Jiří Dienstbier (Politiker, 1937)
Jiří Dienstbier (* 20. April 1937 in Kladno, Tschechoslowakei; † 8. Januar 2011 in Prag) war ein tschechischer Politiker und Journalist.
Nach der Wende 1989 war er von Dezember 1989 bis zum Juli 1992 der erste Außenminister der Tschechoslowakei nach dem Sturz der kommunistischen Regierung. 2008 wurde er im Bezirk Kladno zum Senator für die ČSSD gewählt.
Leben
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Jiří Dienstbier stammte aus einer Arztfamilie, sein Vater Emil war Ophthalmologie-Primararzt in Kladno. Jiří Dienstbier studierte an der Karls-Universität Prag Philosophie und arbeitete anschließend als Journalist beim Tschechoslowakischen Rundfunk. 1958 trat er der KSČ bei. Als Auslandskorrespondent berichtete er vor allem aus dem Fernen Osten und fiel als kritischer Kopf auf, unter anderem dadurch, dass er – entgegen den Vorschriften – auch Interviews sendete, die nicht von der kommunistischen Führung in Prag autorisiert waren.
1968 zählte er zu den Unterstützern des Prager Frühlings. Beim Einmarsch der Warschauer-Pakt-Staaten in die ČSSR in der Nacht zum 21. August 1968 war Dienstbier als Korrespondent von Radio Prag in Washington, D.C.[1] Dort wurde auch sein Sohn geboren. Er kehrte aus Pflichtgefühl und mit dem Willen, zu retten, was zu retten ist, in die Heimat zurück. Die neuen Machthaber schlossen Dienstbier aus der Kommunistischen Partei aus, belegten ihn mit einem Berufsverbot, ließen ihn immer wieder verhaften und drängten ihn in finanzielle Not und Isolation.
Dienstbier verdiente seinen Lebensunterhalt mit unterschiedlichen Tätigkeiten und arbeitete weiter als Oppositioneller. Er unterzeichnete mit vielen anderen Dissidenten die Charta 77. Für sein politisches Engagement wurde er 1979 (zusammen mit Václav Havel und anderen) zu drei Jahren Gefängnis verurteilt.
Nach seiner Entlassung 1982 musste er (bis zu seiner Ernennung als Minister) als Heizer arbeiten, ließ sich aber in seinem politischen Einsatz nicht beirren und schrieb weiterhin für Untergrundzeitungen. Mit der politischen Wende des Jahres 1989 (vgl. Revolutionen im Jahr 1989; in der Tschechoslowakei als „Samtene Revolution“ bezeichnet) trat er wieder ins Rampenlicht der Öffentlichkeit. Dienstbier zählte zu den Mitbegründern des demokratischen Bürgerforums.
Am 10. Dezember 1989 wurde er zum Außenminister in der von Marián Čalfa geleiteten Regierung Marián Čalfa I ernannt. Am 17. Dezember 1989 schnitten er und der damalige österreichische Außenminister Alois Mock gemeinsam mit einem Bolzenschneider den Stacheldraht des tschechoslowakisch-österreichischen Grenzzauns zwischen Hatě und Kleinhaugsdorf durch und unterstrichen damit den Fall des Eisernen Vorhangs.[2] Ähnlich war die Zeremonie am 23. Dezember 1989 am Grenzübergang Waidhaus-Rozvadov gemeinsam mit dem damaligen bundesdeutschen Außenminister Hans-Dietrich Genscher.
Nachdem der konservative Flügel des Bürgerforums sich als ODS formiert hatte, gründete Dienstbier mit dem eher linksliberalen Flügel die Partei Občanské hnutí (OH; „Bürgerbewegung“) und wurde zu deren Vorsitzenden gewählt. Er trat im Juli 1992 als Außenminister zurück; in der Folgezeit war er als Kommunalpolitiker im Stadtrat von Prag tätig und arbeitete auch wieder als Journalist. Nach dem Scheitern der OH bei der Wahl 1992 und der Auflösung der Tschechoslowakei benannte sich die Partei in Svobodní demokraté (SD; Freie Demokraten) um. Diese fusionierte 1995/96 mit der Liberalen national-sozialen Partei (LSNS) zur SD-LSNS, deren Ko-Vorsitzender Dienstbier kurzzeitig war. Nach dem erneuten Scheitern bei der Wahl 1996 löste sich die SD-LSNS auf und Dienstbier war parteilos. Von 1998 bis 2001 war er Sonderberichterstatter der Vereinten Nationen für Menschenrechte im ehemaligen Jugoslawien.
Nachdem Dienstbier 1990 zusammen mit Hans-Dietrich Genscher die deutsch-tschechische Historikerkommission gegründet hatte, erhielten er und Genscher 2004 gemeinsam den Kunstpreis zur deutsch-tschechischen Verständigung, den der Münchener Adalbert-Stifter-Verein gemeinsam mit der Union für gute Nachbarschaft tschechisch- und deutschsprachiger Länder aus Prag verleiht.
Im Jahr 2008 zog er als parteiloser Kandidat mit Unterstützung der Sozialdemokraten (ČSSD) in den tschechischen Senat ein. Diesen Posten bekleidete er bis zu seinem Tod.[3] Dienstbier starb nach langer Erkrankung an Krebs. Genscher würdigte ihn.[4]
Dienstbier war insgesamt vier Mal verheiratet. Er hatte drei Töchter: Monika, Kristina und Irena (1998 verstorben). Dienstbiers Sohn Jiří ist ebenfalls Politiker. Er wurde im März 2011 im Wahlkreis seines Vaters (Kladno) für die Sozialdemokraten in den Senat gewählt.[5] Im Jahr 2013 wurde Dienstbier posthum mit dem Hanno R. Ellenbogen Citizenship Award ausgezeichnet, der gemeinsam von der Prager Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit und der Global Panel Foundation verliehen wird.[6]
Literatur
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]in deutscher Sprache
- Prager Gespräche 1978: Zdena Tominová, Jiří Dienstbier, Ludvík Vaculík über tschechische Opposition heute. In: Spuren, Hamburg, 1 (1978), 3, S. 29–32.
- Jiří Dienstbier: Mit den Augen eines Mitteleuropäers: eine Strategie für Europa. In: Neue Gesellschaft, Frankfurter Hefte 35(1988), H. 4, S. 384–392.
- Jiří Dienstbier: Was bleibt übrig? 20 Jahre nach dem Prager Frühling, in: OSTKREUZ. Politik – Geschichte – Kultur. Samisdatzeitschrift. Berlin (DDR), Januar 1989
- Jiří Dienstbier: Träumen von Europa. Berlin 1991. ISBN 3-87134-003-0.
- Manfred Leier (Hrsg.): Prag und die Landschaften der Tschechoslowakei. Mit Beiträgen von Jiří Dienstbier. Hamburg, Sternbuch im Verlag Gruner & Jahr, 1991. ISBN 3-570-06630-4.
Weblinks
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]- Literatur von und über Jiří Dienstbier im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek
- Jiri Dienstbier gestorben. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung. 8. Januar 2011, abgerufen am 10. Januar 2011 (Nachruf).
- Hans-Dietrich Genscher: Abschied von einem Wegbereiter der Freiheit. Meine persönlichen Erinnerungen an den tschechischen Ex-Außenminister Dienstbier. In: Der Tagesspiegel. 11. Januar 2011, S. 4, abgerufen am 11. Januar 2011 (Nachruf).
- Christian Dietrich: Jiŕi Dienstbier lebt nicht mehr. In: Die Achse des Guten. 16. Januar 2011, S. 1, abgerufen am 31. Januar 2011 (Nachruf).
- Herbert Ammon: Zum Tod von Jiŕi Dienstbier. In: GLOBKULT. 6. Februar 2011, S. 1, abgerufen am 3. März 2011 (Nachruf).
Einzelnachweise
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]- ↑ Der Mann, der den Eisernen Vorhang durchschnitt. In: DER SPIEGEL. DER SPIEGEL GmbH & Co. KG, 8. Januar 2011, abgerufen am 15. Februar 2022.
- ↑ Unterzeichner der Charta 77 auf ORF vom 9. Januar 2011, abgerufen am 11. Januar 2011.
- ↑ Tschechien: Ex-Außenminister Dienstbier gestorben ( vom 12. Januar 2011 im Internet Archive) bei der APA vom 8. Januar 2011.
- ↑ Genscher trauert um "großen Freund" Dienstbier 9. Januar 2011
- ↑ Sozialdemokraten im Senat erneut in Mehrheit: Dienstbier gewinnt Ergänzungswahl auf Radio Praha vom 26. März 2011
- ↑ List of Hanno R. Ellenbogen Award Winners ( vom 3. September 2014 im Internet Archive) auf Praguesociety.org
Personendaten | |
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NAME | Dienstbier, Jiří |
KURZBESCHREIBUNG | tschechischer Politiker und Journalist |
GEBURTSDATUM | 20. April 1937 |
GEBURTSORT | Kladno |
STERBEDATUM | 8. Januar 2011 |
STERBEORT | Prag |
- Außenminister (Tschechoslowakei)
- Unterzeichner der Charta 77
- Opfer der Diktatur in der Tschechoslowakei 1948–1989
- Senator (Tschechien)
- KSČ-Mitglied
- ČSNS-Mitglied
- Hörfunkjournalist
- UN-Sonderberichterstatter
- Journalist (Tschechien)
- Träger der tschechischen Verdienstmedaille
- Mitglied der Ehrenlegion
- Tschechoslowake
- Tscheche
- Geboren 1937
- Gestorben 2011
- Mann