Matilda-Effekt

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Der Matilda-Effekt beschreibt die systematische Verdrängung und Leugnung des Beitrags von Frauen in der Wissenschaft, deren Arbeit häufig ihren männlichen Kollegen zugerechnet wird. Der Effekt wurde 1993 von der Wissenschaftshistorikerin Margaret W. Rossiter postuliert.[1] Benannt ist er nach der US-amerikanischen Frauenrechtlerin Matilda Joslyn Gage, die am Ende des 19. Jahrhunderts dieses Phänomen als Erste allgemein beschrieben hat.[2] Der Matilda-Effekt ist das Pendant zum 1968 von Robert K. Merton beschriebenen Matthäus-Effekt, der die selbstverstärkte Anhäufung von Ansehen beschreibt und in Anspielung auf den ersten Abschnitt Matthäus 25,29 EU benannt wurde: „Denn wer da hat, dem wird gegeben, dass er die Fülle habe [...]“ (Matthäus 25,29 EU; aus dem Gleichnis von den anvertrauten Talenten). Mit diesem Begriff erfasste Robert K. Merton die Beobachtung, dass bekannte Wissenschaftler „eine Art ‚Ausstrahlungseffekt‘ [erfahren], wenn ihnen Arbeiten zugeschrieben werden, für die sie nicht (oder zumindest nicht ausschließlich) verantwortlich sind.“[3] Der Matilda-Effekt illustriert hingegen die zweite Hälfte des Zitats aus dem Matthäus-Evangelium: „… wer aber nicht hat, dem wird auch, was er hat, genommen werden“ (Matthäus 25,29 EU).[4]

Nach Margaret W. Rossiter geschieht die systematische Unterschlagung und damit zusammenhängend auch die fehlende Anerkennung von wissenschaftlichen Leistungen von Frauen in der Wissenschaftsgeschichte zum Beispiel durch die fehlende Erwähnung der Namen der Wissenschaftlerinnen bei gemeinsamen Buch- oder Aufsatzpublikationen mit anderen männlichen Kollegen, die Aneignung ihres geistigen Eigentums durch männliche Kollegen, ohne die Wissenschaftlerin als Quelle zu nennen, oder etwa durch „das Unterbieten, Ignorieren und Bagatellisieren der Präsenz von Frauen“[5] in der Wissenschaft.[6]

Der Matilda-Effekt soll mit einer gewissen statistischen Wahrscheinlichkeit auftreten und so auf eine patriarchal geprägte Wissenschaftsgeschichte hindeuten.

Bekannte Fälle

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  • Der wohl älteste bekannte Fall des Matilda-Effekts betrifft die Philosophin und Mathematikerin Theano, die im 6. Jahrhundert vor Christus gelebt hat und die Frau von Pythagoras war. Obwohl sie zu einem Teil seiner Erkenntnisse beigetragen hat, wurde schlussendlich alles als seine Arbeit deklariert. Es wird nicht mehr geklärt werden können, wie hoch auch der Anteil der beiden Töchter Myia und Damo tatsächlich war, denen zumindest einige Schriften zugeordnet werden konnten.[7] Bei der Tradition über Pythagoras und seiner Schule ist aber vieles aufgrund der lückenhaften Quellenlage unsicher und spekulativ.
  • Trotula, eine italienische Ärztin aus dem 11. Jahrhundert, schrieb Abhandlungen, die so bedeutend waren, dass sie im Verständnis der Zeitgenossen unmöglich von einer Frau stammen konnten: Schon ein Jahrhundert später erschienen Kopien ihrer Texte unter dem Namen ihres Mannes.[8] Noch im 20. Jahrhundert vertrat der Wissenschaftshistoriker Karl Sudhoff die These, dass Trotula eine Hebamme und keine Ärztin gewesen sei.[9]
  • Die Mathematikerin Pandrosion aus Alexandria, die sich mit klassischen Problemen der antiken Mathematik wie der Würfelverdopplung beschäftigte, wurde lange Zeit als Mann in der Wissenschaftsgeschichte geführt: Als Friedrich Hultsch im 19. Jahrhundert die Mathematischen Sammlungen des Pappos von Alexandria übersetzte, änderte er die Stellen, in denen Pandrosion als Autorin mit der weiblichen Anrede erwähnt wurde, mit einem männlichen Pronomen. Erst 1988 wurde dieser Fehler durch den englischen Übersetzer Alexander Raymond Jones korrigiert, der sich mit den griechischen Originalen befasst hatte.[10]

Beispiele aus der Neuzeit

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Der Matilda Effect auf einem Poster erklärt

In Resonanz auf Marie Curies Besuch in den USA 1921 schrieb ein Journalist der New York Times, dass es auch in Zukunft mehr Männer als Frauen in der Wissenschaft geben würde, da es letzteren an der Fähigkeit mangele, Fakten abstrakt statt nur relational zu sehen.[11]

Auch die Formulierung des Matthäus-Effekts selbst kann als durch den Matilda-Effekt beeinflusst angesehen werden: In einem Essay über den Matthäus-Effekt bemerkt Robert K. Merton, dass er selbst sich so intensiv auf Arbeiten seiner Mitarbeiterin und späteren Frau, der US-Soziologin Harriet Zuckerman, gestützt habe, dass der von ihm 1968 veröffentlichte Artikel The Matthew Effect in Science[12] unter ihrer beider Namen hätte veröffentlicht werden müssen und nicht nur unter seinem alleinigen Namen.[13]

Albert Einstein veröffentlichte eine Arbeit, die er als sein alleiniges geistiges Werk ausgab, nachdem er vorher angeblich gesagt hatte: Wie glücklich und stolz werde ich sein, wenn wir beide zusammen unsere Arbeit über die Relativbewegung siegreich zu Ende geführt haben, wobei die andere Hälfte des wir sich auf seine erste Frau Mileva Marić (1875–1948), die ebenfalls Physikerin und zudem Mathematikerin war, bezog. Wobei umstritten ist, ob dies ein Beweis für ihre Mitarbeit war.[14]

In den 1950er und 1960er Jahren forschte die Biochemikerin Rosalind Franklin zur Molekularstruktur von Ribonukleinsäure. Mit ihrer Grundlagenforschung schuf sie die Voraussetzung zur Aufklärung der Doppelhelixstruktur der DNA. Den Nobelpreis für die Entschlüsselung der DNA-Struktur erhielten 1962 jedoch nur James Watson und Francis Crick, die Forschungsdaten von Rosalind Franklin übernahmen, ohne die Wissenschaftlerin zu nennen oder sie darüber zu informieren.[15]

Auswahl einiger nachweislich Betroffener:

Mediale Darstellung echter und fiktiver Fälle

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Der Neurobiologe und Mediziner Ben Barres (1954–2017) veröffentlichte posthum seine Autobiografie The Autobiography of a Transgender Scientist, in der er hervorhebt, wie schwer es vor seiner Transition war, neben den männlichen Kollegen zu bestehen. Bereits zu Lebzeiten hatte er begonnen, sich öffentlich über den Sexismus in der Wissenschaft zu beklagen, u. a. indem er in Fachzeitschriften Artikel zu dem Thema veröffentlichte."[26]

In der US-amerikanischen Filmkomödie „Wer ist Mr. Cutty?“ von 1996 wird ein fiktiver Fall präsentiert. Whoopi Goldberg ist in der Rolle einer Investmentbankerin zu sehen, die einen Chef erfindet, um ihre Ideen vermarkten zu können.[27]

Der Film Hidden Figures – Unerkannte Heldinnen von 2016 erzählt von den drei afroamerikanischen Mathematikerinnen Katherine Johnson, Dorothy Vaughan und Mary Jackson, die maßgeblich am Mercury- und am Apollo-Programm der NASA beteiligt waren.

Der wahre Fall der Gehirnforscherin Marian Diamond, die zur Entdeckung der neuronalen Plastizität beigetragen hat, erschien 2017 als vielfach preisgekrönte Dokumentation unter dem Titel My Love Affair With the Brain.[28]

  • Margaret W. Rossiter: The Matthew Matilda Effect in Science. In: Social Studies of Science. Band 23, Nr. 2, 1993, S. 325–341, ISSN 0306-3127.
    • Margaret W. Rossiter: Der Matthäus Matilda Effekt in der Wissenschaft. In: Theresa Wobbe (Hrsg.): Zwischen Vorderbühne und Hinterbühne. Beiträge zum Wandel der Geschlechterbeziehungen in der Wissenschaft vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart. transcript, Bielefeld 2003, ISBN 3-89942-118-3, S. 191–210 (deutsch, online; PDF; 10,6 MB).
  • Robert K. Merton: Entwicklung und Wandel von Forschungsinteressen. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1985, ISBN 3-518-57710-7.
  • Anne E. Lincoln, Stephanie Pincus, Janet Bandows Koster, Phoebe S. Leboy: The Matilda Effect in science: Awards and prizes in the US, 1990s and 2000s. In: Social Studies of Science. Band 42, Nr. 2, 2012, S. 307–320.
  • Leonie Schöler: Beklaute Frauen. Denkerinnen, Forscherinnen, Pionierinnen: Die unsichtbaren Heldinnen der Geschichte. Penguin, München 2024, 416 Seiten, ISBN 978-3-328-60323-8.

Einzelnachweise

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  1. Margaret W. Rossiter: The Matthew Matilda Effect in Science. In: Social Studies of Science. Band 23, Nr. 2, 1993, S. 325–341.
  2. Siehe hierzu Margaret W. Rossiter: Der Matthäus Matilda Effekt in der Wissenschaft. In: Theresa Wobbe (Hrsg.): Zwischen Vorderbühne und Hinterbühne. Beiträge zum Wandel der Geschlechterbeziehungen in der Wissenschaft vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart. transcript, Bielefeld 2003, S. 191–210, hier S. 201–203.
  3. Margaret W. Rossiter: Der Matthäus Matilda Effekt in der Wissenschaft. In: Theresa Wobbe (Hrsg.): Zwischen Vorderbühne und Hinterbühne. Beiträge zum Wandel der Geschlechterbeziehungen in der Wissenschaft vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart. transcript, Bielefeld 2003, S. 191–210, hier S. 191.
  4. Vgl. Margaret W. Rossiter: Der Matthäus Matilda Effekt in der Wissenschaft. In: Theresa Wobbe (Hrsg.): Zwischen Vorderbühne und Hinterbühne. Beiträge zum Wandel der Geschlechterbeziehungen in der Wissenschaft vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart. transcript, Bielefeld 2003, S. 191–210, hier S. 204.
  5. Margaret W. Rossiter: Der Matthäus Matilda Effekt in der Wissenschaft. In: Theresa Wobbe (Hrsg.): Zwischen Vorderbühne und Hinterbühne. Beiträge zum Wandel der Geschlechterbeziehungen in der Wissenschaft vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart. transcript, Bielefeld 2003, S. 191–210, hier S. 197.
  6. Vgl. Margaret W. Rossiter: Der Matthäus Matilda Effekt in der Wissenschaft. In: Theresa Wobbe (Hrsg.): Zwischen Vorderbühne und Hinterbühne. Beiträge zum Wandel der Geschlechterbeziehungen in der Wissenschaft vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart. transcript, Bielefeld 2003, S. 191–210, besonders S. 197–200.
  7. Biographies of Women in Mathematics. Theano c. 6th Century B.C. Abgerufen am 22. September 2021.
  8. Margaret Alic: Hypatias Töchter. Der verleugnete Anteil der Frauen an der Naturwissenschaft. Unionsverlag, Zürich 1987, ISBN 3-293-00116-5, S. 63–68.
  9. Trota von Salerno. In: frauenfiguren.de. Abgerufen am 28. April 2024.
  10. Vgl. Leena M. Peters: frauenfiguren. Pandrosion (Blog frauen in geschichten und geschichte), Stand: 2020.
  11. Margaret Rossiter: Women Scientists in America. Johns Hopkins University Press, Baltimore 1982, S. 127; Naomi Oreskes: Objectivity or Heroism? On the Invisibility of Women in Science. In: Osiris Band 11, 1996, S. 87–113, hier S. 103, JSTOR:301928.
  12. Robert K. Merton: The Matthew Effect in Science: The reward and communication systems of science are considered. In: Science. Band 159, Nr. 3810, 1968, S. 56–63, doi:10.1126/science.159.3810.56.
  13. Robert K. Merton: Entwicklung und Wandel von Forschungsinteressen. Aufsätze zur Wissenschaftssoziologie. Mit einer Einleitung von Nico Stehr. Übersetzt von Reinhard Kaiser. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1985, ISBN 3-518-57710-7, S. 345.
  14. Mileva Marić: Die (fast) vergessene Einstein Universität Heidelberg. Abgerufen am 25. Januar 2023.
  15. Vgl. Johanne Burkhardt: Wie Rosalind Franklin um den Nobelpreis betrogen wurde – Vergessene Entdeckerin der DNA-Struktur. Audiodatei vom 6. Oktober 2024, SWR Kultur „Das Wissen.“ [besonders ab 15 min]
  16. a b c d e f Sandra Pérez: Combat the Matilda effect! Ten female scientists you should know. Open University of Catalonia. 10. Februar 2022, abgerufen am 27. Februar 2024.
  17. a b c Lisa Lamm: Der Matilda-Effekt: Wie Frauen in der Wissenschaft unsichtbar werden. In: National Geographic. 10. Februar 2023, abgerufen am 28. April 2024.
  18. a b c Pionierinnen der Wissenschaft. 5 Frauen, die du unbedingt kennen solltest. In: egoFM. 6. November 2023, abgerufen am 27. Februar 2024.
  19. Marilyn Bailey Ogilvie, Clifford J. Choquette: Nettie Maria Stevens (1861-1912): Her Life and Contributions to Cytogenetics. In: Proceedings of the American Philosophical Society. Band 125, Nr. 4, 1981, S. 292–311, JSTOR:986332.
  20. Demetrios Matsakis, Anthea Coster, Brenda Laster, Ruth Sime: A renaming proposal: “The Auger–Meitner effect”. In: Physics Today. Band 72, Nr. 9, 2019, S. 10–11, doi:10.1063/PT.3.4281 (englisch).
  21. Ruth Lewin Sime: Marietta Blau in the history of cosmic rays. In: Physics Today. Band 65, Nr. 10, 2012, S. 8, doi:10.1063/PT.3.1728.
  22. Margaret W. Rossiter: Der Matthäus Matilda Effekt in der Wissenschaft. In: Theresa Wobbe (Hrsg.): Zwischen Vorderbühne und Hinterbühne. Beiträge zum Wandel der Geschlechterbeziehungen in der Wissenschaft vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart. transcript, Bielefeld 2003, ISBN 3-89942-118-3, S. 191–210, hier S. 196 (online; PDF; 10,6 MB).
  23. Beryl Lieff Benderly: Rosalind Franklin and the damage of gender harassment. In: science.org. 1. August 2018, abgerufen am 30. April 2024.
  24. a b c Stanley Falkow: Remarks for the Memorial Service in Honor of Esther Lederberg. 2006 (estherlederberg.com [abgerufen am 28. April 2024] Trauerrede für Esther Lederberg).
  25. Suzie Sheehy: How a forgotten physicist’s discovery broke the symmetry of the Universe. In: Nature. Band 625, Nr. 7995, 18. Januar 2024, ISSN 0028-0836, S. 448–449, doi:10.1038/d41586-024-00109-5 (nature.com [abgerufen am 27. Juli 2024]).
  26. Marc Freeman: Ben Barres: neuroscience pioneer, gender champion. In: nature.com. 22. Oktober 2018, abgerufen am 28. April 2024.
  27. Wer ist Mr. Cutty? Originaltitel: The Associate. In: Internet Movie Database. Abgerufen am 5. Januar 2023.
  28. My Love Affair With the Brain. The Life and Science of Dr. Marian Diamond. Luna Productions, abgerufen am 7. Oktober 2024.