Lucidum intervallum

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Der Begriff Lucidum intervallum (lat. lichter Augenblick) bezeichnet einen Moment, in dem eine Person trotz einer zugrundeliegenden Bewusstseinsstörung im Vollbesitz ihrer geistigen Kräfte ist. Diese Bezeichnung findet mit unterschiedlichen Bedeutungen Verwendung in der Rechtswissenschaft und in der Medizin.

Rechtswissenschaft

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Erstmals diskutiert wurde das lichte Intervall von römischen Juristen, wobei schon in der Antike umstritten war, ob lichte Intervalle rechtlich relevant sein sollen.[1] Aus dem römischen Recht wurde es vom gemeinen Recht rezipiert und gelangte so in die moderne Rechtswissenschaft.

In der Rechtswissenschaft wird eine vorübergehende Unterbrechung eines die Geschäftsunfähigkeit, Testierunfähigkeit oder Prozessunfähigkeit bedingenden krankhaften Geisteszustandes zumeist als lichtes Intervall bezeichnet.

Es stellt insoweit einen Ausnahmetatbestand zu § 104 Nr. 2 BGB, § 2229 Absatz 4 BGB sowie zu § 52 ZPO dar. Obwohl jemand an sich geschäfts-, testier- oder prozessunfähig ist, könnte er in einem solchen Intervall die entsprechenden Rechtsgeschäfte oder Prozesshandlungen ausnahmsweise wirksam tätigen. Ob die Willenserklärungen, die während eines solchen Moments getätigt werden, rechtswirksam sind, ist jedoch umstritten.

Für die Wirksamkeit werden der Gesetzeswortlaut des § 104 Nr. 2 BGB, wonach Geschäftsunfähigkeit nur vorliegt, wenn sich der Handelnde in einem akut die freie Willensbildung ausschließenden Zustand krankhafter Störung der Geistestätigkeit befindet[2] sowie der Gedanke der Privatautonomie angeführt, wonach der Einzelne seine privaten Belange möglichst selbstbestimmt regeln können soll.[3] Gegen die Wirksamkeit wird vorgebracht, dass der Gesetzgeber die Figur des lichten Intervalls absichtlich nicht in das Bürgerliche Gesetzbuch aufgenommen habe[4] und dass sie nur dazu diene, vorschnell Geschäftsfähigkeit anzunehmen, ohne den Sachverhalt hinreichend zu ermitteln.[5] Das OLG München hält lichte Intervalle bei bestimmten Krankheiten für praktisch ausgeschlossen,[6] was Mathias Schmoeckel wiederum kritisierte: Nach dem BGB sei die Krankheit im medizinischen Sinne nicht relevant, vielmehr komme es auf die Fähigkeit zur Willensbildung an.[7] Nur der medizinische Befund sei von Dauer, während die Fähigkeit zur Willensbildung von der Tagesform abhänge und durch Medikation wieder herstellbar sei. Deshalb sei die Entscheidung des Gerichts methodisch fehlerhaft, auch weil das Gericht seine Kompetenz überschritten habe und sein Urteil einem Aufruf zur Rechtsverweigerung gleichkomme.[8]

Ein Lucidum intervallum muss von der Partei bewiesen werden, die sich darauf beruft.[9] Ein entsprechendes Gutachten muss, wenn die Wirksamkeit eines Testaments nach § 2229 BGB zur Diskussion steht, von einem Neurologen oder Psychiater erstellt werden, der über klinische Erfahrungen im Bereich der Gerontopsychiatrie verfügt.[10] Ist ein Erblasser bei Abfassung des Gutachtens bereits verstorben, handelt es sich bei dem Gutachten um ein sog. Aktengutachten, das nur auf den Angaben und Aussagen, die in den vorhandenen Unterlagen (z. B. Arztbriefen, Betreuungsgutachten etc.) enthalten sind, basiert. Bei einem ordnungsgemäß errichteten öffentlichen Testament hat der Notar nach § 28 BeurkG seine Wahrnehmungen bezüglich der Testierfähigkeit zu vermerken. In diesem Vermerk liegt jedoch nur ein Indiz, das nicht geeignet ist, schon gar nicht ohne eine Beweiserhebung über sein Zustandekommen, aufgrund konkreter Umstände begründete Zweifel an der Testierfähigkeit zu entkräften.[11]

Die Rechtswissenschaft spricht von einem Lucidum intervallum, wenn ein grundsätzlich geschäftsunfähiger Volljähriger vorübergehend bei Sinnen ist. Der Auslöser einer solchen Geschäftsunfähigkeit ist in der Regel eine Geisteskrankheit. Da es immer auf die Geschäftsfähigkeit bezüglich eines konkreten Geschäfts ankommt und darauf, die Bedeutung der darauf bezogenen rechtsgeschäftlichen Handlungen zu erkennen, ist die betreffende Person während eines Lucidum intervallum unbeschränkt geschäftsfähig.[12]

Dies gilt nicht, wenn ein Geschäftsunfähiger unter Sachwalterschaft steht. Für Rechtsgeschäfte im Zustand des Lucidum intervallum (kurzzeitige volle Einsichtsfähigkeit) bedarf er der Zustimmung des Sachwalters.[13]

Ein Lucidum intervallum ist nicht mit der partiellen Geschäftsunfähigkeit gleichzusetzen, da partiell Geschäftsunfähige nicht prinzipiell vom Rechtsverkehr ausgeschlossen sind. Denn die partielle Geschäftsunfähigkeit bedeutet nur die Unfähigkeit, die Tragweite eines bestimmten Geschäfts zu erkennen.

Synonyme sind freies Intervall[14] (gemeint: symptomfreier Zeitraum), lichtes Intervall, lichter Moment, lichter Augenblick, luzides Intervall,[15] Intervallum lucidum,[16] Intervalla lucida (Singular oder Plural),[17] Intermission (wörtlich: das Dazwischengeschickte) oder veraltet dilucidum intervallum (wörtlich: klarer Zwischenraum, klare Pause; gemeint: bewusstseinsklare Periode).

Früher wurde der Begriff verwendet, um ein anscheinend symptomfreies Intervall von Patienten mit Geisteskrankheiten zu beschreiben.[18] Heute würde man von abgeklungenen oder remittierten Symptomen sprechen, gegebenenfalls können bei entsprechender Untersuchung weiterhin Symptome festgestellt werden.[19]

In der Neurologie wird der Begriff benutzt, um eine Phase bei einem epiduralen Hämatom zu beschreiben, bei der nach anfänglicher kurzer Bewusstlosigkeit der Patient für einen Zeitraum bis zu mehreren Stunden erwachen kann (freies oder luzides Intervall), bevor eine zunehmende sekundäre Bewusstseinseintrübung eintritt.[20]

  • W. Rasch, R. Bayerl: Der Mythos vom luziden Intervall. Zur Begutachtung der Testierfähigkeit, in: Lebensversicherungsmedizin 37 (1985), S. 2–8.
  • C. Cording: Die Begutachtung der Testier(un)fähigkeit, in: Fortschritte der Neurologie und Psychiatrie 2004, S. 147–159

Einzelnachweise

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  1. Steffen M. Jauß: Lucidum Intervallum, Kritische Vierteljahresschrift für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft, 2016, S. 338
  2. Palandt/Ellenberger, § 104 Rdnr. 4, sowie Palandt/Weidlich, § 2229 Rdnr. 10
  3. Staudinger/Knothe, § 104 Rdnr. 13
  4. Steffen M. Jauß, in: Kritische Vierteljahresschrift für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft, 2016, S. 339 f.
  5. MüKo/Baldus, § 105 Rdnr. 5.
  6. vgl. OLG München, Beschluss vom 1. Juli 2013 – Az. 31 Wx 266/12
  7. Mathias Schmoeckel, Die Geschäfts- und Testierfähigkeit von Demenzerkrankten, NJW 2016, 437.
  8. Mathias Schmoeckel, Die Geschäfts- und Testierfähigkeit von Demenzerkrankten, NJW 2016, 437 f.
  9. lucidum intervallum/lichter Augenblick lexexact.de, Glossar
  10. BayObLG, NJW-RR 90, 1419
  11. BayObLG, Beschluss vom 17. August 2004 – l Z BR 53/04
  12. Christian Rabl: Bürgerliches Recht - Allgemeiner Teil/Rechtssubjekte und Rechtsobjekte Universität Wien, ohne Jahr, S. 27
  13. OGH 21. Dezember 2009, 8 Ob 125/09d, EF-Z 2010/49, 79
  14. Roche Lexikon Medizin, Urban & Fischer, 5. Auflage, München und Jena 2003, ISBN 3-437-15156-8, S. 937
  15. Roche Lexikon Medizin, Urban & Fischer, 5. Auflage, München und Jena 2003, ISBN 3-437-15156-8, S. 938
  16. Günter Thiele (Hrsg.): Handlexikon der Medizin, Urban & Schwarzenberg, Band F-K, München, Wien, Baltimore ohne Jahr, S. 1210
  17. Otto Dornblüth: Wörterbuch der Klinischen Kunstausdrücke, Verlag von Veit & Comp., Leipzig 1894, = 1. Auflage des Pschyrembel (Medizinisches Wörterbuch), S. 62: „die ruhige Zwischenzeit bei den periodischen Geisteskrankheiten“ (schon damals als veraltet bezeichnet)
  18. Günter Thiele (Hrsg.): Handlexikon der Medizin Urban & Schwarzenberg, München, Wien, Baltimore ohne Jahr, Band F-K, S. 1210
  19. Lexikon Psychiatrie, Psychotherapie, Medizinische Psychologie
  20. Matthias Sitzer (Hrsg.): Neurologische Notfall- und Intensivmedizin, S. 87