Schlafgänger

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Der späte Schlafbursche von Heinrich Zille

Schlafgänger (auch Bettgeher, Schlafburschen bzw. Schlafmädchen; Plural auch Schlafleute)[1] waren Menschen, die gegen ein geringes Entgelt ein Bett nur für einige Stunden am Tag mieteten, während der Wohnungsinhaber die Schlafstelle nicht benötigte. Das Schlafgängertum kam in den Großstädten während des 19. Jahrhunderts auf und war noch in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts verbreitet.

Der Grund für diese Form der Wohnungsüberlassung war der zur Zeit der Industrialisierung sehr knappe und daher teure Wohnraum, der nicht alle Landflüchtlinge aufnehmen konnte.

Als Schlafgänger konnten beispielsweise Schichtarbeiter während des Tages gegen ein geringes Entgelt schlafen, während der reguläre Wohnungsinhaber seiner Arbeit nachging. Schlafgänger hatten normalerweise keinen Familienanschluss, durften die restlichen Räumlichkeiten, wie die Küche oder die „Gute Stube“, nicht nutzen und erhielten im Gegensatz zu Untermietern kein Frühstück.

Anteil der Berliner Wohnungen mit Schlafgängern[2]

Die Schlafgänger trugen zur weiteren Verschlechterung der Wohnsituation bei, da sie die familiäre und die intime Beziehung der Wohnungsinhaber störten. Außerdem entstanden hygienische Probleme, was die Verbreitung von Epidemien, Syphilis, Tuberkulose und Krätze beförderte.[3] Allerdings waren sie zur Finanzierung der Wohnungen notwendig, weil das Familieneinkommen zur Eigenfinanzierung einer Wohnung vielfach zu gering war. Mancherorts wurde das eigene Bett sogar an zwei verschiedene Schlafgänger vermietet.

Statistisch gesehen gab es bei kleineren Wohnungen viel mehr Schlafgänger als bei größeren, da man in kleineren Wohnungen eher einen Schlafplatz als einen ganzen Raum abgeben konnte.

Die weite Verbreitung des Schlafgängerwesens zeigen am Beispiel Berlin folgende Zahlen: Im Jahre 1880 boten 32.289 Haushalte (das waren 15,3 %) Unterkünfte für insgesamt 59.087 Schlafleute. Bis 1900 war (einschließlich der Vororte von Berlin) die Zahl der Haushalte auf 72.445 und die der Schlafgänger auf 114.158 (84.235 Schlafburschen und 29.923 Schlafmädchen) angestiegen.[1]

„Diese sozialen Wohnungsschäden sind durch das Schlafgängerwesen stark vermehrt. […] 1895 wurden in Berlin 79.435, in Dresden 19.836 und in Leipzig 19.101 Schlafstellenleute gezählt. In manchen Fällen war dasselbe Bett von zwei oder gar von drei Personen im Achtstundenwechsel innerhalb 24 Stunden benutzt, ohne somit einen Augenblick kalt werden zu können.“

Friedrich H. Lorentz[4]

Noch Ende des 18. Jahrhunderts (also vor Beginn der Industrialisierung) war das Phänomen unbekannt, denn der Begriff Schlafgänger wurde nur synonym für Schlafwandler benutzt.[5]

  • Hannah Ahlheim: Der Traum vom Schlaf im 20. Jahrhundert. Wissen, Optimierungsphantasien und Widerständigkeit. Wallstein, Göttingen 2018, ISBN 978-3-8353-3247-8
  • Johannes Altenrath: Das Schlafgängerwesen und seine Reform. Statistik, Schlafstellenaufsicht, Ledigenheime mit besonderer Berücksichtigung des weiblichen Schlafgängerwesens. Berlin 1916 (zugleich Dissertation, Universität Halle, 1916).
  • F.J. Brüggemeier, L. Niethammer: Schlafgänger, Schnapskasinos und schwerindustrielle Kolonie. In: Jürgen Reulecke, Wolfhard Weber (Hrsg.): Fabrik – Familie – Feierabend. Beiträge zur Sozialgeschichte im Industriezeitalter. Wuppertal 1978, ISBN 3-87294-122-4, S. 135–175.
  • J. Ehmer: Wohnen ohne eigene Wohnung. In: Lutz Niethammer (Hrsg.): Wohnen im Wandel. Wuppertal 1979, S. 132–150, ISBN 3-87294-142-9.
  • Johann Friedrich Geist, Klaus Kürvers: Das Berliner Mietshaus. Drei Bände. München 1980–1989
  • Ralf Zünder: Vom Ledigenheim zum Studentenwohnheim Danckelmannstraße. Berlin (Studentenwerk Berlin) 1990.

Einzelnachweise

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  1. a b Schlafstelle. In: Meyers Großes Konversations-Lexikon. 6. Auflage. Band 17: Rio–Schönebeck. Bibliographisches Institut, Leipzig / Wien 1909, S. 822 (Digitalisat. zeno.org).
  2. Johann Friedrich Geist, Klaus Kürvers: Das Berliner Mietshaus. Band 2. Prestel Verlag, München 1980, ISBN 3-7913-0524-7, Tabelle: S. 469.
  3. Gesellschaft zwischen den 1830er und 1870er Jahren. Abgerufen am 21. März 2017.
  4. Friedrich H. Lorentz: Die Hygiene der Neuzeit. In: Kurt Krause (Hrsg.): Die neue Volkshochschule. Bibliothek für moderne Geistesbildung. Band 4. Verlagsbuchhandlung E. G. Weimann, Leipzig 1925, S. 50.
  5. Johann Christoph Adelung: Schlafgänger. In: Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart. 2. Auflage. Johann Gottlob Immanuel Breitkopf und Compagnie, Leipzig 1793 (zeno.org).