Kümmernis

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Wilgefortis, Darstellung des 16. Jh. in St-Étienne, Beauvais
Wilgefortis (li.) auf einem geschlossenen Triptychon von Hans Memling, 1480
Kümmernislegende mit Spielmannsmotiv, Holzschnitt von Hans Burgkmair, ca. 1507
Heilige Kümmernis mit Spielmann in der Gnadenkapelle von Maria Eich

Wilgefortis (abgeleitet von lat. „virgo fortis“, starke Jungfrau?), auch: Ontkommer (niederländisch),[1] dann in der frühen Neuzeit auch ikonographisch verändert und als Kümmernis[2] bezeichnet, war eine fiktive Volksheilige, deren Legende im Spätmittelalter entstand. Sie wird als Gekreuzigte im langen Gewand, bärtig und gekrönt dargestellt. Sie wurde weder heiliggesprochen noch sonst wie von der Kirche offiziell als Heilige anerkannt.[3] Als Wilgefortis wurde sie 1583/86 ins Martyrologium Romanum aufgenommen, inzwischen aber wieder gelöscht. Ihr Gedenktag ist der 20. Juli.[4]

Darstellung von St. Wilgefortis in Wambierzyce, Niederschlesien

Wilgefortis und Ontkommer

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Die Verehrung der Heiligen reicht ins 14. Jahrhundert zurück.[5] Aus der Mitte des 15. Jahrhunderts stammen die in den damaligen Niederlanden zu lokalisierenden ältesten Textüberlieferungen von in der Volkssprache verfassten Abschriften.[6] Sie erzählen von der zum Christentum bekehrten Tochter eines heidnischen Königs, die sich gegen eine vom Vater erzwungene Heirat wehrte. Ihre inständigen Gebete, verunstaltet zu werden, um dieser Heirat mit einem Heiden zu entgehen, wurden erhört: Ihr wuchs ein Bart. Der erboste Vater ließ die Jungfrau daraufhin „nach Art ihres gekreuzigten Gottes“ durch Kreuzigung hinrichten. Die frühesten Darstellungen aus den ersten Jahrzehnten des 14. Jahrhunderts zeigen sie als junge Frau, bärtig und gekrönt, mit deutlich weiblichen Gesichtszügen und Körperformen, in langem Rock und mit Stricken ans Kreuz gebunden. Hauptsächlich unter dem Namen Ontkommer wurde der Kult ab 1400 – bezeugt durch diese rheinischen und niederländischen Bilderhandschriften[7] – an den Niederrhein, nach Köln, den Mittelrhein und bis an die Ostseeküste[8] vermittelt. In den protestantisch gewordenen Gegenden des Nordens verschwand die Verehrung der Wilgefortis/Ontkommer, blieb aber in katholischen Regionen Belgiens und Nordfrankreichs bis ins 20. Jahrhundert lebendig.

Vom Mittelrhein gelangte der Ontkommerkult nach Süddeutschland und in den Alpenraum. Hier nahm die Figur ab etwa 1470[9] den hochdeutschen Namen Kümmernis an. Zu ihrer Darstellung wurden nicht die spärlich vorhandenen Wilgefortis/Ontkommer-Vorbilder aus flämisch-rheinischer Provenienz benutzt, sondern die Schemata der in der Region bereits verbreiteten Volto-Santo-Wandbilder. Diese gehen zurück auf das Vorbild eines Kruzifixes in Lucca, das Christus am Kreuz zeigt, bärtig, gekrönt und gekleidet in das gegürtete Colobium, die spätantike Tunika, wie es der Darstellungstradition des Kruzifixes von frühchristlicher Zeit bis zur ottonischen Kunst entspricht. Da das Gnadenbild eines der populärsten mittelalterlichen Pilgerziele war, verbreitete sich der Luccheser Bildtyp nachhaltig in den nordeuropäischen Raum. Die Übernahme dieser Vorlagen in die Gestaltung der Kümmernis erfolgte jedoch erst nach dem Import des Kultes in die Landschaften des Südens, sie begründete ihn also nicht, sondern war ein rein ikonographischer Vorgang.[10]

Das bestätigt auch die Wilgefortis-Miniatur mit Spielmann „von 1415“ in der Handschrift der Universitätsbibliothek Gent (UB Gent nl. BHSL.HS.2750), die lange Zeit als frühester Beleg für eine Kümmernis-Darstellung angesehen wurde. Das Genter Manuskript zeigt neben einem Gebet an Sinte Ontkommer eine Miniatur mit Wilgefortis, d. h. ans Kreuz gebunden, das Kleid unten mit Schambindung, und in eine Landschaft mit Bäumen gestellt. Unten links kniet der Spielmann.[11] Die ursprüngliche Datierung auf 1415 erfolgte durch den Vergleich des Gebettextes mit dem fast gleichlautenden in einer niederländischen Handschrift, damals in Oxford, heute in der Universitätsbibliothek Utrecht mit dem Titel (hier deutsch) Das Stundenbuch der Kunera van Leefdael, die tatsächlich um 1415 eingeordnet werden kann. Die dort beigefügte Miniatur zeigt eine Wilgefortis in einer Felsenlandschaft mit Quadratmuster als Bildabschluss ohne Spielmann.[12] Der rein philologische Abgleich (ohne Rücksicht auf die widersprüchliche Bebilderung) durch Jan Gessler 1937[13] wurde von Schweizer-Vüllers unkritisch übernommen. Neuere Untersuchungen ab 1970 präzisierten die allgemeine Datierung der Genter Handschrift in das 15. Jh. nunmehr in die 2. Hälfte des 15. Jh., so zuletzt Oosterman 1997 „vermutlich um 1475“.[14] Danach ist der frühe Ansatz der Handschrift und damit der Miniatur hinfällig. Das neue philologische Ergebnis wird dazu durch die zahlreichen ikonographischen Elemente der Genter Miniatur ergänzt, die stilkritisch fast alle aus der 2. Hälfte des 15. Jh. stammen, so etwa die fez-ähnliche hohe Kappe des Spielmanns oder die nach hinten offene Landschaft (ohne Abschluss mit Muster als Hintergrund). Schon Gorissen 1968 hatte die Figur der Wilgefortis am Kreuz „nach dem Kostüm aus dem dritten Viertel des 15. Jh.“ datiert.[15] Die Genter Miniatur zeigt daher eine Kombination, in der erst nach der Entstehung der Kümmernisverehrung, also nach 1470, ikonographische Wilgefortis- und Kümmernis-Elemente zusammengebracht werden konnten.

Die Textüberlieferung wurde angereichert durch weitere Wunderberichte und Legenden, von denen vor allem die ebenfalls aus Lucca übernommene Spielmannslegende[16] von Bedeutung ist: Vor dem Bilde geigte einst ein in Not geratener Spielmann, den die Heilige mit ihrem herabgeworfenen kostbaren Schuh entlohnte. Der daraufhin des Diebstahls angeklagte Geiger bewies seine Unschuld, indem er erneut vor dem Bilde bittend von der Heiligen auch den zweiten Schuh zugeworfen bekam. Der Holzschnitt von Hans Burkmair (Abb.) aus dem Jahr 1507 enthält all diese Elemente und ist begleitet von dem ersten deutschsprachigen Text der Kümmernis-Legende.[17] Bei den undatierten und unbezeichneten Bildern dieses Typs aus den Jahrzehnten nach 1470 ist wegen der ikonographischen Übereinstimmungen nicht immer sicher, ob sie für die Verehrung des gekreuzigten Christus oder als Darstellung der Kümmernis zu gelten haben. Die jeweilige Funktion kann nicht aus der Ikonographie heraus abgeleitet werden. Hierfür müssen archivalische, sozial- und frömmigkeitsgeschichtliche Zeugnisse der jeweiligen Kirche und des Ortes herangezogen werden.[18] Auch Missverständnisse der Entstehungszeit und sogar bewusste Umdeutungen späterer Epochen sind nicht auszuschließen. In Süddeutschland und den Alpenländern hat sich die Verehrung der Heiligen bis über die Barockzeit hinaus fortgesetzt. Erst seit der Aufklärung verschwand hier der Kult weitgehend aus dem offiziell vorgegebenen kirchlichen Rahmen. Noch in jüngster Zeit hat jedoch die St. Wilgefortis in Neufahrn bei Freising ihr Patrozinium wieder in den Vordergrund gestellt. Auch im Allgäuer Weiler Obergammenried bei Bad Wörishofen existiert eine der Heiligen Kümmernis geweihte Kapelle.

Die Legende regte u. a. Justinus Kerner 1816 zu seiner Ballade Der Geiger zu Gmünd an, aber auch in Grimms Märchen fand sie als Die heilige Frau Kummernis Niederschlag. Eine fiktive Lebensbeschreibung der Heiligen Kümmernis ist Teil des Romans Taghaus, Nachthaus (Dom dzienny, dom nocny, 1998, Abschnitt Ego dormio et cor meum vigilat) der polnischen Nobelpreisträgerin Olga Tokarczuk. Der Verfasser der Lebensbeschreibung, dessen Geschichte im Lauf des Romans auch erzählt wird, ist ein junger Mönch namens Paschalis. Die Gestalt der Kümmernis spricht ihn besonders an, da er sich wünscht zur Frau zu werden, so wie Kümmernis durch göttliche Gnade männliche Züge erhielt.

Siehe auch:

Orte mit Darstellungen der Heiligen Kümmernis

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  • Sankt Hulpe, ein vergleichbarer, oft verwechselter Bildtyp.
  • Gustav Schnürer, Joseph M. Ritz: Sankt Kümmernis und Volto Santo. (Forschungen zur Volkskunde 13/15). Düsseldorf 1934 (grundlegend, materialreich, aber in wichtigen Kernaussagen nicht mehr aktuell).
  • Josef Lechner: Das Kloster St. Walburg und die Frühgeschichte der St. Kümmernisverehrung in Süddeutschland. In: Zum 900jährigen Jubiläum der Abtei St. Walburg in Eichstätt. Historische Beiträge von Karl Ried u. a. Paderborn 1935, S. 40–60.
  • Jan Gessler: De Vlaamsche Baardheilige Wilgefortis of Ontkommer. Antwerpen 1937.
  • Karl von Spieß: Die Heilige Kümmernis. In: Marksteine der Volkskunst, 2. Teil (Jahrbuch für historische Volkskunde VIII., IX. Band) Berlin 1942, S. 191–249.
  • Leopold Kretzenbacher: St. Kümmernis in Innerösterreich. Bilder, Legenden und Lieder. In: Zeitschrift des Historischen Vereines für Steiermark. XLIV. Jahrgang. Graz 1953, S. 128–159 (historischerverein-stmk.at).
  • Friedrich Gorissen: Das Kreuz von Lucca und die H. Wilgefortis/Ontkommer am Unteren Rhein. Ein Beitrag zur Hagiographie und Ikonographie. In: Numaga, Jg. XV (1968), Nijmegen 1968, S. 122–148.
  • Lexikon der Christlichen Ikonographie, Bd. 7, („Ikonographie der Heiligen“). Freiburg 1974, Sp. 353–355 (Artikel Wilgefortis, mit Werkliste, Quellen- und Literaturnachweisen).
  • Peter Spranger: Der Geiger von Gmünd: Justinus Kerner und die Geschichte einer Legende. 2. Auflage. Schwäbisch Gmünd 1991, ISBN 3-926043-08-3 UB Heidelberg; (Rezension).
  • Peter Spranger: Kümmernis. In: Enzyklopädie des Märchens. Band 8 (1996), Sp. 604–607.
  • Anton Dörrer: Kümmernis. In: Walter Kasper (Hrsg.): Lexikon für Theologie und Kirche. 3. Auflage. Band 6. Herder, Freiburg im Breisgau 1997, Sp. 525 f.
  • Regine Schweizer-Vüllers: Die Heilige am Kreuz: Studien zum weiblichen Gottesbild im späten Mittelalter und in der Barockzeit. Lang, Bern u. a. 1997, ISBN 3-906757-98-6 (Dazu Rezension von Lutz Röhrich in: Fabula 39, 1998, S. 158–160 und die kritischen Anmerkungen von Reinhard Bodner, siehe Lit. unten).
  • Jürgen Zänker: Cruzifixae. Frauen am Kreuz. Berlin 1998.
  • Konrad Kunze: Wilgefortis. In: Verfasserlexikon,. 2. Auflage, Bd. 10 (1999), Sp. 1081–1083.
  • Ilse E. Friesen: The Female Crucifix: Images of St. Wilgefortis since the Middle Ages. Waterloo, Ontario, Canada, Wilfrid Laurier University Press 2001.
  • Sigrid Glockzin-Bever, Martin Kraatz (Hrsg.): Am Kreuz – eine Frau: Anfänge – Abhängigkeiten – Aktualisierungen. Münster 2003, ISBN 3-8258-6589-4.
  • David A. King: The Cult of St. Wilgefortis in Flanders, Holland, England and France. In: Sigrid Glockzin-Bever, Martin Kraatz (Hrsg.): Am Kreuz – eine Frau: Anfänge – Abhängigkeiten – Aktualisierungen. Münster 2003, S. 55–97.
  • Reinhard Bodner: Kümmernisforschung. Zum historisierenden und aktualisierenden Interesse an einer „erfundenen“ Heiligen. In: Augsburger volkskundliche Nachrichten, 10. Jg., Heft 2, Nr. 20, Dezember 2004 (Universität Augsburg – Fach Volkskunde), S. 40–61, urn:nbn:de:bvb:384-opus4-21375.
  • Katharina Boll: Die Legende von der Frau am Kreuz. Theologische Überlegungen zur oberdeutschen Texttradition. In: kunst und saelde. Festschrift für Trude Ehlert. Königshausen & Neumann, Würzburg 2011, ISBN 978-3-8260-4605-6, S. 161–177 (Volltext).
  • Gabriele Raab: Die hl. Kümmernis und das arme Geigerlein und ihre Darstellungen im Wittelsbacher Land. In: Landkreis Aichach-Friedberg (Hrsg.): Altbayern in Schwaben 2016. Jahrbuch für Geschichte und Kultur. 2016, ISBN 978-3-9813801-4-9, ISSN 0178-2878, S. 69–78.
  • Arndt Müller: Die zwei Wandbilder mit der Darstellung des Kruzifixus in der Tunika in der Evangelischen Pfarrkirche zu Pilgramsreuth. In: Miscellanea curiensia. Band XII. 70. Bericht des Nordoberfränkischen Vereins für Natur-, Geschichts- und Landeskunde e. V. Hof. Hof 2019, S. 19–33.
Commons: Saint Wilgefortis – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien
Wikisource: Kümmernis – Quellen und Volltexte

Einzelnachweise

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  1. auch St. Uncumber (englisch), Ontcommer, Unkommer, Unkumer, also „die von Kummer befreit“, entkümmert.
  2. Auch „kumini“, „kumeria“, „kummernus“, vgl. Schweizer-Vüllers, S. 62.
  3. Schweizer-Vüllers, S. 78.
  4. heiligenlexikon.de
  5. Schweizer, S. 82.
  6. Referiert in den Acta Sanctorum, Julii tomus V., Antwerpen 1727, S. 69 f. – siehe auch Schweizer-Vüllers, S. 40 ff.
  7. Schweizer-Vüllers, S. 67–77.
  8. Andreas Röpcke: Zweimal St. Hulpe. Untersuchungen zu einer niederdeutschen Kultfigur des Spätmittelalters. In: Mecklenburgische Jahrbücher 128, 2013, S. 17–24.
  9. Schweizer-Vüllers, S. 72.
  10. So die ausführlich begründete Argumentation von Schweizer-Vüllers (1997), gegenüber der bis dahin durchweg übernommenen Darstellung bei Schnürer-Ritz von 1934, die eine gemeinsame Abkunft auch der früheren Ontcommer-Darstellungen von Darstellungen des bekleideten Christus, insbesondere des Volto-Santo-Typs postulierte.
  11. Universiteit Gent: Latijns en Nederlands getijdenboek voor Gent, Blatt 112 Vorderseite, aufgerufen am 2. August 2020.
  12. Universiteit Utrecht: Getijdenboek UBU Hs. 5 J 26, Blatt 191, aufgerufen am 2. August 2020.
  13. Jan Gessler: De Vlaamse Baardheilige Wilgefortis of Ontkommer. Antwerpen 1937, S. 71.
  14. Jan B. Oosterman: Pronkzucht en Devotie. In: Frank Willaert e. a.: Een zoet akkoord. Amsterdam 1997, S. 187–206 (200 u. 205).
  15. Friedrich Gorissen: Das Kreuz von Lucca und die H. Wilgefortis/Ontkommer am Unteren Rhein. Ein Beitrag zur Hagiographie und Ikonographie. In: Numaga, Jg. XV (1968), Nijmegen 1968, S. 122–148 (S. 137).
  16. Donat de Chapeaurouge: Die Geigerlegende des Volto Santo, in: Musik und Geschichte: Festschrift Leo Schrade zum 60. Geburtstag. Köln 1963, S. 126–133. – In den frühen niederländischen Darstellungen ist das Geiger-Motiv, wie es in der oberen Abbildung aus Gent zu sehen ist, noch eine Ausnahme, die allerdings mit der Kernthese von Schweizer-Vüllers, Volto Santo und Ontkommer hätten keine Berührung miteinander gehabt, nicht in Einklang zu bringen ist.
  17. Schweizer-Vüllers, S. 17–19.
  18. Die voraufgehenden Passagen arbeiten Hinweise aus der Diskussionsseite dieses Artikels vom Dezember 2011 ein.
  19. Küper, Wolfgang: Die Pfarrkirche Sankt Pankratius in Schwalbach am Taunus - Geschichte und Geschichten. In: Zwischen Main und Taunus. MTK-Jahrbuch 28 (2020), S. 107–116, hier S. 113f.
  20. Hermann Dittrich: Schlesische Kümmernisbilder, in: Jahresbericht des Neisser Kunst- und Altertumsvereins. 7. Jg. (1903), Neisse 1904, S. 35–38(35–36, Nr. 1), Abb. nach S. 36 (opole.pl).