Kollaps der Wellenfunktion

aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie
Zur Navigation springen Zur Suche springen

Als Kollaps der Wellenfunktion oder Zustandsreduktion wird die Veränderung eines quantenmechanischen Zustands bezeichnet, wenn an ihm eine physikalische Größe mit einem Messgerät gemessen wird. Der Kollaps der Wellenfunktion ist ein wichtiger Bestandteil der Kopenhagener Deutung der Quantenmechanik und Gegenstand kontroverser Diskussionen.

Während durch den vor der Messung vorliegenden Zustand nur Wahrscheinlichkeitswerte für das Auftreten der verschiedenen Ergebnisse gegeben sind, die für diese Größe möglich sind (Eigenwert), nimmt das Objekt nach der Messung einen Zustand ein, der den gerade gemessenen Wert eindeutig festlegt (Eigenzustand). Diese Art der Zustandsänderung erfolgt nicht nach einer der deterministischen unitären Bewegungsgleichungen (Schrödingergleichung, Diracgleichung etc.).

Da angenommen wird, dass der Kollaps unstetig und augenblicklich stattfindet, bleibt unklar, wann und wie genau die Zustandsreduktion erfolgen soll und was ihre physikalische Ursache ist. Trotz intensiver Forschungsarbeit ist dies immer noch eine offene Fragestellung (Stand 2022). Es bleibt damit auch ungeklärt, inwieweit ein instantaner Kollaps der Wellenfunktion einen realen physikalischen Vorgang beschreibt, oder ob er nur als unvollständige Darstellung der tatsächlichen Vorgänge bei einer quantenmechanischen Messung interpretiert werden muss. Die vielverwendete Ausdrucksweise, die Zustandsreduktion geschehe bei dem Wechselwirkungsprozess des Objekts mit dem Messgerät, der die physikalische Grundlage der Messung ist, kann schon seit der frühen Diskussion und späteren Realisierung von Delayed-Choice-Experimenten und Quantenradierern als widerlegt gelten.

Bei der Beschreibung einer quantenmechanischen Messung ist auch der Effekt der Dekohärenz wichtig. Diese tritt insbesondere dann in Erscheinung, wenn der Einfluss der weiteren Umgebung auf das mikroskopische Objekt und das makroskopische Messinstrument, beispielsweise durch elektromagnetische und/oder gravitative Felder, berücksichtigt wird. Man geht dann von einer unitären Zeitentwicklung des Gesamtsystems aus Objekt und Messgerät aus. Die Dekohärenz macht verständlich, warum nach einer Messung keine weiteren quantenmechanischen Interferenzen mehr auftreten. Aber auch hier ist es ein ungelöstes Problem, die mit der einzelnen Messung einhergehende Auswahl eines konkreten Messergebnisses vorherzusagen.

Erste Ansätze zur Erklärung einer quantenmechanischen Messung stammen von Werner Heisenberg.[1][2] Diese Ansätze wurden 1932 von John von Neumann in seinem Buch Mathematische Grundlagen der Quantenmechanik als Postulate formuliert. Das Postulat eines instantanen Kollapses der Wellenfunktion ruft jedoch seit seiner Einführung Widerspruch hervor und wird heute zumindest als erklärungsbedürftig angesehen. Bereits Schrödingers Katze, ein populäres Gedankenexperiment von Erwin Schrödinger, sollte die Idee eines beobachterabhängigen Kollapses der Wellenfunktion ad absurdum führen, ebenso das Gedankenexperiment Wigners Freund.

Andere Interpretationen der Quantenmechanik wie die De-Broglie-Bohm-Theorie oder die Viele-Welten-Interpretation kommen ohne das Konzept eines Kollapses aus. Die Viele-Welten-Interpretation muss jedoch zur Vermeidung des Kollapses der Wellenfunktion eine Vielzahl messtechnisch unerreichbarer „Welten“ zulassen. Neuere Ansätze, den Zeitpunkt eines möglichen Kollapses der Wellenfunktion zu beschreiben werden auch im Rahmen der Dekohärenz diskutiert.

In der Quantenmechanik wird ein physikalisches System vollständig durch die Angabe seines momentanen quantenmechanischen Zustands beschrieben. Dieser Zustand kann in einer Eigenbasis eines Operators entwickelt werden.

In der Bra-Ket-Notation schreibt sich die Wellenfunktion dann:

Der Gesamtzustand ist eine Überlagerung aller möglichen Eigenzustände mit ihren Wahrscheinlichkeitsamplituden . Wird an einem solchen System eine Messung durchgeführt, so werden die Experimentatoren stets einen einzigen Messwert ermitteln. Dieser ist der Eigenwert eines der Eigenzustände, die der Art der Messung entsprechen. Unmittelbar nach der Messung befindet sich das System in genau diesem Eigenzustand, denn würde sie wiederholt, müsste sie den gerade bestimmten Messwert mit Sicherheit reproduzieren. Formal bedeutet dies, dass die Superposition von Eigenzuständen durch die Messung auf einen einzelnen dieser Zustände reduziert wird, der Gesamtzustand wird dabei auf einen Eigenraum projiziert. Dieser Übergang vom Zustand der Superposition zu einem bestimmten Eigenzustand wird als Zustandsreduktion bezeichnet. Wenn der Ausgangszustand als Schrödingersche Wellenfunktion dargestellt wird, spricht die Kopenhagener Interpretation auch vom „Kollaps (oder Zusammenbruch) der Wellenfunktion“.

Der Reduktionsvorgang

[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Der Kollaps der Wellenfunktion erfolgt instantan, d. h., auch an räumlich weit getrennten Orten ergeben sich sofortige Konsequenzen für die Vorhersage von Messungen am System. Diese Eigenschaft wird als Quanten-Nichtlokalität bezeichnet. An verschränkten Systemen führt die Quanten-Nichtlokalität zur statistischen Korrelation der Messergebnisse, selbst wenn die Orte der Messungen an einem ausgedehnten verschränkten System so weit voneinander entfernt sind, dass eine physikalische Wirkung (Information) selbst mit Lichtgeschwindigkeit nicht schnell genug übertragen werden könnte. Mit einem unpassenden Wort wird dies manchmal als Fernwirkung bezeichnet.[3]

Ein entscheidender Unterschied zu einer „klassischen“ Zustandsbeschreibung wird manchmal übersehen: Sofern die Wellenfunktion nicht schon vor der Messung einen Eigenzustand beschreibt, enthält sie mehrere Eigenzustände und für jeden eine Wahrscheinlichkeit unter 100 %. Sie beschreibt dann gewissermaßen nicht wirklich das System, sondern das unvollständige Wissen über das System. Fröhner[4] hat nachgewiesen, dass die quantenmechanischen Wahrscheinlichkeiten widerspruchsfrei als Bayessche Wahrscheinlichkeiten aufgefasst werden können. Diese ändern sich, indem die Messung den Informationsstand des Beobachters ändert. Dazu wird keine Zeit benötigt; was kollabiert („zusammenbricht“), ist nichts Physikalisches, sondern nur der Informationsmangel des Beobachters. Ganz entsprechend haben sich hierzu Heisenberg 1960 in einer brieflichen Diskussion (siehe Zitat bei Fröhner) und Styer[5] geäußert, sowie schon 1935 Schrödinger im Zusammenhang mit seiner Veröffentlichung[6] zum Gedankenexperiment mit einer Katze.

Das Konzept der quantenmechanischen Messung und damit der Kollaps der Wellenfunktion wird in vielen ein- und weiterführenden Lehrbüchern behandelt.

Einzelnachweise

[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]
  1. W. Heisenberg: Über den anschaulichen Inhalt der quantentheoretischen Kinematik und Mechanik. In: Zeitschrift für Physik. Band 43, 1927, S. 172–198 (online [abgerufen am 2. November 2022]).
  2. C. Kiefer: On the interpretation of quantum theory – from Copenhagen to the present day. In: Arxiv.org. 22. Oktober 2002, abgerufen am 2. November 2022.
  3. Max Born, Albert Einstein: Albert Einstein, Max Born. Briefwechsel 1916–1955. Nymphenburger, München 1955, S. 210.
    Einstein spricht von einer „spukhaften Fernwirkung“.
  4. F. H. Fröhner: Missing Link Between Probability Theory and Quantum Mechanics: the Riesz-Fejér Theorem. In: Zeitschrift für Naturforschung. 53a, 1998, S. 637–654, doi:10.1515/zna-1998-0801.
  5. Daniel F. Styer: The Strange World of Quantum Mechanics. Cambridge University Press, 2000, ISBN 0-521-66780-1, S. 115.
  6. Die gegenwärtige Situation in der Quantenmechanik. In: Naturwissenschaften (Organ der Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte – Berlin, Springer), Band 23, 1935; Teil 1: doi:10.1007/BF01491891, Teil 2: doi:10.1007/BF01491914, Teil 3: doi:10.1007/BF01491987.