Marie-Luise Jahn

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Marie-Luise Jahn, seit 1954 Marie-Luise Schultze-Jahn (* 28. Mai 1918 in Gut Sandlack/Kreis Friedland[1][2]; † 22. Juni 2010[3] in Bad Tölz) war eine deutsche Widerstandskämpferin gegen den Nationalsozialismus und setzte die Arbeit der Weißen Rose fort.

Leben und Wirken

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Marie-Luise Jahn wuchs als ältestes Kind mit zwei Brüdern auf dem elterlichen Landgut in Sandlack im damaligen Ostpreußen auf. Der Vater konnte ihnen als wohlhabender Grundbesitzer eine weitgehend unbeschwerte Kindheit ermöglichen, Unterricht erteilte eine Hauslehrerin. Zwischen 1934 und 1937 absolvierte Jahn das Internat Königin-Luise-Stiftung in Berlin, das sie erfolgreich mit dem Abitur abschloss. Am 9. November 1938 erlebte sie in der Reichshauptstadt die Ausschreitungen der Pogromnacht mit, die ihr eine bleibende Erinnerung blieben. Sie sah, wie auf offener Straße Menschen, zumeist jüdischer Abstammung, aus ihren Häusern gezerrt und misshandelt wurden. Danach begann sie, sich Gedanken über die Politik zu machen, und verstand nun auch die Aussage ihres Vaters nach der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler, dass sich nunmehr alles ändern werde.

Um ein Studium antreten zu können, leistete Jahn von April bis Oktober 1939 in der Nähe der deutsch-polnischen Grenze ihren Arbeitsdienst auf einem Bauernhof ab. Im Februar 1940 begann sie in München ein Chemiestudium am Staatslabor der Universität München, das seit 1927 unter der Leitung des Nobelpreisträgers Heinrich Wieland stand. Auf Grund der NS-Vorgaben durften Juden nicht mehr studieren. Wieland setzte sich über das Verbot hinweg und ermöglichte jüdischen und sogenannten halbjüdischen Kommilitonen dennoch den Universitätsbesuch. In diesem Umfeld, das aber auch Studenten kannte, die in NS-Uniformen zum Studium erschienen, lernte Jahn um die Jahreswende 1941/1942 Hans Leipelt kennen.[4] Das gemeinsame Interesse an Fragen der Literatur machte sie zunächst zu Freunden, dann zu einem Liebespaar. Hans Leipelt, der in Hamburg wohnte, dort jedoch nicht mehr studieren konnte, besaß viele zu seiner Zeit verbotene Bücher. Da seine Mutter Jüdin war, galt er nach den rassistischen Nürnberger Gesetzen als Jüdischer Mischling.

Marie-Luise Jahn erhielt nach der Hinrichtung der Geschwister Scholl und Christoph Probsts im Februar 1943 das sechste Flugblatt der Weißen Rose mit der Post, in dem das genaue Kriegsgeschehen geschildert wurde. Jahn und Leipelt trafen sich jeden Abend im Englischen Garten in München, um ohne Ohrenzeugen offen reden zu können oder von Regimetreuen an die Gestapo verraten zu werden. Sie entschlossen sich, auf der Basis des Flugblattes, zum gemeinsamen Handeln, obschon sie zuvor nichts über die „Weiße Rose“ wussten oder auch nur Wissen um das Werk der Geschwister Scholl besaßen. Einzig, dass beide hingerichtet wurden, war ihnen bekannt. Sie tippten das sechste Flugblatt mit der ergänzten Überschrift „…Und ihr Geist lebt trotzdem weiter!“ ab und begannen es in Hamburg zu verbreiten, um die Bevölkerung über den wirklichen Verlauf des Krieges aufzuklären. Im April 1943 gaben sie den Text an ihre Freunde Karl Ludwig Schneider, Heinz Kucharski und Margaretha Rothe weiter. Zudem beschlossen beide, für die Witwe und die Kinder des hingerichteten Kurt Huber Geld zu sammeln. Diese Sammelaktion wurde später der Gestapo bekannt.

Am 8. Oktober 1943 wurde Hans Leipelt verhaftet, zehn Tage später auch Jahn. Warnungen, sie solle nach Leipelts Verhaftung ins Ausland fliehen, hatte sie nicht befolgt, weil sie sich nicht vorstellen konnte, wie sie dort hätte leben sollen. Beim Verhör wurden ihr die eigenen Briefe, die sie an Hans geschrieben hatte, vorgelegt, so dass ein Abstreiten ihrer Regimekritik unmöglich wurde. Am 13. Oktober 1944 fand in Donauwörth der Prozess gegen Leipelt und Jahn statt. Die Anklage lautete: „Vorbereitung zum Hochverrat in Tateinheit mit Wehrkraftzersetzung, Feindbegünstigung und Rundfunkverbrechen.“ Nur Jahn hatte einen Anwalt, der ihr von einem Bekannten vermittelt worden war. Leipelt bat den Juristen, die gesamte Verantwortung für die Widerstandshandlungen auf ihn zu schieben, um Marie-Luise Jahns Leben zu retten. Den Ausführungen des Anwalts, der Jude Leipelt habe das Mädchen verführt und in die Irre geleitet, widersprach sie nicht. Dass es für ihn auf Grund seiner jüdischen Abstammung keine Chance mehr gab, wusste er. Er wurde am 29. Januar 1945 hingerichtet. Nachdem auch Wieland als Entlastungszeuge aufgetreten war, wurde Marie-Luise Jahn zu zwölf Jahren Zuchthaus verurteilt.[5]

Im Gefängnis von Aichach, in dem sie von Oktober 1943 bis Mai 1945 einsaß, war sie mit anderen politischen Gefangenen in Kontakt. Jedoch konnte sie die Berichte, die ihr aus den Konzentrationslagern gelegentlich zugetragen wurden, nicht glauben. Am 29. April 1945 befreiten US-Soldaten das Zuchthaus. Nach ihrer Entlassung war ihr der Weg in die alte Heimat, die von sowjetischen Truppen besetzt war, versperrt. Mit Mühe erlangte sie eine Arbeitsstelle – sie galt noch immer als Hochverräterin – bei einer US-amerikanischen Behörde in Bayreuth. Sie studierte Medizin an der Universität Tübingen und promovierte 1953.

Seit ihrer Eheschließung mit dem Chemiker Hans Schultze hieß sie Marie-Luise Schultze-Jahn. 1954 trennte sich das Ehepaar. Im Juni 2010 starb Marie-Luise Schultze-Jahn mit 92 Jahren in Bad Tölz, wo sie bis 1988 als Ärztin in eigener Praxis tätig war.

Ehrungen und Auszeichnungen

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Blaues Straßenschild mit weißer Schrift "Marie-Luise-Jahn-Str.". Das Schild ist an einem runden Holzpfahl angebracht, dahinter sieht man ein graues Gebäude.
Straßenschild der Marie-Luise-Jahn-Straße im Münchner Stadtteil Freiham

Mitte Juli 2002 wurde ihr der Bayerische Verdienstorden verliehen. 2019 wurde eine Straße in München nach ihr benannt.[6] Im Oktober 2020 wurde ein sonderpädagogisches Förderzentrum in Bad Tölz in Marie-Luise-Schulze-Jahn-Schule umbenannt.[7]

Aktivitäten in Organisationen des Gedenkens

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Sie war 1987 bis 2002 Vorstandsmitglied der Weißen Rose Stiftung. 2002 schied sie als Schatzmeisterin nach Streitigkeiten mit der Geschäftsführung aus dem Vorstand der Weißen Rose Stiftung aus[8] und zählte im Mai 2003 zu den Gründungsmitgliedern des Vereins Weisse Rose Institut e. V. 1988 gab sie ihre internistische Praxis in Bad Tölz (seit 1969) auf und widmete sich ganz dem Erinnern und Mahnen durch Zeitzeugeninterviews vor allem in Schulen[9] – aber auch in Kirchen. Sie setzte sich für ein Todesmarsch-Denkmal an der Mühlfeldkirche in Bad Tölz ein und regte an, mit „Ge(h)denksteinen“ im Stadtbild an ehemalige jüdische Mitbürger zu erinnern.

  • Marie-Luise Schultze-Jahn (unter Mitarbeit von Anne-Barb Hertkorn): … und ihr Geist lebt trotzdem weiter! 2. Auflage. Metropol Verlag, Berlin 2004, ISBN 3-936411-25-5 (Bibliothek der Erinnerung, Band 10)
  • Zeitzeugeninterview mit Dr. Marie-Luise Schultze-Jahn am 4. Dezember 2008 in Bad Tölz, Gymnasium München-Fürstenried im Rahmen des Geschichtswettbewerbs des Bundespräsidenten. Gespräche dokumentiert durch Video-Mitschnitt der Ludwig-Maximilians-Universität München, Abteilung: Didaktik der Geschichte.
  • Helga Pfoertner: Mahnmale, Gedenkstätten, Erinnerungsorte für die Opfer des Nationalsozialismus in München 1933–1945, Mit der Geschichte leben, Band 2, I bis P. Literareon, Herbert Utz Verlag, München, 2003, ISBN 3-8316-1025-8, zu Aktivitäten Marie-Luise Jahns S. 161, 166–172 ns-dokumentationszentrum-muenchen.de (Memento vom 16. Dezember 2011 im Internet Archive) (PDF; 4,0 MB)
  • Hans-Ulrich Wagner (Hrsg.): Hans Leipelt und Marie-Luise Jahn – Studentischer Widerstand in der Zeit des Nationalsozialismus am Chemischen Staatslaboratorium der Universität München. Garnies, Haar/München 2003.
  • Rengha Rodewill: Die Pappenheims – Aus den Tagebüchern einer Berliner Familie 1910–1920, Friedrich Fröbel, Maria Montessori – Revolutionäre Ideen von Kindheit, artesinex verlag, Berlin 2022, ISBN 978-3-9821614-1-9, S. 68–69 (PDF)

Filmdokumentation

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Einzelnachweise

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  1. Sandlack/Sedlawki auf ostpreussen.net; abgerufen am 27. Juni 2010.
  2. Amtsbezirk Kinkheim/Gut Sandlack auf territorial.de; abgerufen am 27. Juni 2010.
  3. Zeitzeugin der „Weißen Rose“: Marie-Luise Schultze-Jahn ist tot. In: Süddeutsche Zeitung, Regionalausgabe Dachau, 23. Juni 2010; abgerufen am 27. Juni 2010.
  4. Süddeutsche Zeitung: Von der Zeitzeugin zur Zirkus-Direktorin. Abgerufen am 10. Dezember 2020.
  5. Süddeutsche Zeitung: "Die Widerständigen". Abgerufen am 10. Dezember 2020.
  6. Stadtverwaltung München, Kommunalreferat: Straßenneubenennung Marie-Luise-Jahn-Straße. Archiviert vom Original am 12. Mai 2021; abgerufen am 12. Mai 2021.
  7. Schule in Bad Tölz bekommt den Namen einer Widerstandskämpferin In: merkur.de, Münchener Zeitungs-Verlag GmbH & Co. KG, 1. Juli 2020. Abgerufen am 30. Dezember 2023 
  8. Michael Stiller: Weiße Rose, gezaust. In: Süddeutsche Zeitung, 24. August 2002
  9. Marie-Luise Jahn über ihr Engagement für die „Weiße Rose“ auf merkur-online.de
  10. Raimund Gerz: Kritik zu Die Widerständigen: Also machen wir das weiter. epd Film, 20. April 2015, abgerufen am 26. April 2021.