Kabeltheorie

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Abb. 1: Schematische Darstellung der Widerstände und Kapazitäten an einem Axon.

Die klassische Kabeltheorie versucht, die elektrischen Ströme und die Potentialdifferenzen entlang passiver Nervenfasern (Neuriten), insbesondere entlang von Dendriten, mit Hilfe von mathematischen Modellen zu beschreiben. Dazu werden die Nervenfasern vereinfachend als eine Aneinanderreihung von gleichartig aufgebauten zylindrischen Segmenten betrachtet. Die Wand jedes dieser Segmente wird durch die Lipiddoppelschicht der Axonmembran gebildet, deren elektrische Eigenschaften sich als die Parallelschaltung eines elektrischen Widerstandes und eines Kondensators mit der Kapazität beschreiben lassen. Die Kapazität der Nervenfaser resultiert aus den elektrostatischen Kräften, die aufgrund ungleicher Ladungsverteilung im Extra- und Intrazellulärraum über die sehr dünne Lipiddoppelschicht der Plasmamembran wirksam sind (siehe Abb. 2). In Längsrichtung der Nervenfaser besteht durch den Widerstand, den das Zytosol der Bewegung von elektrisch geladenen Teilchen entgegensetzt, der Längswiderstand .

Abb. 2: Membrankapazität

Die Ursprünge der Kabeltheorie reichen bis in die 1850er Jahre zurück, als William Thomson (später bekannt als Lord Kelvin) damit begann, mathematische Modelle über den Signalabfall in telegrafischen Unterseekabeln zu entwickeln. Diese Modelle besaßen Ähnlichkeit mit den partiellen Differentialgleichungen, die von Fourier dazu benutzt wurden, die Wärmeleitung in Festkörpern zu beschreiben.

Um 1870 war Hermann der Erste, der versuchte, ein Modell des axonalen Elektrotonus' zu entwickeln, wobei er sich an den Analogien zur Wärmeleitung orientierte. Allerdings war es erst J. L. Hoorweg, der 1898 die Ähnlichkeit mit Kelvin's Unterseekabeln entdeckte.[1] In der Folge waren es Hermann und Cremer, die unabhängig voneinander zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Kabeltheorie für Nervenfasern entwickelten. Weitere mathematische Theorien über die Erregungsleitung in Nervenfasern, die auf der Kabeltheorie basierten, wurden von Cole und Hodgkin (1920–1930), Offner u. a. (1940) und Rushton[2][3] erarbeitet.

Experimentelle Belege für die Wichtigkeit der Kabeltheorie bei der Beschreibung von realen Nervenfasern wurden in den 30er Jahren durch Arbeiten von Cole, Curtis, Hodgkin, Bernard Katz, Rushton, Tasaki und anderen geliefert. Zwei wichtige Artikel dieser Zeit stammen von Davis und Lorente de No,[4] beziehungsweise Hodgkin und Rushton.[5]

Durch die Weiterentwicklung der Techniken zur Messung von elektrischer Aktivität an einzelnen Nervenfasern in den 50er Jahren erlangte die Kabeltheorie zunehmend Bedeutung bei der Analyse von mit Mikroelektroden intrazellulär abgeleiteten Strömen und Spannungen sowie bei der Untersuchung der elektrischen Eigenschaften neuronaler Dendriten. Wissenschaftler wie Coombs, Eccles, Fatt, Frank, Fuertos und Andere orientierten sich beim Design neuer Versuche zur Erlangung neuer Erkenntnisse der Funktionsweise von Neuronen nun an der Kabeltheorie.

Später erlaubte die Kabeltheorie mit ihren mathematischen Formeln immer ausgefeiltere Neuronenmodelle, die von Wissenschaftlern wie Rall, Redman, Rinzel, Idan Segev, Tuckwell,[6] Bell, Poznanski and Ianella untersucht wurden.

Verschiedene wichtige Ansätze zur Erweiterung der Kabeltheorie haben in letzter Zeit zum Einsatz von Ionenkanälen und endogener Strukturen geführt, um die Effekte einer unterschiedlichen Verteilung des synaptischen Inputs über die dendritische Oberfläche zu untersuchen.[7]

Herleitung der Kabelgleichung

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Die oben eingeführten Größen und werden in Abhängigkeit von der Faserlänge gemessen. Daher besitzt die Einheit [Ωm] und Farad pro Meter ([F/m]). Im Gegensatz dazu werden der spezifische Membranwiderstand und die spezifische Membrankapazität in Abhängigkeit von der Membranoberfläche gemessen und besitzen die Einheit [Ω m2] bzw. [F/m2]. Ist der Faserradius r, der vereinfachend als konstant angenommen wird, bekannt und der Faserumfang demnach , so können und wie folgt berechnet werden:

  (1)


  (2)


Die Gleichungen werden verständlich, wenn man sich klarmacht, dass sich die Membranoberfläche proportional zum Faserumfang verhält: Der Membranwiderstand nimmt mit zunehmendem Faserumfang ab, weil den geladenen Teilchen nun eine größere Fläche zum Durchtritt zur Verfügung steht. Entsprechend nimmt die Membrankapazität zu, weil durch den größeren Faserumfang die Oberfläche des durch die Plasmamembran gebildeten Kondensators zunimmt.

In ähnlicher Weise erlaubt der spezifische Widerstand (Einheit: [Ωm]) des Zytoplasmas die Berechnung des intrazellulären Längswiderstandes der Faser mit der Einheit [Ω/m]:

  (3)

Um die Herleitung der Kabelgleichung besser zu verstehen, wird die einleitend beschriebene Nervenfaser zunächst noch weiter vereinfacht: es wird im Folgenden angenommen, dass sie eine für geladene Teilchen absolut undurchlässige Plasmamembran besitzt, dass also unendlich groß ist und daher kein Ladungsverlust nach außen auftritt. Ebenso sei die Membrankapazität null (). Ein Strom, der unter diesen Annahmen, an Position x = 0 in die Nervenfaser injiziert wird, würde entlang dem Innern der Faser unverändert fortlaufen. Mit zunehmender Entfernung vom Ort der Injektion des Stroms kann mit Hilfe des Ohmschen Gesetzes die Änderung der Spannung berechnet werden:

  (4)

Lässt man Δ x gegen null gehen, so erhält man folgende partielle Differentialgleichung:

  (5)

oder

  (6)


Bezieht man nun die Tatsache, dass nicht unendlich groß ist, wieder mit in die Überlegungen ein, ist dies, als würde man Löcher in einen Gartenschlauch machen. Umso mehr Löcher der Schlauch enthält, desto mehr Wasser wird nach außen verloren gehen und desto weniger Wasser wird einen bestimmten Punkt des Schlauchs erreichen. In ähnlicher Weise wird in der Nervenfaser ein Teil des in Längsrichtung fließenden Stroms durch die Plasmamembran verlorengehen.

Wenn der Strom ist, der über die Membran pro Faserabschnitt verloren geht, dann ergibt sich die Summe aller Ströme, die entlang von n Abschnitten verlorengehen, zu . Die Stromänderung im Zytoplasma nach Zurücklegen der Strecke kann daher geschrieben werden als

  (7)

bzw.

 (8)


Unter Berücksichtigung, dass die Kapazität nicht null ist, kann mit Hilfe einer weiteren Formel ausgedrückt werden. Die Kapazität erzeugt im Zytoplasma einen Ladungsfluss in Richtung zur Membran, der üblicherweise als Verschiebungsstrom bezeichnet wird und im Folgenden als geschrieben wird. Dieser Strom wird nur fließen, solange die Membranspannung ihren Endwert nicht erreicht hat. kann dann ausgedrückt werden als:

  (9)

wobei die Potentialänderung in Abhängigkeit von der Zeit beschreibt. Der Strom , der über die Membran fließt, errechnet sich gemäß dem Ohmschen Gesetz wie folgt:

 (10)


Weil weiter gilt, dass , ergibt sich für :

  (11)

gibt dabei die Änderung des in longitudinaler Richtung fließenden Stroms pro Faserabschnitt an.


Durch Einsetzen von Gleichung (6) in (11) erhalten wir als erste Version der Kabelgleichung folgende partielle Differentialgleichung zweiter Ordnung:


 (12)


Durch Umstellung von Gleichung (12) (siehe unten) erhält man zwei wichtige Größen, nämlich die Membranlängskonstante und die Membranzeitkonstante , die in den nächsten Abschnitten näher beschrieben werden.

Membranlängskonstante

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Die Membranlängskonstante mit der Einheit ist ein Parameter, der angibt, wie weit sich ein Strom entlang dem Innern der Nervenfaser ausbreiten und damit die Spannung entlang dieser Strecke beeinflussen wird. Je größer , desto weiter breitet sich der Strom aus. Aus dem Membranwiderstand und dem Längswiderstand errechnet sich die Längskonstante folgendermaßen:

  (13)


Je größer der Membranwiderstand , desto mehr Strom verbleibt im Zytosol, um entlang der Nervenfaser zu wandern, was zu einer Vergrößerung der Membranlängskonstante führt. Gleiches gilt für eine Verringerung des Längswiderstandes , denn es ist nun einfacher für die Ladungsträger, sich entlang der Nervenfaser zu bewegen. Löst man Gleichung (12), kommt man zu folgender Gleichung, die für einen stabilen Zustand gültig ist, zum Beispiel wenn die Zeit t gegen unendlich geht:

  (14)

ist hierbei die Potentialdifferenz über der Plasmamembran an der Stelle (Ort der Strominjektion), "e" die eulersche Zahl und die Potentialdifferenz in der Entfernung "x" vom Ort der Strominjektion. Ist , dann gilt:

  (15)

und

  (16)

Wird die Potentialdifferenz in der Entfernung von gemessen, erhält man

 (17)

Daraus folgt, dass immer 36,8 Prozent von beträgt. Die Membranlängskonstante gibt folglich genau jene Strecke in Metern an, an der die Potentialdifferenz auf 36,8 Prozent von abgefallen ist.

Membranzeitkonstante

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Neurobiologen sind häufig daran interessiert zu wissen, wie schnell sich das Membranpotential einer Nervenfaser als Reaktion auf eine Änderung des Stroms, der in das Zytosol injiziert wird, ändert. Beschrieben wird diese Geschwindigkeit mit Hilfe der sogen. „Membranzeitkonstante“ , die die Zeit in Sekunden angibt, nach der die Amplitude der Potentialdifferenz auf des Ausgangswertes gesunken bzw. die Zeit in der das Membranpotential auf des Maximalwerts angestiegen ist. Die Membranzeitkonstante ist damit ein direktes Maß für die Geschwindigkeit der Potentialänderung, das sich wie folgt unter Verwendung des Membranwiderstands und der Membrankapazität errechnen lässt:[8]

  (18)

Kabelgleichung mit Membranlängs- und zeitkonstante

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Multipliziert man Gleichung (12) auf beiden Seiten mit ergibt sich:

  (19)

Ersetzt man nun durch und durch erhält man die vielleicht bekannteste Form der Kabelgleichung:

  (20)

Einleitend wird erwähnt, dass die Kabeltheorie die Verhältnisse an passiven Nervenfasern beschreibt. Passiv meint in diesem Fall die Unabhängigkeit des Membranwiderstands vom Membranpotential. Neuere Untersuchungen mit dendritischen Membranen haben allerdings gezeigt, dass viele von ihnen mit spannungsabhängigen Ionenkanälen ausgestattet sind und der Membranwiderstand daher sehr wohl vom Membranpotential abhängt.[9] Folglich ist eine Anpassung der klassischen Kabeltheorie erforderlich, um dieser Tatsache Rechnung zu tragen.

Einzelnachweise

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  1. J. L. Hoorweg; Über die elektrischen Eigenschaften der Nerven. Arch. J. d. ges. Physiologie Band 71, S. 141 u. 142. 1898; zitiert in: Pflüger's Archiv für die gesamte Physiologie des Menschen und der Tiere. Band 133, Bonn 1910.
  2. J. J. Lussier, W. A. H. Rushton: The relation between the space constant and conduction velocity in nerve fibers of the A group from the frog's sciatic. In: The Journal of Physiology. Band 114, Juli 1951, S. 399–409, PMID 14861824.
  3. W. A. H. Rushton: A theory of the effects of fibre size in medullated nerve. In: The Journal of Physiology. Band 115, September 1951, S. 101–122, PMID 14889433.
  4. DAVIS L Jr, LORENTE de NO R.: Contribution to the mathematical theory of the electrotonus. In: Rockefeller Institute for Medical Research. Band 131, 1947, S. 442–496, PMID 20261883.
  5. A. L. Hodgkin, W. A. H. Rushton: The electrical constants of a crustacean nerve fibre. In: Proceedings of the Royal Society of Medicine. Band 133, Nr. 873, Dezember 1946, S. 444–479, PMID 20281590.
  6. Henry C. Tuckwell: Introduction to Theoretical Neurobiology. Cambridge University Press, 1988, ISBN 0-521-35096-4.
  7. Roman R. Poznanski: Thermal noise due to surface-charge effects within the Debye layer of endogenous structures in dendrites. In: Physical Review. Band 81, Nr. 2, Februar 2010, PMID 20365590.
  8. Ralf Brandes, Florian Lang, Robert F. Schmidt: Physiologie des Menschen : mit Pathophysiologie. 32. Auflage. Berlin / Heidelberg 2019, ISBN 978-3-662-56468-4, S. 73, doi:10.1007/978-3-662-56468-4.
  9. Greg J. Stuart, Bert Sakmann: Active propagation of somatic action potentials into neocortical pyramidal cell dendrites. In: Nature. Band 367, Januar 1994, S. 69–72, PMID 8107777.