Kernkraftwerk Tschernobyl

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Kernkraftwerk Tschernobyl
Das Kernkraftwerk Tschernobyl vom Prypjat aus gesehen (2009)
Das Kernkraftwerk Tschernobyl vom Prypjat aus gesehen (2009)
Lage
Kernkraftwerk Tschernobyl (Ukraine)
Kernkraftwerk Tschernobyl (Ukraine)
Koordinaten 51° 23′ 23″ N, 30° 5′ 59″ OKoordinaten: 51° 23′ 23″ N, 30° 5′ 59″ O
Land UkraineUkraine
Daten
Eigentümer NAEK Energoatom (НАЕК Енергоатом)
Betreiber Ministerium für Brennstoff und Energie (Mintopenergo) der Ukraine
Projektbeginn 1970
Kommerzieller Betrieb 27. Mai 1978
Stilllegung 15. Dezember 2000

Stillgelegte Reaktoren (Brutto)

4  (3800 MW)

Bau eingestellt (Brutto)

2  (2000 MW)
Eingespeiste Energie seit Inbetriebnahme 271.262,82 GWh
Website chnpp.gov.ua
Stand 14. Juni 2021
Die Datenquelle der jeweiligen Einträge findet sich in der Dokumentation.
f1

Das Kernkraftwerk Tschernobyl[1] (ukrainisch Чорно́бильська АЕС Tschornobylska AES, russisch Чернобыльская АЭС им. В. И. Ленина Tschernobylskaja AES im. W. I. Lenina) ist ein ehemals sowjetisches Kernkraftwerk im Norden der heutigen Ukraine. Es wurde von 1970 bis 1983 erbaut. 1978 ging der erste Reaktorblock in Betrieb, im Jahr 2000 wurde der letzte verbliebene Block außer Betrieb genommen.

Im Kraftwerk ereignete sich am 26. April 1986 die Nuklearkatastrophe von Tschernobyl, bei der der Reaktor des Blocks 4 explodierte. Sie gilt als bisher weltweit schwerster Unfall in einem Kernkraftwerk.

Es werden fortgesetzt Rückbau- und Sicherungsmaßnahmen am Kraftwerk durchgeführt.

Das Kraftwerk liegt im äußersten Norden der Ukraine nahe der ukrainisch-belarussischen Grenze am Ufer des Flusses Prypjat. Es gehört zum Rajon Wyschhorod im Oblast Kiew. Etwa 4 km entfernt liegt die 1986 evakuierte Stadt Prypjat und 18 km entfernt das ebenfalls evakuierte Tschornobyl. Kiew ist etwa 140 km entfernt. Das Kraftwerk ist Teil der Sperrzone von Tschernobyl.

Planung und Bau

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Das Kraftwerk wurde ursprünglich mit einer Kapazität von 2000 MW geplant. Zur Auswahl standen drei verschiedene Reaktortypen; zwei RK-1000, vier WWER-440 oder zwei RBMK-1000. Nach genauer Planung des Projektes fiel aufgrund der Wirtschaftlichkeit die Wahl auf zwei Reaktoren vom Typ RBMK (Beschluss des Ministerrats der Sowjetunion vom 19. Juni 1969/14. Dezember 1970). Damit wurde Tschernobyl die dritte Anlage mit Reaktoren vom Typ RBMK-1000.[2] Während der Bauzeit wurden weitere Blöcke geplant und der Ausbau auf bis zu sechs Blöcke genehmigt.

Das Kraftwerk in der heutigen Form wurde etwa von 1970 bis 1983 erbaut. Eigens für das Kraftwerk wurde Ende der 1960er/Anfang der 1970er Jahre am Prypjat ein Kühlsee angelegt. Mit dem Bau der Blöcke 5 und 6 wurde der Kühlsee erweitert. Das Kraftwerk galt in der Sowjetunion in den 1980er Jahren als Musteranlage.[3]

3-D-Grafik der Reaktorblöcke und der Turbinenhalle

Bei den für Tschernobyl eingesetzten und geplanten Reaktoren handelte es sich um solche des Typs RBMK-1000 der ersten (Blöcke 1 und 2) und zweiten Generation (Blöcke 3 und 4). Diese graphitmoderierten, wassergekühlten Siedewasser-Druckröhrenreaktoren sowjetischer Bauart weisen schwerwiegende Sicherheitsmängel auf. Jedem Reaktor waren zwei Generatoren zugeteilt, die in einer für alle vier Blöcke gemeinsamen Turbinenhalle mit einer Länge von fast 800 m untergebracht waren. Die Reaktoren verfügten von 1983 bis 1986 über eine thermische Maximalleistung von 12,8 Gigawatt, die eine elektrische Bruttoleistung von insgesamt 3,8 Gigawatt erzeugten. Die im Kernkraftwerk aktiven Reaktoren waren geeignet, Waffenplutonium zu erzeugen, das auch im laufenden Betrieb entnommen werden konnte.[4]

Innenaufnahme von Block 1

Block 1 wurde 1977 fertiggestellt. Am 1. September 1982 wurde ein zentrales Brennelement durch Überhitzung infolge eines Bedienungsfehlers zerstört. Erhebliche Mengen an Radioaktivität traten aus, die radioaktiven Gase gelangten bis zur Stadt Prypjat. Bei der Reparatur wurden mehrere Arbeiter einer deutlich überhöhten Strahlendosis ausgesetzt,[5] der Unfall wird mit Kategorie INES 5 gelistet.[6] Block 1 ging schließlich im November 1996 vom Netz, nachdem die Betriebsdauer mit Beschluss vom 20. Oktober 1993 ein letztes Mal um drei Jahre verlängert worden war.[3]

Block 2 wurde 1978 fertiggestellt. Während längerer Zeit bestand ein Leck im Abklingbecken für abgebrannte Brennelemente. Der Austritt geringer Mengen an Radioaktivität wird vermutet. Am 11. Oktober 1991 kam es nach einer Wasserstoffexplosion zu einem Großbrand in der Turbinenhalle, das Dach stürzte teilweise ein und einer der beiden Generatoren wurde schwer beschädigt. Da die manuelle Reaktorabschaltung gelang, wurde der Reaktor selbst nur minimal beschädigt und es trat kaum Radioaktivität aus.[5] Nach Kostenabschätzungen für eine mögliche Reparatur wurde vorerst damit abgewartet. In dieser Zeit des Zerfalls der Sowjetunion beschloss die ukrainische Regierung, Block 2 zunächst auf Warteposition zu halten. Am 20. Oktober 1993 entzog sie die Betriebserlaubnis für Block 2 und legte den Reaktor endgültig still.[3]

Block 3 wurde 1981 fertiggestellt und lief am längsten von allen Blöcken. Er bildet mit dem Block 4 einen Doppelblock. Im Oktober 1993 wurde die Betriebsdauer um weitere sieben Jahre verlängert.[3] Am 29. März 2000 wurde die Abschaltung von Block 3 und damit die Stilllegung des Kernkraftwerks beschlossen, welche am 15. Dezember 2000 – auch auf Druck und nach Ausgleichszahlungen der Europäischen Union – durchgeführt wurde.[7]

Block 4 wurde 1983 fertiggestellt und bildet mit Block 3 und dem dazwischenliegenden Hilfsanlagengebäude einen Doppelblock. Am 26. April 1986 kam es zu einer Kernschmelze und Explosion des Reaktorkerns, wodurch der Block vollständig zerstört wurde. Große Teile des radioaktiven Inventars gelangten in die Umwelt. Das Graphit, mit dem der Reaktor moderiert wurde, geriet in Brand und konnte erst Tage später gelöscht werden. Der Landstrich um den Reaktor musste geräumt werden und ist bis heute unbewohnbar. Die mit dem Rauch in große Höhe gelangte Radioaktivität wurde nach Westen getrieben und bewirkte einen radioaktiven Niederschlag (Fallout) über Nord- und Mitteleuropa. Diese Havarie machte den Ortsnamen „Tschernobyl“ zum Synonym für die Gefahren der Kernenergie und die unabsehbaren Folgen eines Super-GAUs. Über Block 4 wurde 1986 notdürftig eine Schutzhülle („Sarkophag“) errichtet. Ab 2010 wurde diese erneuert.

Blöcke 5 und 6

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Die Bauruinen von Block 5 und 6

Die Blöcke 5 und 6 waren ab 1981 etwas abseits der Blöcke 1 bis 4 im Bau. Block 5 hätte im Herbst 1986 den Probebetrieb aufnehmen sollen, Block 6 war 1986 zur Hälfte fertiggestellt. Auch nach dem Unfall in Block 4 wurde zunächst an beiden Blöcken weitergebaut. Durch die hohe radioaktive Belastung des Gebiets mussten die Bauarbeiten aber im Januar 1988 eingestellt werden. Beide Blöcke wurden mit einem Schutzanstrich vor Witterung und Alterung geschützt. Die UdSSR plante, die Blöcke nach Absinken der Radioaktivität fertigzustellen. Die 1991 unabhängig gewordene Ukraine hatte jedoch nicht den politischen Willen und die finanziellen Mittel zur Fertigstellung.

Daten der Reaktorblöcke

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Reaktorblock[8] Reaktortyp Elektr. Netto-
leistung
Elektr. Brutto-
leistung
Thermische
Leistung
Baubeginn Netzsyn-
chronisation
Kommer-
zieller Betrieb
Abschal-
tung
Tschernobyl-1 RBMK-1000 740 MW 0800 MW 3200 MW 01.03.1970 26.09.1977 27.05.1978 30.11.1996
Tschernobyl-2 925 MW 1000 MW 01.02.1973 21.12.1978 28.05.1979 11.10.1991 (beschädigt)
Tschernobyl-3 925 MW 1000 MW 01.03.1976 03.12.1981 08.06.1982 15.12.2000
Tschernobyl-4 925 MW 1000 MW 01.04.1979 22.12.1983 26.03.1984 26.04.1986 (zerstört)
Tschernobyl-5 950 MW 1000 MW 01.12.1981 Bau 1988 eingestellt
Tschernobyl-6 950 MW 1000 MW 01.12.1983 Bau 1988 eingestellt

Die Arbeit im Kernkraftwerk

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Bis zur Reaktorkatastrophe 1986 kamen die meisten Arbeiter aus der eigens für das Kraftwerk erbauten Stadt Prypjat. Nach deren Evakuierung wohnen die meisten Arbeiter in der neu errichteten Ersatzstadt Slawutytsch. Die Arbeit war – trotz sehr hoher Strahlenbelastung – vergleichsweise attraktiv: einerseits durch eine äußerst gute Bezahlung, andererseits durch den Zwei-Wochen-Zyklus: zwei Wochen (normale) Arbeitszeit, zwei Wochen frei. Bis zur Abschaltung des letzten Blocks im Jahr 2000 arbeiteten bis zu 9000 Menschen im Kraftwerk, danach weniger.

Bedeutung für die Energieversorgung

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Das Kraftwerk hatte für die Energieversorgung der UdSSR und vor allem für die ab 1991 unabhängige Ukraine eine sehr hohe energiepolitische Bedeutung. Es lieferte ungefähr ein Sechstel des auf ukrainischem Gebiet erzeugten Atomstroms, was etwa 4–10 % der Gesamtstrommenge entsprach.[9] Nur dieser Hintergrund macht es erklärbar, weshalb das Kraftwerk noch 14 Jahre lang nach dem Unfall weiterbetrieben wurde und weiterhin viele Menschen in diesem Gebiet arbeiteten.

Die Ukraine litt an dem fehlenden Strom aus dem KKW Tschernobyl. Für den Ersatz der fehlenden Kapazität gab es drei verschiedene Konzepte: die Vollendung von drei sichereren Reaktoren in der Ukraine, deren Bau bereits fortgeschritten war, der Bau eines Gaskraftwerks mit 3.000 MW Leistung nahe der Stadt Slawutytsch, das einem Teil der Angestellten von Tschernobyl Arbeit geben könnte, oder die Modernisierung von einigen Kohlekraftwerken. Man stellte später die jeweils zu 80 % fertiggestellten Kernkraftwerksblöcke Chmelnyzkyj 2 und Riwne 4 vom Typ WWER-1000 fertig.[10]

Der radioaktive Niederschlag (Verstrahlung durch Caesium-137) rund um das Kraftwerk im Jahr 1996.

Nach der Stilllegung

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2006 waren noch ungefähr 3000 Personen mit Überwachungs- und Wartungsarbeiten beschäftigt. Am 23. April 2008 wurde der letzte Kernbrennstoff entfernt. Am gleichen Tag nahm in der Zone am Kraftwerk die Atommüll-Verarbeitungsanlage Vektor den Betrieb auf. Dort soll begonnen werden, die kontaminierten Teile in der Zone zu verarbeiten, um diese für eine Endlagerung vorzubereiten.

Am 12. Februar 2013 stürzte das Dach der Halle 70 m vom Sarkophag entfernt auf einer Fläche von 600 m² unter Schneelast partiell ein.[11] Der 75 m hohe und sehr markante Abluftkamin der Blöcke 3 und 4 wurde von Oktober bis Dezember 2013 mithilfe eines Großkranes demontiert, auch um den neuen Sarkophag in die vorgegebene Position schieben zu können.[12]

Im Jahr 2022 befanden sich noch etwa 21.000 abgebrannte Brennelemente auf dem Gebiet der Blöcke 1–3 und verbliebene Kernbrennstoffe in der Ruine von Block 4.[13][14]

Neubau des Sarkophags

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Nach der Vertragsunterzeichnung im August 2007 wurde über dem alten Sarkophag von 2010 bis 2016 die neue Schutzhülle, New Safe Confinement (NSC) durch das Konsortium Novarka errichtet.[15] Zum 26. Jahrestag der Reaktorkatastrophe wurde am 26. April 2012 der Grundstein für das NSC von Reaktor 4 gelegt. Nach den ursprünglichen Plänen sollte die neue Schutzhülle rund 935 Millionen Euro kosten und bis 15. Oktober 2015 fertiggestellt sein.[16] Mit einer neuen Finanzierung konnte im November 2014 ein drohender Baustopp abgewendet werden.[17][18] Am 14. November 2016 wurde mit dem Verschieben der neuen Schutzhülle (auch als „Arka“ bezeichnet[19]) in Richtung des Sarkophags begonnen. Ihre endgültige Position hatte die Schutzhülle am 29. November 2016 erreicht und sollte im November 2017 in Betrieb genommen werden. Aufgrund der hohen Strahlenbelastung der alten Bausubstanz verzögerte sich jedoch die Inbetriebnahme.[20][21] Am 25. April 2019 vermeldete die Europäische Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (EBWE) den Abschluss eines 72-Stunden-Testbetriebs der Schutzhülle.[22] Die offizielle Inbetriebnahme im Beisein des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj erfolgte am 10. Juli 2019.[23]

Die ca. 270 m lange, 100 m hohe und 30.000 t schwere Schutzhülle gilt zur Zeit der Errichtung als das größte mobile Bauwerk der Welt. Sie soll das Ziel erfüllen, 100 Jahre lang den Austritt radioaktiver Stoffe zu verhindern.[24][25]

Panorama des Kraftwerksgeländes vom Juni 2013. Die bogenförmige Struktur links ist das hier noch in Bau befindliche New Safe Confinement.

Strukturen für den Rückbau des Kernkraftwerkes

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Neben dem NSC sind auf dem Gelände des Kernkraftwerkes noch weitere Gebäude errichtet, die spezielle Aufgaben bei der Entsorgung und Demontage des Kraftwerkes übernehmen sollen.

Die Einrichtung „Interim Spent Fuel Storage Facility“ sollte 2018 ihren Betrieb aufnehmen.[26] In ihr sollen die über 20.000 Brennelemente aus den Reaktorblöcken 1, 2 und 3 verarbeitet, getrocknet und zerkleinert werden, die seit Oktober 2013 ein altes Nasslager völlig ausfüllen.[27] Die verarbeiteten Brennelemente sollen dann in Metallfässern in Betonmodulen auf dem Gelände für mindestens 100 Jahre gelagert werden. Anschließend soll diese Einrichtung wieder abgebaut werden.[28]

Bereits fertiggestellt ist die Behandlungsanlage „Liquid Radioactive Waste Treatment Plant“. In ihr soll flüssiger radioaktiver Abfall, der bislang auf dem Gelände in Tanks aufbewahrt wird, in feste Form umgewandelt werden, damit dieser auch in Containern über lange Zeit gelagert werden kann.[28]

Ukraine-Krieg seit 2022

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Das Gelände des Kernkraftwerkes Tschernobyl wurde am 24. Februar 2022, dem Tag des russischen Einmarsches in die Ukraine, von aus Belarus kommenden russischen Truppen eingenommen. Die Einheiten hatten ein Jahr zuvor militärische Übungen im Kernkraftwerk Kursk abgehalten, das beinahe identisch zur Anlage in Tschernobyl war. Die leichtbewaffneten ukrainischen Sicherheitskräfte hatten aus Sorge um die Sicherheit des Kernkraftwerks kapituliert. Die Truppen wurden in der russischen Presse als Helden gefeiert und der kommandierende General Sergei Burakow und Oberst Andrei Frolenkow wurden als Held der Russischen Föderation ausgezeichnet. Beide wurden von der Europäischen Union sanktioniert. Die militärische Besetzung eines Kernkraftwerks war ein Präzedenzfall und eine Verletzung des Genfer Abkommens von 1949 über den Schutz von Zivilpersonen in Kriegszeiten.[29] Rafael Grossi, Generaldirektor der Internationalen Atomenergie-Organisation (IAEO), erklärte, dass „jeder bewaffnete Angriff auf und jede Bedrohung von Kernanlagen, die friedlichen Zwecken dienen, einen Verstoß gegen die Grundsätze der Charta der Vereinten Nationen, des Völkerrechts und der Satzung der Organisation darstellt“.[30]

Am 8. März meldete der Betreiber Ukrenergo, dass infolge der Kämpfe eine Stromleitung beschädigt worden sei, sodass das Kraftwerk zur Aufrechterhaltung der Kühlung von abgebrannten Brennelementen auf Notstromgeneratoren angewiesen sei.[31] Diese könnten die Kühlung jedoch nur 48 Stunden gewährleisten, anschließend drohe der Austritt von Strahlung. Die Datenfernleitung sei ebenfalls ausgefallen.[32] Daraufhin forderte der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba Russland zu einer Waffenruhe auf, damit der Stromanschluss repariert werden könne.

Bereits zuvor hatte die IAEO das Abschneiden des Kraftwerkes von der Außenwelt gerügt und Russland dafür kritisiert, dass es den ca. 200 Mitarbeitern seit der Eroberung keinen Schichtwechsel mehr ermöglicht habe, sodass diese seit etwa zwei Wochen im Dauereinsatz seien.[33] Die IAEO äußerte, dass die Stromversorgung zwar ein wesentlicher Sicherheitsfaktor sei, die Abklingbecken aber groß genug seien, um die Wärme auch ohne aktive Kühlung abzuleiten. Daher sehe sie keine „kritische Auswirkung auf die Sicherheit.“[34] Laut IAEO wurden die zerstörten Leitungen am 12. März 2022 teilweise repariert[35] und die Stromversorgung am nächsten Tag vollständig wiederhergestellt.[36]

Die russischen Soldaten sollen mit ihren Stiefeln ohne Sicherheitsmaßnahmen Staub von außen in Kraftwerksgebäude hinein getragen haben.[37] Am 31. März 2022 meldete das ukrainische Staatsunternehmen Energoatom, dass die russischen Streitkräfte sich aus dem Reaktorgelände und der Umgebung zurückgezogen hätten. Bei Soldaten sei die Strahlenkrankheit aufgetreten und habe Panik verursacht. Die IAEO erklärte, dass sie die ukrainischen Angaben bislang nicht bestätigen könne.[38]

Die Techniker und Wissenschaftler wurden beim Abzug gezwungen, ein Dokument zu unterschreiben, keine Ansprüche an Russland zu erheben. Ausrüstung und persönliches Material waren geplündert worden, ebenso Technik und Laboratorien sowie Proben. Containerweise sei hochtechnologische Reparaturausrüstung von den Russen abtransportiert worden. Die Daten der jahrelangen Überwachung im EcoCenter sind mit den lokalen Datenträgern entfernt worden.[39]

Rafael Grossi besuchte am 26. April 2022, dem 36. Jahrestag des Unfalls, als dritter Generaldirektor der IAEO nach Hans Blix im Jahr 1986 und Yukiya Amano im Jahr 2011 das Kernkraftwerk. Die IAEO überprüfte die Strahlungswerte, die während der russischen Besetzung angestiegen und nun wieder auf den Normalwert zurückgegangen waren und unterstützte die Ukrainer bei der Reparatur von Fernüberwachungssystemen, die von den russischen Streitkräften außer Betrieb gesetzt worden waren. Diese waren notwendig, um die Strahlungswerte in der Sperrzone vom Hauptsitz der Organisation in Wien aus zu überwachen.[40] Im Januar 2023 beschloss die IAEO, mit eigenen Expertenteams an allen ukrainischen Atomkraftwerken präsent zu sein, um das Risiko schwerer Unfälle während des Krieges zu verringern.[41]

Commons: Kernkraftwerk Tschernobyl – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien

Einzelnachweise

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  1. Schreibweise nach russischem Namen bis zum Ende der Sowjetunion und insbesondere während der Reaktorkatastrophe; heutige Bezeichnung nach ukrainischem Namen: Tschornobyl
  2. Website des Kraftwerkes – Über den Bau (Memento vom 7. Juni 2008 im Internet Archive) (englisch)
  3. a b c d Reaktorunfall von Tschernobyl (Memento vom 31. Januar 2012 im Internet Archive) (PDF; 1,3 MB)
  4. Alexander Heinrich: Strahlend wird die Zukunft sein. Das Parlament, 15. August 2016. Abgerufen am 14. August 2024.
  5. a b Archivierte Kopie (Memento vom 27. Oktober 2008 im Internet Archive)
  6. Atomkraft in der Ukraine (Memento vom 12. November 2010 im Internet Archive)
  7. Alexey: Post-accident operation and shutdown. Abgerufen am 22. Mai 2024 (britisches Englisch).
  8. Power Reactor Information System der IAEA: „Ukraine: Nuclear Power Reactors“ (englisch)
  9. Das KKW Tschernobyl. Wiener Umweltanwaltschaft, archiviert vom Original am 29. September 2007; abgerufen am 24. April 2006.
  10. Martin Czakainski: Der Reaktorunfall von Tschernobyl. Unfallursachen, Unfallfolgen und ihre Bewältigung, Sicherung und Entsorgung des Kernkraftwerks Tschernobyl. Informationskreis KernEnergie, 2006, ISBN 3-926956-48-8, S. 46, 58.
  11. Teile von Dach und Wand des explodierten Tschernobyl-Reaktors eingestürzt
  12. Tschernobyl: Demontage des Lüftungsschachts Nuklearforum Schweiz, 13. November 2013
  13. Wie viele Reaktoren gibt es in der Ukraine? Bundesumweltministerium, 25. Februar 2022. Abruf am 19. Oktober 2024
  14. Viola Kiel und Hilmar Schmundt: Welche Folgen hat der Stromausfall in Tschernobyl? Der Spiegel, 9. März 2022. Abruf am 18. Oktober 2024
  15. Novarka | Chronology. Abgerufen am 9. September 2019 (amerikanisches Englisch).
  16. Project “New Safe Confinement Construction” (englisch) (Memento vom 14. Juni 2015 im Internet Archive)
  17. Tschernobyl-Sarkophag droht Baustopp. Süddeutsche Zeitung, 16. September 2014
  18. Ivo Mijnssen: Ein Sarkophag für hundert Jahre. Neue Zürcher Zeitung, 1. Dezember 2014
  19. Bernhard Clasen: Verzögerung beim Sarkophag-Neubau: Tschernobyl und die Zeit. In: Die Tageszeitung: taz. 23. April 2018, ISSN 0931-9085 (taz.de [abgerufen am 24. April 2018]).
  20. Christoph Seidler: Strahlung zu hoch: Fertigstellung des Tschernobyl-Sarkophags verzögert sich. In: Spiegel Online. 20. Dezember 2017 (spiegel.de [abgerufen am 20. Dezember 2017]).
  21. President: This year the commissioning of a new safe confinement of the Shelter object will be completed. 26. April 2018, abgerufen am 5. Mai 2018 (englisch).
  22. Chernobyl’s New Safe Confinement project completes final commissioning test. 25. April 2019, abgerufen am 2. Juni 2019 (englisch).
  23. mdr.de: Schutzhülle in Tschernobyl offiziell in Betrieb | MDR.DE. Abgerufen am 12. August 2019.
  24. Schutzhülle ist fertiggestellt, zuletzt abgerufen am 29. November 2016.
  25. Zehn Meter pro Stunde. Abgerufen am 15. November 2016.
  26. Launch of new confinement at Chornobyl NPP postponed until May 2018. Abgerufen am 10. März 2018 (englisch).
  27. Deutschlandfunk, Wissenschaft im Brennpunkt, 25. Mai 2015, Dagmar Röhrlich: Aufräumen in unruhigen Zeiten (Abrufdatum: 11. November 2016)
  28. a b Decommissioning the Chernobyl Nuclear Power Plant. Abgerufen am 25. Oktober 2015 (englisch).
  29. Serhii Plokhy: Chernobyl Roulette. A War Story. Allen Lane, 2024, ISBN 978-0-241-68125-1, S. 38–51 (englisch, eingeschränkte Vorschau in der Google-Buchsuche).
  30. Serhii Plokhy: Chernobyl Roulette. A War Story. Allen Lane, 2024, ISBN 978-0-241-68125-1, S. 51–52 (englisch, eingeschränkte Vorschau in der Google-Buchsuche).
  31. Ukrenergo: Mitteilung 1042. 9. März 2022, abgerufen am 9. März 2022.
  32. IEAO: PM Nr. 15: Statement on situation in Ukraine. 8. März 2022, abgerufen am 9. März 2022.
  33. Stromversorgung im AKW Tschernobyl gekappt: Radioaktivität könnte austreten. In: Der Standard, 9. März 2022. Abgerufen am 9. März 2022.
  34. IAEA: Stromausfall in Tschernobyl kein kritisches Problem. In: ORF, 9. März 2022. Abgerufen am 9. März 2022.
  35. Strom in Tschernobyl läuft teilweise wieder. 12. März 2022, abgerufen am 12. März 2022.
  36. AKW Saporischschja unter russischer Kontrolle – Tschernobyl wieder mit Strom versorgt. 13. März 2022, abgerufen am 14. März 2022.
  37. Kontrovers vom 30. März 2022.
  38. Russians fled Chernobyl with radiation sickness, says Ukraine as IAEA investigates, The Guardian vom 31. März 2022.
  39. Ekaterina Maksimova: Captured Technology and Radiation Victims: What Russians Left in Chernobyl. In: The Insider. 5. April 2022, abgerufen am 22. September 2024 (englisch).
  40. Serhii Plokhy: Chernobyl Roulette. A War Story. Allen Lane, 2024, ISBN 978-0-241-68125-1, S. 175–176 (englisch, eingeschränkte Vorschau in der Google-Buchsuche).
  41. IAEA-Beobachter nun auch permanent in Tschernobyl. In: tagesschau.de. 18. Januar 2023, archiviert vom Original am 19. Januar 2023; abgerufen am 19. Januar 2023.