Privacy Paradox

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Als Privacy Paradox (englisch für „Privatsphäre-Paradoxon“, auch „Privatheitsparadox“[1]) wird die Beobachtung bezeichnet, dass Menschen persönliche Informationen teilen, obwohl sie sich gleichzeitig große Sorgen um ihre Privatsphäre machen.[2] In den meisten Fällen handelt es sich dabei um das Teilen von Informationen im Internet, beispielsweise auf Sozialen Netzwerkseiten, beim Online-Einkauf, beim Nutzen von Smartphones oder Geräten aus dem Internet der Dinge. Zusammengefasst: Obwohl Personen in vielen Umfragen angeben, besorgt um ihre Privatheit zu sein,[3] werden diese Dienste dennoch rege genutzt und dabei viele persönliche Informationen offenbart.[4]

Die erstmalige Verwendung des Ausdrucks wird einem Bericht von Barry Brown aus dem Jahr 2001 zugeschrieben, in dem er beschreibt, wie Studienteilnehmer Privatsphäre und Datenschutz beim Onlineshopping beklagen würden, gleichzeitig aber Treuekarten aus dem Supermarkt als unproblematisch ansehen würden.[5][6] Weiter bekannt gemacht wurde die Formulierung „Privacy Paradox“ von Susan Barnes im Jahre 2006.[2] In ihrem Artikel kritisiert die US-Forscherin beispielsweise, dass die Nutzer von Sozialen Netzwerkseiten nicht erkennen würden, dass es sich hierbei um öffentliche Räume handelt. Dies würde daran erkennbar, dass sie unangemessen viele persönliche Informationen teilen, die dahinterstehenden Erlösmodelle nicht verstehen, und die Dienste selbst dann aktiv nutzen, wenn sie bereits erkannt haben, dass es sich dabei in Wirklichkeit um öffentliche Räume handelt.

Bereits vor Barnes wurde zu diesem inhaltlichen Gegenstand geforscht, ohne dabei allerdings die Formulierung „Privacy Paradox“ zu verwenden.[7][8][9]

Für das Privacy Paradox wurden verschiedene theoretische Erklärungen vorgeschlagen und Resultate empirischer Arbeiten zu den Einstellungen und zum Verhalten der Internetnutzer vorgelegt. Eine umfassende, akzeptierte Erklärung gibt es noch nicht.[10]

Zum einen zeigen verschiedene empirische Studien, dass Personen, die sich mehr Sorgen um ihre Privatheit machen, zumindest relativ betrachtet weniger Informationen teilen.[11][12] In einer Metaanalyse von 34 einzelnen Studien zum Thema wurde ein negativer, statistisch signifikanter Zusammenhang berichtet (r = −.13).[13] Die Privatheitssorgen scheinen somit nicht irrelevant zu sein, sondern stehen vielmehr in einem bedeutsamen Zusammenhang mit dem eigenen Kommunikationsverhalten.

Zum anderen wird basierend auf der Theorie der rationalen Entscheidung die Hypothese vorgebracht, dass das gezeigte Verhalten nicht paradox ist, sondern psychologisch betrachtet Sinn ergibt. Studien zu dem sogenannten Privacy-Calculus-Ansatz – welcher grundsätzlich im Gegensatz zum Privacy Paradox steht – zeigen beispielsweise, dass neben den Privatheitssorgen die zu erwartenden Vorteile einen großen Zusammenhang mit dem eigenen Kommunikationsverhalten aufweisen.[14][15][16] Je mehr Vorteile Nutzer im Teilen von Informationen sehen, umso eher setzen sie dieses auch um.

Die deutsche Philosophin Beate Rössler erklärt die scheinbare Widersprüchlichkeit zwischen Verhalten und Überzeugung mit individueller Resignation der Internetnutzer. Diese sei auch nicht irrational, sondern vielmehr eine vernünftige Reaktion auf die sich entwickelnde Überwachungs- und Beobachtungsgesellschaft. Diese werde sowohl durch große Internetkonzerne (→ Überwachungskapitalismus) als auch durch Staaten (→ Überwachungsstaat) befördert. Sie nimmt an, dass die Nutzer sich oft der Gefahr der Preisgabe ihrer Daten bewusst seien und diese eigentlich auch nicht eingehen wollten, aber es als aussichtslos ansehen, sich dagegen schützen zu können. Unter dem Eindruck ihrer Machtlosigkeit würde die Internetnutzer mit digitaler Resignation auf den Kontrollverlust reagieren.[17] Rössler folgert, dass die Machtverhältnisse – politisch und auch individuell – kritisiert und verändert werden müssten, sie verweist auf das gescheiterte Projekt Google Glass und auf neuere Regulierungen wie die Datenschutzgrundverordnung in der Europäischen Union und weitere Überlegungen der Politik in der EU und den USA.[1]

  • T. Dienlin: Das Privacy Paradox aus psychologischer Perspektive. In: L. Specht, S. Werry, N. Werry (Hrsg.): Handbuch Datenrecht und Digitalisierung. Erich Schmidt Verlag, 2019, S. 305–323.
  • N. Gerber, P. Gerber, M. Volkamer: Explaining the privacy paradox: A systematic review of literature investigating privacy attitude and behavior. In: Computers & Security. Band 77, 2018, S. 226–261. doi:10.1016/j.cose.2018.04.002
  • S. Trepte, D. Teutsch: Privacy paradox. In: N. C. Krämer, S. Schwan, D. Unz, M. Suckfüll (Hrsg.): Medienpsychologie: Schlüsselbegriffe und Konzepte. 2. Auflage. Kohlhammer, 2016, S. 372–377.

Einzelnachweise

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  1. a b Beate Rössler: Der Überwachung entgegenkommen. Paradoxien der Privatheit im Internet. In: Axel Honneth, Kai-Olaf Maiwald, Sarah Speck, Felix Trautmann (Hrsg.): Normative Paradoxien: Verkehrungen des gesellschaftlichen Fortschritts (= Frankfurter Beiträge zur Soziologie und Sozialphilosophie. Band 32). Campus Verlag, 2022, ISBN 978-3-593-44695-0, S. 239–241, 248–252, doi:10.12907/978-3-593-44695-0 (open access).
  2. a b Susan B. Barnes: A privacy paradox: Social networking in the United States. In: First Monday. 4. September 2006, ISSN 1396-0466, doi:10.5210/fm.v11i9.1394 (open access).
  3. Publications Office of the European Union: Data protection : report. 5. November 2015, abgerufen am 9. März 2020 (englisch).
  4. Sabine Trepte, Tobias Dienlin, Leonard Reinecke: Privacy, self-disclosure, social support, and social network site use : research report of a three-year panel study. 12. November 2013 (uni-hohenheim.de [abgerufen am 9. März 2020]).
  5. Barry Brown: Studying the internet experience. In: Hewlett-Packard Company (Hrsg.): HP Laboratories Bristol. HPL-2001-49. Bristol 26. März 2001, S. 1–24 (psu.edu [PDF]).
  6. Anna Dorothea Ker: Decoding the Privacy Paradox. In: The privacy issue. 22. Januar 2020, abgerufen am 17. September 2024: „The first mention of the term "privacy paradox" is attributed to Hewlett-Packard employee Barry Brown (2001)“
  7. Sarah Spiekermann, Jens Grossklags, Bettina Berendt: E-privacy in 2nd generation E-commerce: privacy preferences versus actual behavior. In: Proceedings of the 3rd ACM conference on Electronic Commerce - EC '01. ACM Press, Tampa, Florida, USA 2001, ISBN 978-1-58113-387-5, S. 38–47, doi:10.1145/501158.501163 (acm.org [abgerufen am 9. März 2020]).
  8. A. Acquisti, J. Grossklags: Privacy and rationality in individual decision making. In: IEEE Security and Privacy Magazine. Band 3, Nr. 1, Januar 2005, ISSN 1540-7993, S. 26–33, doi:10.1109/MSP.2005.22 (ieee.org [abgerufen am 9. März 2020]).
  9. Information revelation and privacy in online social networks | Proceedings of the 2005 ACM workshop on Privacy in the electronic society. Abgerufen am 9. März 2020 (englisch).
  10. N. Gerber, P. Gerber, M. Volkamer: Explaining the privacy paradox: A systematic review of literature investigating privacy attitude and behavior. In: Computers & Security. 2018, doi:10.1016/j.cose.2018.04.002.
  11. Tobias Dienlin, Sabine Trepte: Is the privacy paradox a relic of the past? An in-depth analysis of privacy attitudes and privacy behaviors: The relation between privacy attitudes and privacy behaviors. In: European Journal of Social Psychology. Band 45, Nr. 3, April 2015, S. 285–297, doi:10.1002/ejsp.2049 (wiley.com [abgerufen am 9. März 2020]).
  12. Sabine Trepte, Michael Scharkow, Tobias Dienlin: The privacy calculus contextualized: The influence of affordances. In: Computers in Human Behavior. Band 104, März 2020, S. 106115, doi:10.1016/j.chb.2019.08.022 (elsevier.com [abgerufen am 9. März 2020]).
  13. Lemi Baruh, Ekin Secinti, Zeynep Cemalcilar: Online Privacy Concerns and Privacy Management: A Meta-Analytical Review: Privacy Concerns Meta-Analysis. In: Journal of Communication. Band 67, Nr. 1, Februar 2017, S. 26–53, doi:10.1111/jcom.12276 (oup.com [abgerufen am 9. März 2020]).
  14. Jinyoung Min, Byoungsoo Kim: How are people enticed to disclose personal information despite privacy concerns in social network sites? The calculus between benefit and cost. In: Journal of the Association for Information Science and Technology. Band 66, Nr. 4, April 2015, S. 839–857, doi:10.1002/asi.23206 (wiley.com [abgerufen am 9. März 2020]).
  15. Tobias Dienlin, Miriam J. Metzger: An Extended Privacy Calculus Model for SNSs: Analyzing Self-Disclosure and Self-Withdrawal in a Representative U.S. Sample: THE EXTENDED PRIVACY CALCULUS MODEL FOR SNSs. In: Journal of Computer-Mediated Communication. Band 21, Nr. 5, September 2016, S. 368–383, doi:10.1111/jcc4.12163 (oup.com [abgerufen am 9. März 2020]).
  16. Nadine Bol, Tobias Dienlin, Sanne Kruikemeier, Marijn Sax, Sophie C Boerman: Understanding the Effects of Personalization as a Privacy Calculus: Analyzing Self-Disclosure Across Health, News, and Commerce Contexts†. In: Journal of Computer-Mediated Communication. Band 23, Nr. 6, 1. November 2018, ISSN 1083-6101, S. 370–388, doi:10.1093/jcmc/zmy020 (oup.com [abgerufen am 9. März 2020]).
  17. Hier folgt Rössler einem Vorschlag der Kommunikationswissenschaftler Nora A. Draper und Joseph Turow, siehe Nora A. Draper, Joseph Turow: The corporate cultivation of digital resignation. In: New Media & Society. März 2019, doi:10.1177/1461444819833331.