-Analogon GLP-1 Entwicklung eingestellt -
Lixisenatid Exenatid-Analogon GLP-1 T2DM; auch in fixer Kombi mit Insulin glargin 1 x täglich subkutan
Albiglutid GLP-1-Analogon und Fusionsprotein GLP-1 T2DM (Zulassung zurückgenommen) 1 x wöchentlich subkutan
Dulaglutid GLP-1-Analogon mit 90 % Sequenzhomologie,[19] Fusionsprotein GLP-1 T2DM 1 x wöchentlich subkutan
Semaglutid GLP-1-Analogon, auch als orale Formulierung verfügbar. Angaben des Herstellers zufolge der meistverkaufte GLP-1-Rezeptoragonist (Stand Mai 2023)[20] GLP-1 T2DM, Gewichtsreduktion 1 x wöchentlich (subkutan),
1 x täglich (oral)
Tirzepatid GIP-Analogon mit Zweifach-Agonismus GLP-1, GIP T2DM, Gewichtsreduktion 1 x wöchentlich subkutan
Retatrutid GIP-Analogon mit Dreifach-Agonismus GLP-1, GIP, Glucagon experimentell 1 x wöchentlich subkutan
Efpeglenatid Exenatidanalogon-Antikörperfragment-Konjugat GLP-1 experimentell 1 x wöchentlich subkutan
Pseudin-2 Aus dem Hautsekret des Großen Harlekinfrosches (Pseudis paradoxa) isoliertes Peptid experimentell -
Schematische Darstellung der Struktur einiger Inkretinmimetika. Oben: GLP-1 (human) und Analoga. Die Peptidsequenzen werden rekombinant hergestellt. Unten: Exendin-4 (Heloderma suspectum) und synthetische Analoga. Liraglutid ist wie GLP-1 gegen Inaktivierung durch proteolytische Spaltung zwischen A(8) und E(9) empfindlich. Tirzepatid ist in seiner Sequenz außer zu GLP-1 durch entsprechende Aminosäuren (umrandet dargestellt) zudem deutlich zu GIP homolog, woraus ein dualer Wirkmechanismus resultiert. Aminosäuren sind im Einbuchstabencode angegeben.

Zulassungshistorie

[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Chronologie der Zulassungen
  • J.Y. Cheang, P.M Moyle: Glucagon-Like Peptide-1 (GLP-1)-Based Therapeutics: Current Status and Future Opportunities beyond Type 2 Diabetes. In: ChemMedChem. Band 13, Nr. 7, 2018, S. 662–671, doi:10.1002/cmdc.201700781.
  • E. Brown, D.J. Cuthbertson, J.P. Wilding: Newer GLP-1 receptor agonists and obesity-diabetes. In: Peptides. Nr. 100, 2018, S. 61–67, doi:10.1016/j.peptides.2017.12.009.
  • F. Svec: Incretin physiology and its role in type 2 diabetes mellitus. In: The Journal of the American Osteopathic Association. 110. Jahrgang, 7 Suppl 7, Juli 2010, S. eS20–24, PMID 20644202 (englisch).
  • Michael A. Nauck, Daniel R. Quast, Jakob Wefers: GLP-1 receptor agonists in the treatment of type 2 diabetes – state-of-the-art. In: Molecular Metabolism. 2021, Band 46, S. 101102. doi:10.1016/j.molmet.2020.101102.
  • Richard Daikeler, Götz Use, Sylke Waibel: Diabetes. Evidenzbasierte Diagnosik und Therapie. 10. Auflage. Kitteltaschenbuch, Sinsheim 2015, ISBN 978-3-00-050903-2, S. 162–165.

Einzelnachweise

[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]
  1. Wafa Latif, Katerina J. Lambrinos, Rolando Rodriguez: Compare and Contrast the Glucagon-Like Peptide-1 Receptor Agonists (GLP1RAs). In: StatPearls. StatPearls Publishing, Treasure Island (FL) 2024, PMID 34283517 (nih.gov [abgerufen am 1. März 2024]).
  2. Logan Collins, Ryan A. Costello: Glucagon-Like Peptide-1 Receptor Agonists. In: StatPearls. StatPearls Publishing, Treasure Island (FL) 2024, PMID 31855395 (nih.gov [abgerufen am 1. März 2024]).
  3. Sean Wharton, Melanie Davies, Dror Dicker, Ildiko Lingvay, Ofri Mosenzon, Domenica M. Rubino, Sue D. Pedersen: Managing the gastrointestinal side effects of GLP-1 receptor agonists in obesity: recommendations for clinical practice. In: Postgraduate Medicine. Band 134, Nr. 1, 2. Januar 2022, ISSN 0032-5481, S. 14–19, doi:10.1080/00325481.2021.2002616 (tandfonline.com [abgerufen am 1. März 2024]).
  4. Daniel H. Cooper, Ranuk Ramachandra, Felicia Ceban, Joshua D. Di Vincenzo, Taeho Greg Rhee, Rodrigo B. Mansur, Kayla M. Teopiz, Hartej Gill, Roger Ho, Bing Cao, Leanna M. W. Lui, Muhammad Youshay Jawad, Juliet Arsenault, Gia Han Le, Diluk Ramachandra, Ziji Guo, Roger S. McIntyre: Glucagon-like peptide 1 (GLP-1) receptor agonists as a protective factor for incident depression in patients with diabetes mellitus: A systematic review. In: Journal of Psychiatric Research. Band 164, 1. August 2023, ISSN 0022-3956, S. 80–89, doi:10.1016/j.jpsychires.2023.05.041 (sciencedirect.com [abgerufen am 1. März 2024]).
  5. William Wang, Nora D. Volkow, Nathan A. Berger, Pamela B. Davis, David C. Kaelber, Rong Xu: Associations of semaglutide with incidence and recurrence of alcohol use disorder in real-world population. In: Nature Communications. Band 15, Nr. 1, 28. Mai 2024, ISSN 2041-1723, S. 4548, doi:10.1038/s41467-024-48780-6 (nature.com [abgerufen am 22. Oktober 2024]).
  6. Fares Qeadan, Ashlie McCunn, Benjamin Tingey: The association between glucose‐dependent insulinotropic polypeptide and/or glucagon‐like peptide‐1 receptor agonist prescriptions and substance‐related outcomes in patients with opioid and alcohol use disorders: A real‐world data analysis. In: Addiction. 16. Oktober 2024, ISSN 0965-2140, doi:10.1111/add.16679 (wiley.com [abgerufen am 22. Oktober 2024]).
  7. Metaanalysen zu GLP-1-Mimetika, B. Wilms, Congress-Report Dezember 2011, S. 21f.
  8. a b c Europäische Arzneimittel-Agentur: Investigation into GLP-1-based diabetes therapies concluded – European Medicines Agency. In: ema.europa.eu. 26. Juli 2013, abgerufen am 30. November 2023 (englisch).
  9. A. E. Butler, M. Campbell-Thompson, T. Gurlo, D. W. Dawson, M. Atkinson, P. C. Butler: Marked Expansion of Exocrine and Endocrine Pancreas with Incretin Therapy in Humans with increased Exocrine Pancreas Dysplasia and the potential for Glucagon-producing Neuroendocrine Tumors. In: Diabetes. Band 62, S. 2595–2604, doi:10.2337/db12-1686.
  10. a b Meeting highlights from the Pharmacovigilance Risk Assessment Committee (PRAC) 8-11 April 2024 – European Medicines Agency. In: ema.europa.eu. 12. April 2024, abgerufen am 15. April 2024 (englisch).
  11. EMA statement on ongoing review of GLP-1 receptor agonists – European Medicines Agency. In: ema.europa.eu. 11. Juli 2023, abgerufen am 15. April 2024 (englisch).
  12. Center for Drug Evaluation, Research: Update on FDA’s ongoing evaluation of reports of suicidal thoughts or actions in patients taking a certain type of medicines approved for type 2 diabetes and obesity | FD. In: fda.gov. 30. Januar 2024, abgerufen am 15. April 2024 (englisch).
  13. JAMA Surgery 2024.
  14. GLP-1-Agonisten erhöhen Operationsrisiko. In: Deutsches Ärzteblatt. Jahrgang 121, Heft 7, 5. April 2024, S. B 413.
  15. a b Gerd Geisslinger, Sabine Menzel, Thomas Gudermann, Burkhard Hinz, Peter Ruth: Mutschler Arzneimittelwirkungen. Pharmakologie – Klinische Pharmakologie – Toxikologie. Begründet von Ernst Mutschler, 11. Auflage. Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft, Stuttgart 2020, ISBN 978-3-8047-3663-4. S. 671 f.
  16. Vgl. Fachinformationen Wegovy, Rybelsus, Ozempic, Mounjaro, Victoza, Saxenda; abgerufen am 9. Dezember 2022.
  17. A. Wester, Y. Shang, Grip E. Toresson und andere: Glucagon-like peptide-1 receptor agonists and risk of major adverse liver outcomes in patients with chronic liver disease and type 2 diabetes. In: GUT 2024. doi:10.1136/gutjnl-2023-330962.
  18. Rüdiger Meyer: Lebererkrankungen bei Typ-2-Diabetes. GLP-1-Rezeptor-Agonisten könnten vor einer Progression von Lebererkrankungen schützen. In: Deutsches Ärzteblatt. Jahrgang 121, Heft 7, 5. April 2024, S. B 412.
  19. a b c Seung‐Ah Lee, Dong Yun Lee: Glucagon-like peptide-1 and glucagon-like peptide-1 receptor agonists in the treatment of type 2 diabetes. In: Annals of Pediatric Endocrinology & Metabolism. 2017, Band 22, Nummer 1, S. 15. doi:10.6065/apem.2017.22.1.15.
  20. Novonordisk, Inverstor presentation: International Operations diabetes care sales growth is driven by GLP-1 performance. In: investor.novonordisk.com. 10. August 2023, abgerufen am 21. November 2023.