Moral und Sinnlichkeit
Film | |
Titel | Moral und Sinnlichkeit |
---|---|
Originaltitel | Keimendes Leben, 3. Teil |
Produktionsland | Deutschland |
Erscheinungsjahr | 1919 |
Länge | 5 Akte, 1775 Meter, bei 18 BpS 86 Minuten |
Stab | |
Regie | Georg Jacoby |
Drehbuch | Paul Meissner |
Produktion | Paul Davidson, PAGU |
Kamera | ? |
Besetzung | |
|
Moral und Sinnlichkeit (“Keimendes Leben III”) lautete der Titel eines Stummfilms, den Georg Jacoby 1919 für die Projektions-AG »Union« (PAGU) (Berlin) des Produzenten Paul Davidson realisierte. Das Drehbuch schrieb er zusammen mit Dr. Paul Meissner. Mit Darstellern wie Erika Glässner, Hanna Ralph, Käthe Dorsch und Harry Liedtke war der Film besetzt. Er muss heute „aller Wahrscheinlichkeit nach“[1] als verschollen gelten.
Handlung
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]„Der Bildstreifen schildert die Geschichte eines Mädchens, die Mutter werdend, einen Arzt um Befreiung von der Mutterschaft bittet. Der Arzt lehnt ab. “Wenn mir der berufenste Helfer, der Arzt, nicht helfen kann, dann muss ich, wie so viele andere, mir die Hilfe anderswo suchen” (Akt III Titel 15, 16). Der Arzt erzählt, um sie von diesem Weg zu bewahren, ein Erlebnis:
Ein in Berliner Halbweltsumgebung geratenes unerfahrenes Mädchen wird verführt, im Stich gelassen und wendet sich an eine “geschickte Frau”. Der von der Reise zurückkommende Liebhaber kommt zu spät, um an dem Krankenlager des Mädchens zu erklären, dass er sich ein Kind ersehnt habe, und erschießt sich aus Eckel.
Ein halbes Jahr später stellt sich als Folge des unsachgemäßen Eingriffs ein unheilbares Leiden heraus. In einem Kuraufenthalt trifft das Mädchen einen Mann, der sie liebt und sie, ohne Rücksicht auf ihre Vergangenheit, heiraten will. Vor der Hochzeitsnacht erfährt sie, dass sie infolge des Eingriffs nicht mehr Mutter werden kann. Die Bemerkung des ahnungslosen Bräutigams, dass er nur die Frau verdamme, die aus Leichtsinn oder Bequemlichkeit ihr von der Natur geschenktes Glück vernichte, veranlasst sie zum Selbstmord.
Mit dieser Erzählung und einer nochmaligen Warnung entlässt der Arzt die Ratsuchende. (Inhaltsangabe aus der Niederschrift der Film-Oberprüfstelle No. 139 vom 15. April 1925)[2]
Hintergrund
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Der Film war die Produktion No. 498 der Projektions-AG »Union« PAGU Berlin. Der Kameramann ist nicht überliefert, der Architekt war Kurt Richter.
"Moral und Sinnlichkeit" lag im März 1919 der Zensurbehörde vor. Währen ihn die Polizei Berlin mit der Auflage eines Jugendverbotes unter der Nr. 42999 freigab, woraufhin er in Berlin am 6. Juni 1919 erstaufgeführt wurde[3], verbot die Polizei München unter den Nrr. 32735, 32736, 32737, 32738 u. 32739 die Aufführung ganz. Auch die Reichsfilmzensur schloss sich später unter den Nrr. B.10800/19 und B.10809/19 dem vollständigen Verbot an.[4]
“Moral und Sinnlichkeit” wurde inoffiziell auch als 3. Teil des zweiteiligen Films “Keimendes Leben” gehandelt. Er musste mehrmals umgearbeitet werden, um durch die Zensur zu kommen, die schließlich über den ursprünglichen Gedanken, die Kritik am § 218, obsiegte.[5] Als „Muss die Frau Mutter werden? (§ 218)“[6] wurde er 1924 erneut vorgelegt und kam schließlich nach weiterer Umarbeitung 1925 mit dem mahnenden neuen Titel[7] „Frauen, hütet Euere Mutterschaft!“ in den Verleih.[8]
Rezeption
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Der Film wird erwähnt[9] in :
- Der Film No. 22, 1919
- Deutsche Lichtspielzeitung No. 28, 1919
- Filmtechnik No. 3, 1919
- Kinematograph No. 647, 1919
- Luckenwalder Zeitung, 12.06.1919
und ist registriert bei
- Lamprecht Vol. 19 No. 402
- Birett, Verzeichnis in Deutschland gelaufener Filme, (München) No. 277, 1919, (München) No. 279, 1919, (München) No. 455, 1919 und (München) No. 563, 1919
Am 6. Juni 1919 kam der Aufklärungsfilm „Moral und Sinnlichkeit“ in die Berliner und Friedenauer Kinos. In den Juli-Ausgaben des Friedenauer Lokalanzeigers war er das beherrschende Thema.[10]
Zuschrift vom 7.7. 1919 von Dr. med. Sch.:
„Diesen Film sah ich mir am Sonnabend im Rheinschloß an. Er schildert mit plastischer Deutlichkeit die sexuellen Vorgänge und ihre Wirkungen, zuweilen bis an die äußerste Grenze des Möglichen. Natürlich tritt darin der Hauptdarsteller, der bekannte „Sexualpathologe“ und ausgekochte Wüstling, Dr. Weise, in seinem nur aus Päderasten und Urningen (siehe Krafft–Ebing, Psychopathia sexualis) bestehenden „Klub der Freunde“ für die Abschaffung des sattsam bekannten §175 Str. G. B. ein. Als Arzt bin ich wirklich nicht prüde, allein ich muss bekennen, alles in allem ein starker Tabak, so stark, dass ein Herr während der Vorstellung laut in den Saal hineinrief: „Es ist ein Skandal, dass sich das Publikum solche Schweinereien gefallen lässt“...“
Zuschrift vom 12.7. 1919 von L.Z.
„Ist es nicht tief bedauerlich, dass gerade die so genannten Aufklärungsfilme soviel Zuspruch haben [...] Es ist die Höhe und ein Skandal, die Scham- und Zornesröte steigt einem ins Gesicht, wenn man vor solcher Lein-wand sitzt. Ich sage: Weg mit den Aufklärungsfilmen!“
Zuschrift am 16.7.1919 vom Vorstand des Bürgerrats von Friedenau:
„Der Bürgerrat bleibt bei der Absicht, die gesamte anständig empfindende Bürgerschaft Friedenaus zur Selbsthilfe aufzufordern, und er wird alle anständigen Menschen ersuchen, jedes Kino, das nach dem 18. Juli noch „Aufklärungsfilme“ und sonstige auf sexuelle Instinkte spekulierende Schundvorstellungen aufs Programm zu setzen wagt, fortan zu meiden!“
Am 6. Juni 1919 lief „Moral und Sinnlichkeit“ auch in Dresden in den Prinzeß-Lichtspielen (auch Prinzess-Theater) in der Prager Straße 52 am Hauptbahnhof.[11]
Literatur
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]- Herbert Birett : Stummfilmmusik. Materialsammlung. Deutsche Kinemathek Berlin 1970.
- Herbert Birett : Verzeichnis in Deutschland gelaufener Filme. Entscheidungen d. Filmzensur Berlin, Hamburg, München, Stuttgart 1911–1920. München: Saur 1980.
- Malte Hagener : Geschlecht in Fesseln: Sexualität zwischen Aufklärung und Ausbeutung im Weimarer Kino 1918–1933. Edition Text + Kritik, 2000. ISBN 978-3-88377-643-9, 179 Seiten.
- Stefanie Hetze : Happy-End für wen?: Kino und lesbische Frauen. Verlag Tende, 1986. ISBN 978-3-88633-076-8. Länge 190 Seiten, hier S. 16, 32 u. 182.
- Joachim Stephan Hohmann : Sexualforschung und -aufklärung in der Weimarer Republik: eine Übersicht in Materialien und Dokumenten mit einem Beitrag über den frühen Aufklärungsfilm. Verlag BRD, 1985. ISBN 978-3922257783 - 300 Seiten, hier S. 44, 64, 209 u. 244.
- Ursula von Keitz : Im Schatten des Gesetzes: Schwangerschaftskonflikt und Reproduktion im deutschsprachigen Film 1918 bis 1933. Verlag Schüren, 2005. ISBN 978-3894725136 - 416 Seiten, hier S. 83, 153 u. 405.
- Gerhard Lamprecht: Deutsche Stummfilme, Bde. 1-8 und Gesamtregister: Deutsche Stummfilme aus den Jahren 1903 bis 1931. Deutsche Kinemathek, Berlin 1970. Band 5: "1919", S. 402.
- Joachim Linder, Claus-Michael Ort : Verbrechen - Justiz - Medien: Konstellationen in Deutschland von 1900 bis zur Gegenwart. Verlag Walter de Gruyter, 14.02.2012. ISBN 978-3-11-094476-1 - 553 Seiten.
- Klaus Petersen : Zensur in der Weimarer Republik. Verlag J.B. Metzler, 1995. ISBN 978-3476012937 - 346 Seiten.
- Hartmut Ulrich : Moral und Sinnlichkeit. Aus dem Archiv vor 100 Jahren. In: Stadtteilzeitung Schöneberg 3.07.2019, Rubrik “Menschen in Schöneberg”, bei nbhs.de
- Cornelie Usborne : Cultures of Abortion in Weimar Germany (= Band 17 von Monographs in German History) Verlag Berghahn Books, 2007. ISBN 978-0857453624 - 296 Seiten, hier S. 204 ist der Titel als “Moral und Sittlichkeit” missverstanden.
- Friedrich von Zglinicki : Der Weg des Films. Geschichte der Kinematographie und ihrer Vorläufer. Berlin: Rembrandt Verlag 1956. 677 Seiten, hier S. 560.
Weblinks
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]- Moral und Sinnlichkeit bei IMDb
- Moral und Sinnlichkeit bei filmportal.de
- Moral und Sinnlichkeit bei The German Early Cinema Database, DCH Cologne. #26907
Einzelnachweise
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]- ↑ so Von Keitz S. 405
- ↑ PDF Dif-Archiv
- ↑ so IMDb/releaseinfo, GECD gibt an „Screening: 13.06.1919“.
- ↑ Lindner-Ort S. 382: UA.: ?
- ↑ vgl. Usborne, Cultures S. 204: „„Frauen hütet euere Mutterschaft / Women guard your motherhood“: As this title suggests, the censors not only had succeeded in destroying the anti-§218 message of the original script but also in bending it into its opposite meaning.“
- ↑ vgl. filmportal.de und die Zensurbescheide bei DIF-Archiv
- ↑ vgl. Petersen, Zensur S. 269: „Für “Muß die Frau Mutter werden?” verlangte die Oberprüfstelle 1925 die Änderung des Titels in: »Frauen hütet eure Mutterschaft«.“
- ↑ so Lindner-Ort S. 364 Anm. 32 ; vgl. von Keitz S. 405: “Die Beschreibung der Handlung dieses letzten (aller Wahrscheinlichkeit nach nicht erhaltenen) Teils von “Keimendes Leben” muss sich im Wesentlichen auf drei Zensurdokumente von 1925 stützen. [Abb. 23a-d: Standfotos aus Teil 3, 1919. 49 Ebd. 50] Die Ufa hat allerdings Teile von “Moral und Sinnlichkeit” wiederverwendet, um sie in eine im Herbst 1924 neu gedrehte, didaktische Rahmenhandlung zu integrieren.”
- ↑ Angaben nach GECD #26907
- ↑ vgl. Ulrich, Stadtteilzeitung, 3.07.2019
- ↑ Erstaufführungstheater mit 890 Sitzplätzen, vgl. isgv.de