Kernsatz (Sprachtypologie)
Unter Kernsatz wird in der Sprachtypologie ein möglichst einfacher Aussagesatz verstanden, der eine Proposition, eine elementare gedankliche (vorsprachliche) Bedeutung, sprachlich realisiert.
Die Bedeutung von Kernsätzen
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Ausgangspunkt ist Fenk-Oczlons Hypothese[1], dass die mittlere Silbenanzahl von Kernsätzen sprachuniversell im Bereich von Millers magischer Zahl 7 ± 2 Silben liegt.[2] Als Ursache hierfür wird die Organisation des Gedächtnisses angesehen, dessen „Präsenszeit“ auf rund 2 Sekunden bestimmt wird: „Man kann ungefähr so viele Silben und Wörter »unmittelbar« behalten, als man innerhalb von etwa 2 Sekunden auszusprechen imstande ist.“[3] Dabei stimmen Präsenszeit, Dauer von Äußerungen zwischen zwei Sprechpausen („breath groups“) und von Intonationseinheiten überein.[3]
Um Fenk-Oczlons Hypothese zu überprüfen, wurde ein Experiment mit Kernsätzen in 29 Sprachen – darunter Deutsch – durchgeführt. Es wurden 22 deutsche Kernsätze gebildet und von Muttersprachlern in ihre jeweilige Sprache übersetzt. Als Ergebnis hat sich herausgestellt, dass von den 29 Sprachen nur das Japanische eine durchschnittliche Silbenzahl bei den Kernsätzen aufweist, die mit 10.2 etwas außerhalb der angegebenen Spanne liegt.[4] Mittlerweile konnte dass Ergebnis in 61 Sprachen (18 Sprachfamilien) bestätigt werden: die mittlere Silbenanzahl pro Kernsatz beträgt 7.13 Silben.[5]
Bringt man die untersuchten Sprachen in eine Rangordnung, indem man sie nach ihrer durchschnittlichen Kernsatzlänge sortiert, dann lassen sich Zusammenhänge mit typologischen Kriterien demonstrieren, darunter dieser: Die Position einer Sprache in dieser Skala steht in Zusammenhang mit der Komplexität ihrer Silben.[6]
Einzelnachweise
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]- ↑ Gertraud Fenk-Oczlon: Bedeutungseinheiten und Sprachliche Segmentierung. Eine sprachvergleichende Untersuchung über kognitive Determinanten der Kernsatzlänge. Tübingen: Narr, 1983.
- ↑ George A. Miller: The magical number seven, plus or minus two: some limits on our capacity for processing information. In: Psychological Review 63, 1956, Seite 81–97.
- ↑ a b Gertraud Fenk-Oczlon, August Fenk: Selbstorganisation und natürliche Typologie. In: Sprachtypologie und Universalienforschung, 48, 1995, S. 223–238, Zitat S. 228.
- ↑ Gertraud Fenk-Oczlon: Bedeutungseinheiten und sprachliche Segmentierung. Eine sprachvergleichende Untersuchung über kognitive Determinanten der Kernsatzlänge. Tübingen: Narr, 1983.
- ↑ Gertraud Fek-Oczlon, Jürgen Pilz: Linguistic complexity: relationships between phoneme inventory size, syllable complexity, word and clause length, and population size. In: Frontiers in Communication, Vol. 6, 2021. doi:10.3389/fcomm.2021.626032.
- ↑ Gertraud Fenk-Oczlon, August Fenk: The mean length of propositions is 7 plus minus 2 syllables - but the position of languages within this range is not accidental. In: G. d’Ydevalle (ed.) Cognition, Information Processing, and Motivation. Elsevier Science Publishers B.V, North Holland, 1985, S. 355–359.
Literatur
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]- Gertraud Fenk-Oczlon: Bedeutungseinheiten und sprachliche Segmentierung. Narr, Tübingen 1983, ISBN 3-87808-208-8.
- Gertraud Fenk-Oczlon, August Fenk: Menzerath's Law and the Constant Flow of Linguistic Information. In: Reinhard Köhler, Burghard B. Rieger (Hrsg.): Contributions to Quantitative Linguistics. Proceedings of the First International Conference on Quantitative Linguistics, QUALICO, Trier, 1991. Kluwer Academic Publishers, Dordrecht/Boston/London 1993, ISBN 0-7923-2197-9, Seite 11–31.