Nothafenrecht
Das Nothafenrecht ist ein Teil des Völkergewohnheitsrechts, das den Anspruch des Flaggenstaates eines in Seenot geratenen Schiffes auf Zugang zu einem fremden Hafen oder Liegeplatz und gewisse Einschränkungen der Legislativ- und Exekutivgewalt des Küstenstaates und auf sonstige Hilfeleistungen begründet.[1]
Seenot als Ausnahmezustand
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Seenot liegt vor, wenn aus Sicht des Kapitäns bei pflichtgemäßer Ermessensausübung eine unüberwindliche und zwingende Notlage mit Gefahr für Schiff, Ladung oder darauf befindliche Menschen besteht.[2] Dabei ist die Ursache unerheblich. Auch von der Besatzung verursachte oder verschuldete Notlagen stellen tatbestandlich eine Seenot dar. Diese ist ein Unterfall der Rechtsprinzipien des Notstands (distress) bei Lebensgefahr und der Notwendigkeit (necessity) bei sonstigen Gefahren, wenn zu ihrer Behebung Rechtsgüter Dritter beeinträchtigt werden.[3] Ein Nothafen (auch Schutzhafen, englisch port of refuge) ist ein Schiffsliegeplatz für ein in Seenot befindliches Schiff. Ein solcher Notliegeplatz kann auch ein inneres Gewässer, eine vorgelagerte Reede oder ein anderer geschützter Ankerplatz sein. Deshalb wird im Rahmen der EU und der internationalen Schifffahrtsorganisation IMO von Notliegeplätzen (places of refuge) gesprochen.[4]
Geschichte
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Häfen sind Hoheitsgebiete des jeweiligen Küstenstaates und konnten daher schon immer mit Ein- und Auslaufbeschränkungen oder -verboten belegt werden.
Häfen in Notfällen anlaufen zu dürfen, ohne vorher um Erlaubnis zu fragen, ist ein historisches Recht, das bereits existierte, als die ersten Segelschiffe in internationalen Gewässern verkehrten. Nur in Häfen oder Küstennähe kann das Schiff ausgebessert und versorgt werden und ist nicht den Naturgewalten der hohen See ausgeliefert. Das Nothafenrecht beruht auf dem Ausnahmezustand von Notstand (Gefahr für das Leben) oder Notwendigkeit (sonstige Gefahren) bei Seenot, das dem Kapitän des Schiffes das Anlaufen eines geeigneten Hafens ermöglicht. Seenot liegt dabei vor, wenn aus Sicht des Kapitäns bei pflichtgemäßer Ermessensausübung eine unüberwindliche und zwingende Notlage mit Gefahr für Schiff, Ladung oder darauf befindliche Menschen besteht.[5] Der Ausnahmetatbestand beschränkt die souveräne Entscheidungsfreiheit des betroffenen Küsten- oder Hafenstaates zum Zugang fremder Schiffe in seine Hoheitsgewässer und die Legislativ- und Exekutivgewalt über in Seenot eingelaufene fremde Schiffe.[6]
Aus dem 18., 19. und frühen 20. Jahrhundert ist kein Fall bekannt, in dem einem Schiff in Seenot die Hafeneinfahrt verweigert worden wäre.[7] Im Fall der Notwendigkeitsseenot, wenn also keine Menschenleben auf dem Schiff gefährdet sind, besteht ein Ermessensspielraum für den Küstenstaat. Alternative Hilfsmaßnahmen wie Leichterung auf See aber auch Abwehrmaßnahmen wegen der Gefahr von Umweltschäden, Seuchenausbreitung, radioaktiver Kontaminierung usw. liegen dabei im Ermessenspielraum des Küstenstaates.[8] Bei einer Notstandsseenot (Gefährdung von Leben auf dem Schiff) kann vom Küstenstaat nur eine gleichwertige Gefahr, also eine Gefährdung von Menschenleben im Hafenstaat, entgegen gehalten werden.[9]
Um die Jahrtausendwende kam es zu mehreren spektakulären Seenotfällen, bei denen der Nothafenzugang in Abwägung mit der Gefährdung des Küstenstaates jeweils verweigert wurde. Die havarierten Schiffe waren Pallas (1998 Umweltschäden im Wattenmeer), Erika (1999 Tankerhavarie in der Bretagne), Castor (2000 Tankerhavarie vor Spanien), Tampa (2001 vor Australien) und Prestige (2002 Tankerhavarie vor Spanien) mit teilweise verheerenden Umweltschäden.[10]
2003 verabschiedete die Internationale Seeschifffahrts-Organisation (IMO) daraufhin Richtlinien für den Umgang von Nothäfen („Places of Refuge“) mit Schiffen, die Hilfe benötigen.[11] Der Umgang mit Schiffen in Seenot, bei denen Menschenleben in Gefahr sind, ist im SAR-Übereinkommen geregelt. Wenn ein Schiff Unterstützung benötigt, aber keine Menschenleben in Gefahr sind, greift die IMO-Richtlinie für Nothäfen.[12] Besonderes Augenmerk legt die Richtlinie auf den Umgang mit umweltgefährdenden Notlagen wie lecken Tankern, auch eine Folge der Fälle Erika (1999), Castor (2000) und Prestige (2002).[13] Die Europäische Union setzte die IMO-Richtlinie im europäischen Recht 2009 mit dem ERIKA-III-Paket um.[14]
Nachdem in 2012 die havarierten MSC Flaminia und die MT Stolt Valor aufgrund befürchteter Umweltschäden wochenlang keine Notliegeplätze anlaufen durften, erarbeitete die EU mit der European Maritime Safety Agency (EMSA) bis 2016 neue operative Richtlinien.[15]
Deutschland
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Das Nothafenrecht ist im deutschen Recht anerkannt. Seit dem Jahr 2005 ist gesetzlich festgelegt, dass der Leiter des Havariekommandos bei Streitigkeiten bezüglich der Zuweisung eines Notliegeplatzes eine Entscheidung fällt, die von allen beteiligten Seiten angenommen und umgesetzt werden muss. Dazu stehen ihm für seine Entscheidung 40 Notliegeplätze (Ankerplätze und Häfen) zur Verfügung.[16]
Italien
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Für internationale Aufmerksamkeit sorgte im Juni und Juli 2019 der Rettungseinsatz der Sea-Watch 3, bei dem 53 Menschen vor der Küste von Libyen gerettet wurden. Der von libyschen Behörden angebotene Hafen in Tripolis kam ebenso wie andere libysche Häfen für die Aktivisten aufgrund der dortigen Menschenrechtslage nicht in Betracht. Man entschied sich, das italienische Lampedusa anzufahren. Italien untersagte es der Sea-Watch 3, seine Hoheitsgewässer zu befahren. Dieses Verbot befolgte die Kapitänin des Schiffs, Carola Rackete für etwa zwei Wochen, während derer ihr von der italienischen Regierung medizinische Unterstützung, einschließlich medizinisch bedingter Evakuierungen zugestanden wurde. Dann missachtete sie das Verbot mit dem Verweis, es liege auf dem Schiff eine akute Notlage vor und der Hafen von Lampedusa sei der nächstgelegene Nothafen. Daraufhin entbrannte ein Streit, inwieweit Italien das Manöver der Sea-Watch 3 zu dulden hatte.[17][18] Nachdem Rackete zunächst verhaftet und unter Hausarrest gestellt worden war, entschied am 3. Juli 2019 eine Ermittlungsrichterin, Rackete habe in Erfüllung einer Pflicht gehandelt und sei deswegen freizulassen.[19]
Weblinks
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]- Resolution A.949(23) Guidelines on Places of Refuge for Ships in Need of Assistance, International Maritime Organization (IMO), 2003
- Resolution A.950(23) Maritime Assistance Services (MAS), International Maritime Organization (IMO), 2003
- Places of Refuge - EU Operational Guidelines, Februar 2018
- "Places of refuge" - addressing the problem of providing places of refuge to vessels in distress, International Maritime Organization (IMO), 2019
Literatur
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]- Aldo Chircop und Olof Linden (Hrsg.): Places of Refuge for Ships - Emerging Environmental Concerns of a Maritime Custom. BRILL 2005, ISBN 978-90-47-41764-4.
- Inken von Gadow-Stephani: Der Zugang zu Nothäfen und sonstigen Notliegeplätzen für Schiffe in Seenot. Geleitwort Rainer Lagoni. Berlin : Springer, 2006, ISBN 978-3-540-30518-7 Diss. Universität Hamburg, 2005
- Anthony P. Morrison: Places of Refuge for Ships in Distress: Problems and Methods of Resolution. Nijhoff Publishers, Leiden 2012, ISBN 978-90-04-21889-5. Diss. Universität Wollongong, 2011 (Vorschau bei Google Books)
- Wenzhi Yang: A study on the legal problems related to places of refuge. World Maritime University, 2006.
Quellen
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]- ↑ Inken von Gadow-Stephani: Der Zugang zu Nothäfen und sonstigen Notliegeplätzen für Schiffe in Seenot. Springer 2006, ISBN 978-3-540-30518-7, S. 209.
- ↑ Inken von Gadow-Stephani: Der Zugang zu Nothäfen und sonstigen Notliegeplätzen für Schiffe in Seenot. S. 236.
- ↑ Inken von Gadow-Stephani: Der Zugang zu Nothäfen und sonstigen Notliegeplätzen für Schiffe in Seenot. S. 329 f.
- ↑ Inken von Gadow-Stephani: Der Zugang zu Nothäfen und sonstigen Notliegeplätzen für Schiffe in Seenot. S. 62.
- ↑ Inken von Gadow-Stephani: Der Zugang zu Nothäfen und sonstigen Notliegeplätzen für Schiffe in Seenot. S. 236.
- ↑ Inken von Gadow-Stephani: Der Zugang zu Nothäfen und sonstigen Notliegeplätzen für Schiffe in Seenot. S. 330.
- ↑ Inken von Gadow-Stephani: Der Zugang zu Nothäfen und sonstigen Notliegeplätzen für Schiffe in Seenot. S. 270.
- ↑ Inken von Gadow-Stephani: Der Zugang zu Nothäfen und sonstigen Notliegeplätzen für Schiffe in Seenot. S. 295.
- ↑ Inken von Gadow-Stephani: Der Zugang zu Nothäfen und sonstigen Notliegeplätzen für Schiffe in Seenot. S. 297.
- ↑ Inken von Gadow-Stephani: Der Zugang zu Nothäfen und sonstigen Notliegeplätzen für Schiffe in Seenot. S. 325.
- ↑ International Maritime Organization (Hrsg.): Guidelines on Places of Refuge for Ships in Need of Assistance, Resolution A.949(23), verabschiedet am 5. Dezember 2003.
- ↑ Artikel 1.1, IMO-Resolution A.949(23)
- ↑ Anthony Morrison (Hrsg.): Places of Refuge for Ships in Distress: Problems and Methods of Resolution. Nijhoff Publishers, Leiden 2002, ISBN 978-90-04-21889-5, S. 28–37.
- ↑ ERIKA III – The third EU maritime safety package. In: Gard News Nr. 196, November 2009/Januar 2010 vom 1. November 2009.
- ↑ Places of Refuge: An overview. Safety4Sea, 21. Juni 2018, abgerufen am 5. September 2019.
- ↑ Havariekommando und Nothafenrecht im Rahmen des Unfallmanagement in Seenotfällen. 21. Oktober 2004, archiviert vom (nicht mehr online verfügbar) am 14. Juli 2018; abgerufen am 29. Januar 2024.
- ↑ LTO: Sea-Watch 3: Seenotrettung bei geschlossenen Häfen. Abgerufen am 6. Juli 2019.
- ↑ Christian Albustin, Anna Steinhaus: Rettungsaktion im Mittelmeer: Was an den Vorwürfen gegen die „Sea-Watch 3“ dran ist. Abgerufen am 6. Juli 2019.
- ↑ FOCUS Online: Sea-Watch-Kapitänin an sicherem Ort - Salvini tobt nach Richterspruch. Abgerufen am 6. Juli 2019.