Madschāz

aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie
Zur Navigation springen Zur Suche springen

Madschāz (arabisch مجاز, DMG maǧāz) ist ein Begriff der islamischen Koranexegese, der zunächst verschiedene Arten von Erklärungen zum Korantext bezeichnete, sich aber im Laufe der Zeit zu einem Terminus technicus für die tropische Verwendung von Wörtern entwickelt hat. Der Gegensatz zwischen tropischer Verwendung eines Wortes (Madschāz) und der Verwendung des Wortes im eigentlichen, nicht-übertragenen Sinn (Haqīqa) kam besonders in der Texthermeneutik der muʿtazilitischen Theologie und der islamischen Rechtstheorie (usūl al-fiqh) zum Tragen. Die arabische Rhetorik betrachtete Madschāz als Stilmittel und entwickelte eine eigene Systematik verschiedener Madschāz-Typen. Auch die jüdisch-arabische Exegese des Mittelalters verwendete das Konzept des Madschāz.

Madschāz bei Abū ʿUbaida

[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Der Madschāz-Begriff erscheint zunächst im Rahmen der philologischen Koranexegese, die danach strebt, eine sprachlich korrekte Interpretation für den Heiligen Text zu entwickeln. Der Begriff Madschāz beschränkte sich hierbei in seiner Bedeutung zunächst nicht auf Tropen im streng rhetorischen Sinne, sondern umfasste allgemein alle Phrasen, die in semantischer, lexikographischer oder syntaktischer Hinsicht erklärungsbedürftig erschienen. In dieser weiten Bedeutung erscheint der Begriff in dem "Buch über den Madschāz des Koran" (Kitāb Maǧāz al-Qurʾān) von Abū ʿUbaida Maʿmar ibn al-Muthannā (gest. 824), dem ersten philologischen Kommentar zum Koran. Abū ʿUbaida leitet viele seiner Erklärungen zu koranischen Ausdrücken mit der Formel "und sein Madschāz ist" (wa-madschāzu-hū) ein. Wansbrough ist bei einer Untersuchung von Abū ʿUbaidas Werk zu dem Schluss gekommen, dass das, was hier als Madschāz bezeichnet wird, entweder die Ergänzung eines elliptischen Ausdrucks oder die Auflösung synthetischer Konstruktionen darstellt. Aufgrund dessen vertrat er die Auffassung, dass Madschāz bei Abū ʿUbaida "periphrastische Exegese" bedeute. Almagor, die sich nach Wansbrough mit Abū ʿUbaidas Werk befasste, zeigte allerdings, dass der Begriff Madschāz bei ihm häufig auch zur Herstellung von Äquivalenzbeziehungen zwischen zwei verschiedenen Phrasen dient, die unterschiedlichen Sprachsphären angehören. Den Begriff Madschāz erklärt sie hierbei unter Rückgriff auf das arabische Verb "dschāza, yadschūzu" als das, was in einer bestimmten Sprachsphäre möglich bzw. geläufig ist.[1]

Der Gegensatz Madschāz-Haqīqa

[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Ein Gegensatz zwischen übertragener Bedeutung (Madschāz) und eigentlicher Bedeutung (Haqīqa) eines Textes wurde wahrscheinlich zum ersten Mal im 9. Jahrhundert in den Kreisen der Muʿtaziliten konstruiert.[2] Die Muʿtaziliten benötigten diese Unterscheidung, um anthropomorphistische Beschreibungen Gottes im Koran, die ihrer abstrahierenden Gotteslehre Lehre widersprachen, als metaphorische Ausdrucksweisen entschärfen zu können.[3] Die Vorstellung, dass Gott im Koran in übertragener Bedeutung spricht, also auf Madschāz zurückgreift, wurde später auch von Theologen und Rechtstheoretikern anderer Lehrrichtungen übernommen. Selbst einige Anhänger der hanbalitischen Schule, die an sich die Lehren der Muʿtazila bekämpfte, vertraten diese Lehre, wobei sie sich darauf beriefen, dass Ahmad ibn Hanbal selbst die Existenz von Madschāz im Koran angenommen habe.[4] Zur theoretischen Unterfütterung des Gegensatzes zwischen Madschāz und Haqīqa wurde eine eigene Sprachtheorie entwickelt, nach der die primäre Bedeutung von Wörtern durch "Setzung" (Wadʿ) einer Sprachgemeinschaft zustande kommt.[5]

Auf dem Feld der islamischen Rechtstheorie war die Auffassung vorherrschend, dass bei der Auslegung der religiösen Texte (Koran und Sunna) zunächst die Haqīqa-Bedeutung der Wörter zugrunde gelegt werden musste, weil diese der Madschāz-Bedeutung vorausgeht.[6] Nur wenn bewiesen werden konnte, dass an der Stelle die Haqīqa-Bedeutung nicht gemeint war, durfte bei der Auslegung auf die Madschāz-Bedeutung ausgewichen werden.[7]

Allerdings gab es auch verschiedene islamische Gelehrte, die die Unterscheidung zwischen Haqīqa und Madschāz komplett ablehnten. Der wichtigste von ihnen war Ibn Taimiyya. Er vertrat in seinem Buch "Der Glaube" (Al-Īmān) die Theorie, dass sich der Sinn von sprachlichen Äußerungen erst im jeweiligen Kontext konstituiere und deshalb eine Unterscheidung von primären und sekundären Bedeutungsebenen bei Wörtern nicht möglich sei. Was die richtige Bedeutung einer sprachlichen Äußerung sei, ergibt sich nach ihm nur aus der Intention des Sprechers, die von dem Faqīh erschlossen werden müsse. M. Mohamed Yunis Ali hat versucht aufzuzeigen, dass Ibn Taimiya bei der Begründung seiner Position auf ähnliche Argumente zurückgreift wie die moderne Pragmatik.[8] Allerdings wies Ibn Taimiyya die Haqīqa-Madschāz-Unterscheidung auch deswegen zurück, weil sie aus seiner Sicht eine unrechtmäßige Neuerung im Sinne einer Bidʿa darstellte.[9]

Madschāz-Klassifikationen der arabischen Rhetorik

[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Die arabischen Rhetoriker, die Madschāz als ein wichtiges Stilmittel betrachteten, entwickelten eine eigene Systematik verschiedener Madschāz-Typen. ʿAbd al-Qāhir al-Dschurdschānī (gest. 1078) führte die Unterscheidung zwischen madschāz ʿaqlī ("verstandesmäßiger Tropus") und madschāz lughawī ("lexikalischer Tropus") ein. Ein madschāz ʿaqlī liegt dann vor, wenn "einem Gegenstand ein Prädicat, das ihm nicht eigentlich, sondern nur mittelbar durch sein Verhältniss zu dem wahren Subjecte zukommt, gegeben wird."[10] Als Beispiel wird der Ausdruck "Ihr Handel machte kein Gewinn" in Sure 2:15 genannt, bei dem der Ausdruck "Handel" (tiǧāra) für die handelnden Menschen steht. Für den madschāz lughawī muss dagegen eine lexikographische Grundlage bestehen.[11] Weiter wird beim Madschāz zwischen einfachen (mufrad) und zusammengesetzten (murakkab) Formen unterschieden, sowie je nachdem ob die übertragende Bedeutung auf einem Vergleich beruht oder nicht, zwischen istiʿāra ("Metapher") und madschāz mursal ("losgelöster Madschāz").[12] Der aschʿaritische Gelehrte Fachr ad-Din ar-Razi unterschied insgesamt zwölf verschiedene Arten von Madschāz.[13]

Umgekehrt wirkte die rhetorische Madschāz-Lehre auf das Verständnis des Korans zurück. So verfasste der schiitische Gelehrte asch-Scharīf ar-Radī Anfang des 11. Jahrhunderts ein Werk über die verschiedenen Madschāz-Formen des Korans (Talḫīṣ al-bayān fī maǧāzāt al-Qurʾān), um auf diese Weise den hohen ästhetischen Wert und rhetorischen Modellcharakter des Korans aufzuzeigen.[14]

Madschāz in der jüdisch-arabischen Exegese

[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Schließlich ist das Madschāz-Konzept auch in der jüdisch-arabischen Exegese des Pentateuch wirksam geworden. Im 10. und 11. Jahrhundert griffen die jüdischen Gelehrten Saadia Gaon und Samuel ben Chofni darauf zurück,[15] und im 12. Jahrhundert entwickelte der in Granada lebende Gelehrte Moses ibn Esra in dem Werk "Der Garten über die Bedeutung von Madschāz und Haqīqa" (al-Maqāla bi-l-ḥadīqa fī maʿnā al-maǧāz wa-l-ḥaqīqa) eine eigene umfassende Madschāz-Theorie, die philosophische Überlegungen miteinschloss.[16]

Siehe auch: PaRDeS

Arabische Madschāz-Literatur
  • Abū ʿUbaida Maʿmar ibn al-Muṯannā: Majāz al-Qur'ān = A commentary of the Qur'an: from the point of view of stylistic grammar. Ed. Fuat Sezgin, Fabian Käs. Frankfurt/Main 2010.
  • Šarīf ar-Raḍī: Talḫīs al-bayān fī maǧāzāt al-Qurʾān. Kairo: Dār Iḥyāʾ al-Kutub al-ʿArabīya 1955.
Studien
  • M. Mohamed Yunis Ali: Medieval Islamic Pragmatics. Sunni Legal Theorists' Models of Textual Communication. Richmond, Surrey 2000.
  • Kamal Abu Deeb: "Studies in the Majāz and Metaphorical Language of the Qurʾān: Abu ʿUbayda and al-Sharīf al-Raḍī." in Issa J. Boullata (ed.): Literary Structures of Religious Meaning in the Qur'an. Richmond, Surrey 2000. S. 310–353.
  • Ella Almagor: "The Early Meaning of Majāz and the Nature of Abū ʿUbayda's Exegesis." In J. Blau, S. Pines, M.J. Kister (Hrsg.): Studia Orientalia memoriae D. H. Baneth dedicata. Jerusalem 1979. S. 307–326.
  • Wolfhart Heinrichs: "On the Genesis of the Ḥaqīqa and Majāz Dichotomy" in Studia Islamica 59 (1984) 111-140.
  • Wolfhart Heinrichs: "Contacts between scriptural hermeneutics and literary theory in Islam: the case of majaz" in Zeitschrift fur Geschichte der Arabisch-Islamischen Wissenschaften. 7 (1991–92) 253–284.
  • Jasmin Henle: "Die Auslegungsmethode Saadias anhand des maǧāz-Konzepts vor dem Hintergrund seiner Vorstellung von Sprache" in Johannes Thon; Giuseppe Veltri und Ernst-Joachim Waschke (Hrsg.): Sprachbewusstsein und Sprachkonzepte im Alten Orient, Alten Testament und rabbinischen Judentum. Halle 2012. S. 211–231.
  • Benedikt Reinert: Art. "Madjāz" in The Encyclopaedia of Islam. New Edition Bd. V, S. 1025b-1026b.
  • John Wansbrough: "Majāz al-qur'ān: periphrastic exegesis" in Bulletin of the School of Oriental and African Studies 33/2 (1970) 247-266.

Einzelnachweise

[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]
  1. Vgl. Almagor 317.
  2. Vgl. Heinrichs 117.
  3. Vgl. Reinert 1026b.
  4. Vgl. Heinrichs 116f.
  5. Vgl. dazu Heinrichs 116 und Ali 15-40.
  6. Vgl. Ali 71.
  7. Vgl. Wael Hallaq: Islamic Legal Theories. An Introduction to Sunni uṣūl al-fiqh. Cambridge 1997. S. 42f.
  8. Vgl. Ali 105.
  9. Vgl. Heinrichs 117.
  10. A. F. Mehren: Die Rhetorik der Araber. Kopenhagen-Wien 1853. S. 30.
  11. Vgl. Reinert 1026a.
  12. Vgl. Mehren 31.
  13. Vgl. Reinert 1026a.
  14. Vgl. Abu Deeb 339 und Reinert 1026b.
  15. Vgl. dazu den Aufsatz von Henle.
  16. Vgl. Paul B. Fenton: Philosophie et Exégèse dans le Jardin de la métaphore de Moïse Ibn 'Ezra, Philosophe et Poète Andalou du XIIe Siècle. Leiden 1997.