Muss-, Soll- und Kann-Vorschrift

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Bei Muss-, Soll- und Kann-Vorschriften (auch: -Bestimmungen) handelt es sich um Rechtsnormen, die unterschiedliche Grade an Befolgungsanspruch bezeichnen, die Normgeber mit ihren Normen verbinden.

Der Gesetzgeber oder die Exekutive formuliert Rechtsnormen (unter anderem Erlasse, Gesetze, öffentliche Satzungen, Richtlinien, Verfassungen, Verfügungen, Verordnungen) sprachlich so, dass sie die Normadressaten zu einem bestimmten Handeln, Unterlassen oder Dulden zwingen (Mussvorschrift), oder ihnen die Regel vorgeben, von der sie abweichen dürfen (Sollvorschrift) oder eine völlig unverbindliche Norm (Kannvorschrift) erlassen. Die Ausdrücke „muss“, „soll“ und „kann“ sind Fachausdrücke, sodass es auf deren spezifische juristische Bedeutung ankommt und nicht auf deren umgangssprachliche Bedeutung.[1] Bei der Gesetzgebung ist unter anderem das Kriterium der Effektivität zu beachten, ob gesetzliche Bestimmungen überhaupt befolgt und angewendet werden. Je nach Normtyp oder Norminhalt geht es darum, den Befolgungsgrad einer Vorschrift (auch eines Verbots oder eines Gebots) zu eruieren.[2] Ist das Verhalten aller Normadressaten auf die Rechtsnorm zurückzuführen, besteht ein Befolgungsgrad von 100 %, was im Idealfall bei Mussvorschriften zu erwarten ist.

Muss-Vorschrift

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Eine Muss-Vorschrift ist eine Vorschrift, die in jedem Fall eingehalten werden muss,[3] die also kein Ermessen einräumt.[4] In diesem Fall liegt stets eine gebundene Entscheidung vor.

Beispiel
§ 4 Abs. 1 GastG: „Die Erlaubnis ist zu versagen, wenn […]“.

Soll-Vorschrift

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Allgemeines

Eine Soll-Vorschrift ist eine mehr oder minder eindringliche Empfehlung eines Normgebers.[5] In der Regel richtet sie sich an eine Behörde, sie kann aber auch an Private gerichtet sein. Sie schreibt ein Tun oder Unterlassen zwar für den Regelfall, aber nicht zwingend vor, räumt also nur ein „begrenztes Ermessen“ ein. Für Behörden läuft eine Soll-Vorschrift regelmäßig auf eine Muss-Vorschrift hinaus.[6] Für ein Rechtsbegehren kann eine „Soll-Vorschrift“ ausdrücken, dass die Rechtsfolge eines Verstoßes weniger schwerwiegend ist.[7][8]

Abgrenzung

Zur Abgrenzung zu den Muss-Vorschriften und den Kann-Bestimmungen eignet sich der Merksatz: „Das ‚soll‘ ist näher am ‚muss‘ als am ‚kann‘.“ Sie muss außerdem vom intendierten Ermessen abgegrenzt werden.

Beispiele
§ 36 Abs. 1 Satz 2 SGB XII: „Sie sollen übernommen werden, wenn dies gerechtfertigt und notwendig ist und sonst Wohnungslosigkeit einzutreten droht.“
§ 1 Autobahn-Richtgeschwindigkeits-Verordnung: „Den Führern von Personenkraftwagen […] wird empfohlen, […] nicht schneller als 130 km/h zu fahren.“

Kann-Bestimmung

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Allgemeines

Eine Kann-Bestimmung ist keine Vorschrift im strengen Sinne, sondern eine Bestimmung, „nach der im Einzelfall verfahren werden kann, aber nicht verfahren werden muss“,[9] also eher eine Art Ermächtigung als eine Vorschrift. Der Ausdruck „Kann-Vorschrift“ sollte daher vermieden werden. Eine Kann-Formulierung bedeutet nach manchmal vertretener Ansicht, dass freies Ermessen bei der Rechtsanwendung gewährt wird,[10] wobei aber die gewöhnlichen Ermessensgrenzen und Ermessenssonderfälle gelten.

Abgrenzung

Jedenfalls gewährt eine Kann-Bestimmung aber einen größeren Ermessensspielraum als eine Soll-Vorschrift.[11]

Beispiel
§ 16 Abs. 3 Satz 1 Handwerksordnung: „Wird der selbständige Betrieb eines zulassungspflichtigen Handwerks als stehendes Gewerbe entgegen den Vorschriften dieses Gesetzes ausgeübt, so kann die nach Landesrecht zuständige Behörde die Fortsetzung des Betriebs untersagen.“

Gesetzessprache

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Ob es sich um eine Muss-, Soll- oder Kann-Vorschrift handelt, kann der Leser an der Gesetzessprache erkennen. Sprachlich ist bei Mussvorschriften von „muss“, „Pflicht“, „Rechtspflicht“, „hat zu erfüllen“, „verpflichtet“ oder „darf nicht/kann nicht“ (negative Mussvorschrift) die Rede. Mussvorschriften sind eine zwingende Anordnung, von der nicht abgewichen werden darf.[12] Eine Verletzung von Mussvorschriften führt im Zivilrecht zur Nichtigkeit des erstrebten Rechtserfolgs,[13] im Strafrecht zur Strafbarkeit.

Sollvorschriften enthalten die Formulierung „soll“. Jedoch nicht immer darf bei diesen Formulierungen davon ausgegangen werden, dass es sich um Sollvorschriften handelt. So sieht beispielsweise § 6 GBO vor, dass ein Grundstück nur dann einem anderen Grundstück als Bestandteil zugeschrieben werden soll, wenn hiervon Verwirrung nicht zu besorgen ist. Bei Verwaltungsvorschriften wie dieser wird häufig das Wort „soll“ benutzt, obwohl das Grundbuchamt in diesem Falle zur Zuschreibung verpflichtet ist. Auch in der ZPO ist anerkannt, dass Sollvorschriften (wie etwa § 141 Abs. 1 ZPO) zwingend zu befolgen sind. Eine Sollvorschrift verlangt keinen geringeren Gehorsam als eine Mussvorschrift; aber die Rechtsfolge eines Verstoßes wiegt weniger schwer. Der Verstoß gegen eine Sollvorschrift im BGB bringt geringere Nachteile oder Erfordernisse mit sich (siehe etwa § 2247 BGB zum eigenhändigen Testament).[14]

Kannvorschriften enthalten die Formulierungen „kann“, „darf“ oder „braucht nicht“ (negative Kannvorschrift). „Dürfen“ enthält eine bloße Erlaubnis, die andernfalls nicht besteht. Die vom Gesetzgeber genutzten typischen Formulierungen erlauben nicht immer eine eindeutige Bestimmung des Ermessensspielraums in einer Kannvorschrift. So wird beispielsweise das „kann“ in § 16 Abs. 3 Satz 1 HwO dahingehend verstanden, dass bei Vorliegen der tatbestandlichen Voraussetzungen im Regelfall eine Ermessensreduzierung auf Null vorliegt, was mit dem Zweck der Ermächtigung begründet wird.[15] Soweit keine besonderen Umstände vorliegen, ist die Betriebsuntersagung dann die einzig sachgerechte Ermessensentscheidung.[16]

Praktische Konsequenzen

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Welche der drei Formen vorliegt, kann für die Praxis erhebliche Konsequenzen haben. Bei einer Muss-Vorschrift hat der Bürger beispielsweise einen Anspruch auf eine behördliche Erlaubnis, wenn die gesetzlichen Tatbestandsvoraussetzungen erfüllt sind. Bei einer Kann-Vorschrift kann die Behörde ihr Ermessen dahingehend ausüben, dass sie die Erlaubnis versagt.

Praktisches Beispiel

Nach § 17 Kündigungsschutzgesetz (KSchG) muss der Arbeitgeber vor einer Massenentlassung eine Anzeige gegenüber der Agentur für Arbeit erstatten. § 17 Abs. 2 und Abs. 3 KSchG nennt die Angaben, die in der Anzeige zwingend enthalten sein müssen. In § 17 Abs. 3 S. 5 KSchG heißt es: „In der Anzeige sollen ferner [im Einzelnen genannte] Angaben gemacht werden.“ Das Hessische Landesarbeitsgericht (17. 117 ff.)[17] interpretiert diese Soll-Vorschrift als Muss-Vorschrift, mit erheblichen Konsequenzen: Ohne diese Angaben sind danach die Kündigungen unwirksam.

Einzelnachweise

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  1. Rolf Wank: Juristische Methodenlehre, 2020 § 7 Rn. 117 ff.
  2. Thomas Widmer/Wolfgang Beywl/Carlo Fabian (Hrsg.), Evaluation: Ein systematisches Handbuch, 2009, S. 54
  3. Stichwort „Mussvorschrift, Muss-Vorschrift“. In: Duden. Abgerufen am 15. Juli 2018.
  4. Stichwort „Muss-Vorschrift“. In: Rechtslexikon. Archiviert vom Original am 17. Oktober 2012; abgerufen am 15. Juli 2018.
  5. „Seit 2002 gilt in der Schweiz eine sogenannte Soll-Vorschrift, also eine Empfehlung des Gesetzgebers.“ zueriost.ch. Abgerufen am 10. Dezember 2010. zitiert nach Wortschatz-Portal der Universität Leipzig, „Soll-Vorschrift“. Abgerufen am 15. Juli 2018.
  6. Hartmund Maurer/Christian Waldhoff: Allgemeines Verwaltungsrecht, 20. Auflage München 2020, § 7 Rn. 11 f.
  7. Stichwort „Soll-Vorschrift“. In: Rechtslexikon. Archiviert vom Original am 18. Oktober 2012; abgerufen am 15. Juli 2018.
  8. Juristische Fachsprache. In: Handbuch der Rechtsförmlichkeit, 3. Auflage. Abgerufen am 16. Juni 2020.
  9. Stichwort „Kannbestimmung, Kann-Bestimmung“. In: Duden. Abgerufen am 15. Juli 2018.
  10. Loop: AW: muß, soll, kann – juristische Abstufungen. In: JuraForum. Sebastian Einbock (Verantwortlicher Redakteur), abgerufen am 15. Juli 2018.
  11. Rechtslexikon, Stichwort „Kann-Vorschrift“. Archiviert vom Original am 18. Oktober 2012; abgerufen am 15. Juli 2018.
  12. Bernhard Wieczorek/Rolf A. Schütze (Hrsg.), Kommentar ZPO: Einleitung §§ 1-23, 2015, Rdnr. 138
  13. Helmut Köhler/Heinrich Lange, BGB: Allgemeiner Teil, 45. Auflage München 2021, S. 57
  14. Hans Schneider, Gesetzgebung: Ein Lehr- und Handbuch, 2002, S. 352
  15. BVerwG, Urteil vom 17. Juli 1986, Az.: 7 B 234/85 = NJW 1987, 143, 144
  16. Hessischer VGH, Urteil vom 20. Februar 1990, Az.: 11 UE 2161/85 = NVwZ 1991, 280
  17. LAG Hessen, Urteil vom 25. Juni 2021, Az: 14 Sa 1225/20 = NZA 2022, 55; dazu Hotze, BB 2020, 60; Meiner/Degen, RdA 2022, 41; Zeppenfeld, NZA 2022, 26.