Konfliktspannung

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Ansatzmöglichkeiten psychischer Kräfte nach Gustav Theodor Fechner (1801–1887)
(1) Äußere Psychophysik
(2) Innere Psychophysik
(3) Neurophysiologie

Konfliktspannung stellt ein metapsychologisches Konzept von Sigmund Freud (1856–1939) dar, mit dem psychodynamische und ökonomische Gesichtspunkte zum besseren Verständnis der Konfliktverarbeitung miteinander verbunden sind.[1](a) Konfliktspannung wird damit zu einem Grundbegriff psychoanalytischer Neurosenlehre, indem er den terminologischen Rahmen bietet zur verständlichen Abgrenzung verschiedener seelischer Reaktionsmöglichkeiten auf die Entstehung einer Konfliktspannung von quantitativ jeweils unterschiedlicher Stärke. Demnach ist anzunehmen, dass die Stärke dieser Spannung und die entsprechenden individuellen Reaktionsmöglichkeiten für die praktisch erkennbaren, mehr oder weniger gravierenden Symptome oder Abwehrmechanismen bei einer jeden rein psychischen Störung maßgeblich sind.

Neurose, Psychose und andere seelische Störungen

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Durch die Abgrenzung von Neurose und Psychose mit Hilfe der Vorstellung eines für die gegebenen Verarbeitungskapazitäten relativ zu hohen Spannungsniveaus kann z. B. die Psychose als Störung innerhalb eines umfassenden Konfliktmodells verstanden werden. Terminologisch wird damit nicht nur der verständlichen Abgrenzung beider diagnostischer Begriffe gedient, sondern gleichzeitig auch ein einheitliches Konfliktmodell für Neurosen und Psychosen aufgestellt (Einheitspsychose). Die unterschiedlichen Arten der Psychosen stellen demnach nur Variationen des psychotischen Verarbeitungsmodus dar.[2](a) Freud hält einen narzisstischen Verarbeitungsmodus bei der Melancholie für wahrscheinlich.[1](b) Wichtig erscheint jedoch nicht nur die erlebte Stärke der Konfliktspannung, sondern auch die Konsistenz und Reifung der betroffenen Persönlichkeit. Diese ist es nämlich, die den Verarbeitungsmodus jeweils entscheidend mitbestimmt.[3] Das Konzept der Konfliktspannung gestattet aber eine quantifizierbare Betrachtung aller derjenigen psychischen Abläufe, die eher unbewusst und reflexhaft ablaufen. Je höher die Konfliktspannung, desto gravierender die entsprechenden Notfallreaktionen bzw. Mechanismen zur Wiederherstellung der Homoiostase bzw. des seelischen und körperlichen Wohlbefindens und Gleichgewichts. Diese Abwehrmechanismen stellen jedoch ggf. auch Beeinträchtigungen dar, weil sie zwar kulturellen gesellschaftlichen Zielsetzungen dienen, nicht aber individuellen archaischen Bedürfnissen.[2](b)

Dynamik und Ökonomie

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Dynamik und Ökonomie werden durch Freud durch den Hinweis auf ihre „relativen Größen“ verbunden.[1](c) Dies bedeutet in dynamischer Hinsicht einerseits (1), dass der Konflikt in durchaus wörtlich gemeintem Sinne – d. h. abgeleitet von lat. confligere = zusammenstoßen – verstanden werden kann als zusammenstoßende innerseelische und ggf. auch äußere Kräfte. Bei einem solchen Zusammenstoß ergibt sich ähnlich wie bei physikalischen Kräften eine Kräfteresultante entsprechend der von Fechner begründeten Psychophysik.[4](a) Nicht nur als abstrakte metapsychologische Theorie, sondern empirisch nachweisbar wurden diese Annahmen später bestätigt. Die Bezeichnung Zielgradient (Goal-Gradient-Effekt) wurde 1932 erstmals von Clark L. Hull (1884–1952) in einem verhaltenspsychologischen Zusammenhang verwendet. Dieses Konzept wurde später von Neal E. Miller (1909–2002) weiterentwickelt.[5][6]

Bei Berücksichtigung ökonomischer Gesichtspunkte andererseits (2) wird vom Betroffenen ein möglichst niedriges und konstantes Spannungsniveau erwartet, da diesem die unerklärlich wechselnden und auch zu niedrigen Spannungen unangenehm sind, vgl. Fechners „Stabilitätsprinzip“, das von Freud unter dem Begriff Konstanzprinzip als psychoanalytisches Grundprinzip übernommen wurde.[2](c)

Strukturelle Gesichtspunkte

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Das innerpsychische Spannungsfeld ist für die mehr oder weniger positive bzw. eher mangelhafte Ausbildung seelischer Strukturen verantwortlich, die sich als Habitus bezeichnen ließe. Als Beispiel für eine eher mangelhafte Reifung von Fähigkeiten, die beim Erwachsenen aber positiv vorausgesetzt werden, spricht Alexander Mitscherlich (1908–1982) von „Partialsozialisierungen“.[7][3] Rainer Tölle (1932–2014) verweist auf die Bedeutung der Konfliktspannung im Zusammenhang mit der sensitiven Persönlichkeit. Er vertritt die Auffassung, dass belastende Erlebnisse eine vergleichsweise hohe Konfliktspannung erzeugen, die nicht durch Abwehrmaßnahmen genügend herabgesetzt werden kann. Die Erlebnisse sind daher stark affektbetont. Insbesondere aggressive Regungen werden unterdrückt. Steigt die Spannung weiter an, so kann es zu explosiven Ausbrüchen kommen. Insbesondere Ernst Kretschmer (1888–1964) hat sich mit diesen Reaktionen befasst. Die betreffenden Persönlichkeiten seien durch eine asthenische Struktur mit „sthenischem Stachel“ ausgezeichnet.[8] Im Gegensatz zur früheren Bezeichnung des sensitiven Beziehungswahns, wird heute die Benennung sensitive Beziehungsreaktion bevorzugt.[9](a) In die Psychiatrische Literatur ist die Bezeichnung des Hauptlehrers Ernst August Wagner (1874–1938) eingegangen, die aufgrund der Begutachtung durch Robert Eugen Gaupp (1870–1953) dem Wandel der dynamischen und strukturellen Sichtweisen Ausdruck verleiht.[9](b)

Dynamik und Struktur

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Manfred Pohlen (* 1930) betont am Beispiel der Objektbeziehung, dass die Betrachtungsweise psychischer Strukturen häufig als Anlass dafür genommen wird, auf dynamische Sichtweisen zu verzichten und anstelle dessen eine biologisierende Ursachenverkettung psychischer Störungen zu vertreten. Diese rein ursächliche Verkettung erfolge vielfach im Sinne der Annahme von sog. Defekten. Das gehe auch hervor aus der Überzeugung, mit der frühere Thesen der Doppelbindung den schuldzuweisenden Begriff der „schizophenogenen Mutter“ geprägt haben. Nicht die in der zwischenmenschlichen Beziehung begründete Konfliktspannung, sondern ein ursächlich als „normal“ zu bewertendes einseitiges Verhalten der Mutter als Bezugsperson habe dabei im Vordergrund gestanden.[10](a) Auch am Beispiel vorgenannter „asthenischer Persönlichkeitsstruktur“ ist unverkennbar, dass das zugrundeliegende Konzept der Psychasthenie sich von naturwissenschaftlich ursächlich geprägten neuronalen Vorstellungen der Neurasthenie ableitet. Ähnlich wurde die Neurose ursprünglich neuronal-naturwissenschaftlich bzw. als nichtentzündliche Nervenstörung des schottischen Mediziners und Chemikers William Cullen (1710–1790) verstanden.[4](b)

Eine Umkehrung der bevorzugt ursächlichen Denkweise vertritt Carl Gustav Jung (1875–1961). Aufgrund psychischer Unbestimmtheit der kausalen Determinierung, vertritt Jung einen finalen Standpunkt. Die Unbestimmtheit der kausalen Denkweise besteht in der Unmöglichkeit, aus einer bestimmten psychischen Wirkung W auf eine eindeutige Ursache U zu schließen. Für einen Betrachter, der die finale Denkweise vertritt, ist ein solches Aufsteigen vom Grund U zur Folge W in einer progressiven psychologischen „Ursachenwirkung“ verständlich, die im Gegensatz zu einer regressiven steht.[11] Wie Erich Wulff (1926–2010) gezeigt hat, können dabei in der Zukunft liegende innenpsychologische oder außenpsychologische (politische) Entwicklungen und Entfaltungsmöglichkeiten offen bleiben.[12] Auch insofern ist das Freudsche Prinzip der Überdeterminiertheit hier gerade umgekehrt zu verstehen.

Aufgrund dieser Hinweise erscheint es wichtig, sich der unterschiedlichen Betrachtungsweisen in Psychiatrie und Psychologie bewusst zu sein. Auch hinsichtlich des Begriffs des Strukturniveaus, der zu operativem einzelpsychologischem Vorgehen geeignet erscheint, sollte nicht außeracht gelassen werden, dass Qualitäten wie Empathie oder Engagement notwendig sind, um sich nicht vorschnell mit einer allzu statischen und pseudoobjektiven Beurteilung abzufinden. Die Forderung nach Gegenseitigkeit in der therapeutischen Beziehung betont auch Pohlen, die der Forderung nach Neutralität des Analytikers entgegengesetzt zu sein scheint.[10](b) Bereits die klassische deutsche Psychiatrie hat auf die Notwendigkeit einer multikonditionalen Betrachtungsweise hingewiesen.

Einzelnachweise

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  1. a b c Sigmund Freud: Neurose und Psychose. In: Gesammelte Werke, Band XIII, „Jenseits des Lustprinzips – Massenpsychologie und Ich-Analyse – Das Ich und das Es“ (1920–1924), Fischer Taschenbuch, Frankfurt / M 1999, ISBN 3-596-50300-0:
    (a) S. 390 zu Stw. „Konfliktspannung“;
    (b) S. 390 zu Stw. „narzißtische Psychoneurosen“;
    (c) S. 391 zu Stw. „relative Größen“.
  2. a b c Stavros Mentzos: Neurotische Konfliktverarbeitung. Einführung in die psychoanalytische Neurosenlehre unter Berücksichtigung neuerer Perspektiven. © 1982 Kindler, Fischer-Taschenbuch, Frankfurt 1992, ISBN 3-596-42239-6:
    (a) S. 249 ff. zu Stw. „psychotischer Verarbeitungsmodus“;
    (b) S. 75 ff. zu Stw. „optimales Spannungsniveau oder Notfallmechanismen zur Wiederherstellung des Optimums“;
    (c) S. 75 ff. wie (b).
  3. a b Gerd Huber: Psychiatrie. Systematischer Lehrtext für Studenten und Ärzte. F. K. Schattauer, Stuttgart 1974, ISBN 3-7945-0404-6; Kap. II. 2. Schizophrenien, S. 253 f. zu Stw. „Konfliktspannung und Persönlichkeit“.
  4. a b Walter Bräutigam: Reaktionen, Neurosen, Psychopathien. Ein Grundriß der kleinen Psychiatrie. dtv Wissenschaftliche Reihe, 2. Auflage, Georg Thieme, Stuttgart 1969:
    (a) S. 7 zu Stw. „Kräfteresultante“;
    (b) S. 70 f. zu Stw. „Historisches zum Begriff Neurose“.
  5. Peter R. Hofstätter (Hrsg.): Psychologie. Das Fischer Lexikon, Fischer-Taschenbuch, Frankfurt a. M. 1972, ISBN 3-436-01159-2; S. 198 ff. zu Stw. „Appetenz-Aversionskonflikt“ und S. 212 zu Kap. „Lernen am Erfolg“.
  6. Wilhelm Karl Arnold et al. (Hrsg.): Lexikon der Psychologie. Bechtermünz, Augsburg 1996, ISBN 3-86047-508-8; Sp. 1116–1122 zu Lex.-Lemma: „Konflikt“.
  7. Alexander Mitscherlich: Aggression und Anpassung. (I), Psyche, 10, (1956/57) S. 177–193. Zitiert nach Wolfgang Loch: Zur Theorie, Technik und Therapie der Psychoanalyse. S. Fischer Conditio humana (hrsg. von Thure von Uexküll & Ilse Grubrich-Simitis 1972, ISBN 3-10-844801-3; S. 31 f. zu Stw. „innerpsychisches Spannungsfeld“.
  8. Rainer Tölle: Psychiatrie. Kinder- und jugendpsychiatrische Bearbeitung von Reinhart Lempp. 7. Auflage, Springer, Berlin 1985, ISBN 3-540-15853-7; S. 109 f. zu Kap. „Sensitive (selbstunsichere) Persönlichkeiten“.
  9. a b Uwe Henrik Peters: Lexikon Psychiatrie, Psychotherapie, Medizinische Psychologie. 5. Auflage, Urban & Fischer, München 2000; ISBN 3-437-15060-X:
    (a) S. 513 zu Lemmata „Sensitive“ und „sensitive Beziehungsreaktion“;
    (b) S. 607 zu Lemma „Wagner, Ernst“.
  10. a b Manfred Pohlen und Margarethe Bautz-Holzherr: Eine andere Psychodynamik. Psychotherapie als Programm der Selbstbemächtigung des Subjekts. Erstauflage 2001, Verlag Hans Huber Bern, Göttingen; ISBN 3-456-83189-7:
    (a) S. 84 f. zu Stw: „Konfliktspannnung, ein Appell an das dynamische Denken“;
    (b) S. 111, 128, 231, 302 zu Stw: „Gegenseitigkeit der Beziehung“.
  11. Carl Gustav Jung: Über die Energetik der Seele. In: Gesammelte Werke, Band 8 „Die Dynamik des Unbewußten“. Walter-Verlag, Düsseldorf 1995, Paperback, Sonderausgabe, ISBN 3-530-40083-1; S. 13–16, § 1–5, bes. Fußnote 4 zu Kap. „Allgemeines über die energetische Betrachtungsweise in der Psychologie“.
  12. Erich Wulff: Psychisches Leiden und Politik – Ansichten der Psychiatrie. Campus Frankfurt / M 1981, ISBN 3-593-32940-9; S. 111 zu Stw. „progressive Welt- und Wirklichkeitserfahrung“.