Psychosoziale Versorgung von Kindern und Jugendlichen
Psychosoziale Versorgung von Kindern und Jugendlichen ist ein Begriff aus dem Bereich der „psychosozialen Arbeit“[1] sowie der „Sozialpsychiatrie“[2] und bezeichnet die Versorgung[3] von Kindern und Jugendlichen einer Bevölkerung mit psychosozialen Dienstleistungen, die darauf abzielen, psychisches Leid und psychische Störungen bei Kindern und Jugendlichen nach Möglichkeit von vornherein zu verhindern oder wenigstens abzumildern und damit kurative Maßnahmen auf ein Mindestmaß zu beschränken.[4] Der Begriff erstreckt sich über die Bereiche Gesundheit, Soziales/Jugendwohlfahrt, Schule und anderes mehr.[5]
Nähere begriffliche Eingrenzungen
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Unter dieser Begrifflichkeit zu verstehen ist, dass das Wohlergehen von Kindern und Jugendlichen hinsichtlich Psyche, familiäre Bindungen und soziale Beziehungen und ebenso hinsichtlich Gesundheit gewährleistet ist.[5] Die ambulanten („aufsuchenden“)[6] und stationären[7] psychosozialen Versorgungsleistungen umfassen neben Information und Aufklärung über psychische Erkrankungen auch Maßnahmen zur Früherkennung und Prävention, Diagnostik und Therapie (zur Rehabilitation), Krisenintervention, Beratung und Betreuung.[3] Die Gewährleistung einer umfassenden psychosozialen Versorgung von Kindern und Jugendlichen ist auch ein wichtiges gesundheitspolitisches Thema.[5]
Zu adressierende Handlungsfelder
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Handlungsfelder für professionell Tätige im Bereich der psychosozialen Arbeit mit Kindern und Jugendlichen sowie deren sozialpsychiatrischer Behandlung können unter anderem folgende sein (Nennung ohne Anspruch auf Vollständigkeit):
- schwere Erkrankungen,[7]
- körperliche oder psychische Gewalterfahrung in der Familie[8] oder im Umfeld,[9]
- Ausübung von Leistungsdruck durch die Eltern im Kontext von Schule,
- Leiden unter einer elterlichen Scheidung oder deren Folgen,[10][11]
- Misshandlung und/oder Vernachlässigung durch die Eltern oder durch Menschen aus dem Umfeld,[12]
- Kontrollverlust durch exzessiven Gebrauch von Computer oder Smartphone (Ballerspiele, exzessives Internetsurfen),
- Leiden unter Mobbing[13] oder Gehänseltwerden,
- Erfahrungen von Flucht, Vertreibung, Fremde (etwa bei geflohenen Kindern und Jugendlichen, wobei zwischen elterlich begleiteten und unbegleiteten[14][15] üblicherweise differenziert wird),[16]
- Inkonfliktgeraten mit dem Gesetz, Straffälligkeit,[17]
- Alleinsein (wie etwa unter den Bedingungen der Corona-Pandemie),[18]
- Suchtprobleme,[19]
- Schwangerschaft im Jugendalter.[20]
Wissenschaftliche Eruierung der Versorgungssituation in Österreich, Analysen in Bezug auf Deutschland
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Wissenschaftliche Ergebnisberichte[21][22][23][24][25] im Auftrag der österreichischen Bundesgesundheitsagentur zeigen, dass unter den vorherrschenden Erkrankungen von Kindern und Jugendlichen in Österreich ein Wandel zu beobachten ist:[5] Während vormals vor allem Infektionskrankheiten prädominierten, haben, von 2016 aus zurückblickend, im davor liegenden Jahrzehnt langanhaltende seelische Leiden an Bedeutung gewonnen, insbesondere Störungen und Beeinträchtigungen im psychosozialen Bereich.[5]
Auch in Deutschland werden im Hinblick auf die psychosoziale Versorgungssituation von Kindern und Jugendlichen von Zeit zu Zeit Versorgungsanalysen betrieben.[26] Die in Deutschland wiederkehrend durchgeführte Studie „BEfragung zum seeLischen WohLbefinden und VerhAlten“ (BELLA) untersucht die psychische Gesundheit und gesundheitsbezogene Lebensqualität von Kindern und Jugendlichen in Deutschland.[27] Die BELLA-Studie ist ein Zusatzmodul der Studie zur Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland (KiGGS), welche im Rahmen der Bundesgesundheitsberichterstattung am Robert-Koch-Institut durchgeführt wird.[27]
Die Erhebung der KiGGS- und BELLA-Basisdaten fand zwischen 2003 und 2006 statt. Dabei umfasste die BELLA-Studie eine repräsentative Unterstichprobe von KiGGS mit ca. 3.000 Kindern und Jugendlichen im Alter von 7 bis 17 Jahren.[27] Anschließend fanden von 2004 bis 2008 zwei Nachbefragungen (BELLA Welle 1 und Welle 2) im Abstand von jeweils einem Jahr in Form von Fragebögen und telefonischen Interviews statt.[27] Parallel zu KiGGS Welle 1 und KiGGS Welle 2 wurden ebenfalls BELLA-Befragungen durchgeführt (BELLA Welle 3: 2009–2012, BELLA Welle 4: 2014–2017).[27] Mit den Informationen aus der BELLA-Studie können Fragen zu dem von der statistischen Auswertung erfassten Verlauf von psychischen Erkrankungen im Kindes- und Jugendalter beantwortet werden. Darüber hinaus können sowohl Auswirkungen von Risiko- und Schutzfaktoren, als auch Bedarfe und die Qualität in der Versorgung dargestellt werden.[27]
Aktuell ist die BELLA Welle 4 (2014–2017) abgeschlossen.[27] An der Befragung nahm eine KiGGS-Unterstichprobe von circa 3.500 jungen Menschen im Alter von 7 bis 31 Jahren teil.[27] Die vierte Welle wurde erstmals als reine Onlinebefragung durchgeführt. Dabei wurden sowohl die Eltern jüngerer Kinder (7 bis 13 Jahre) befragt, als auch die Kinder, Jugendlichen und jungen Erwachsenen selbst (ab 11 Jahre).[27] Neben Instrumenten zu psychischen Auffälligkeiten und Versorgung wurde erstmals ein dynamisches Messinstrument – ein computer-adaptiver Test (CAT) – zur Erfassung der gesundheitsbezogenen Lebensqualität eingesetzt.[27] Mittlerweile liegen für BELLA Welle 4 erste Auswertungsresultate vor.[28]
Siehe auch
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Literatur
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]- Gerald Ullrich: Psychosoziale Versorgung von Kindern und Jugendlichen: Synopse und Ausblick. In: Silke Pawils, Uwe Koch (Hrsg.): Psychosoziale Versorgung in der Medizin: Entwicklungstendenzen und Ergebnisse der Versorgungsforschung. Schattauer Verl., Stuttgart 2006, ISBN 3-7945-2450-0, S. 276–290.
- Roland Schleiffer: Kinder und Jugendliche in Institutionen der psychosozialen Versorgung. In: Heinz-Hermann Krüger, Cathleen Grunert (Hrsg.): Handbuch Kindheits- und Jugendforschung. 2., aktualis. u. erw. Aufl., VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden 2010, ISBN 978-3-531-15838-9, S. 1019–1040.
- Doris Hellweg: Psychosoziale Versorgung von Kindern und Jugendlichen: Ansätze der Umstrukturierung bestehender Angebote. Univ. Bielefeld, Diplomarb. 1995, HBZ (NRW-Verbundkatalog) Verbund-ID: HT006763345.
- Doris Hellweg: Frühe Förderung von Kindern und Familien als aktuelle Aufgabe der Eltern- und Familienbildung: Betrachtungen und Erfahrungen aus der Perspektive der Jugendhilfe und Vorstellung des Vernetzungsprojektes "steps". (Referat-Kurzfassung online) In: Familien stärken – Netzwerke schaffen. Fachtagung 2.–3. Nov. 2006, Berlin / Paritätisches Bildungswerk Bundesverband (Hrsg.). Paritätisches Bildungswerk Bundesverband e.V., Frankfurt a. M. 2006.
- Helmut Remschmidt: Grundsätze zur Versorgung psychisch gestörter Kinder und Jugendlicher. In: Wolfgang Settertobulte et al. (Hrsg.): Gesundheitsversorgung für Kinder und Jugendliche. Asanger Verl., Heidelberg 1995, ISBN 3-89334-293-1, S. 87–100
- Regina Schmidt-Zadel: Förderung seelischer Gesundheit und Teilhabe als Leitmotiv kooperativer Hilfen. In: Seelische Gesundheit und Teilhabe von Kindern und Jugendlichen braucht Hilfe! Tagungsdokumentation, Kassel, 8./9. November 2010. / Aktion Psychisch Kranke, Vereinigung zur Reform der Versorgung Psychisch Kranker, Peter Weiß (Hrsg.). (= Tagungsberichte / Aktion Psychisch Kranke; Bd. 37) Psychiatrie-Verl., Bonn 2011, ISBN 978-3-88414-531-9, S. 14–18.
Einzelnachweise
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]- ↑ Manfred Cramer: Psychosoziale Arbeit. (= Wissenschaft + soziale Praxis) Verlag W. Kohlhammer, Stuttgart 1982 (zugl. Diss. Univ. München), ISBN 3-17-007548-9, Kap. 3.2.4 „Gebrauchswertorientierung und versorgungsbezogene psA“: S. 65–66.
- ↑ Dieter Röh, Elisabeth Schreieder: Sozialpsychiatrie als Handlungsfeld der Sozialen Arbeit. / mit einem Beitrag von Ayça Polat. (= Grundwissen Soziale Arbeit; Bd. 44) Verlag W. Kohlhammer, Stuttgart 2022, ISBN 978-3-17-036897-2, Kap. 5.1 „Versorgungsstrukturen“: S. 163–165.
- ↑ a b Bernhard van Treeck, F. Bergmann, R. Schneider: Psychosoziale Versorgung. In: Frank Schneider (Hrsg.): Facharztwissen Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie.. / unter Mitarbeit von Sabrina Weber-Papen und Isabella Schneider. Springer, Berlin [2017], ISBN 978-3-662-50344-7, S. 11–27.
- ↑ psychosoziale Versorgung. In: Gerd Wenninger (Red.): Lexikon der Psychologie. Spektrum Akademischer Verlag, Heidelberg 2002, A–Z (incl. Register): 5 Bände als elektron. Ressource, ISBN 3-8274-0466-5, davon: Online-Ausgabe, ohne Datumsangabe, Website abgerufen am 17. April 2023.
- ↑ a b c d e Psychosoziale Versorgung von Kindern und Jugendlichen. sozialministerium.at-Internetportal (Bundesministerium für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz, Republik Österreich), letzte Aktualisierung: 29. Oktober 2019, Website abgerufen am 18. April 2023
- ↑ Wenn der Berg nicht zum Propheten kommt … : Beiträge zur aufsuchenden psychosozialen Arbeit mit Einzelnen und Familien. (= Forum für Verhaltenstherapie und psychosoziale Praxis; Bd. 24) / Deutsche Gesellschaft für Verhaltenstherapie, Tübingen (Herausgebendes Organ), Brigitte Fritzsche (Hrsg.). dgvt-Verl., Tübingen 1994, ISBN 3-87159-124-6.
- ↑ a b T. Lucas et al.: Psychosoziale Versorgung von Kindern und Jugendlichen in Kliniken für Kinder- und Jugendmedizin und Kinderchirurgie. In: Monatsschrift Kinderheilkunde. (ISSN 0026-9298) Bd. 169 (2021), S. 6–17.
- ↑ Christian Roesler: Psychosoziale Arbeit mit Familien. (= Handlungsfelder sozialer Arbeit) Verl. W. Kohlhammer, Stuttgart 2015, ISBN 978-3-17-023367-6, Kap. 11 „Gewalt in der Familie“: S. 151–164.
- ↑ Klaus Fröhlich-Gildhoff, Claudia Röser: Qualitätskriterien für die professionelle Arbeit mit gewalttätigen Kindern, Jugendlichen und Familien: Ergebnisse einer europäischen Vergleichsstudie. In: Verhaltenstherapie mit Kindern & Jugendlichen: Zeitschrift für die psychosoziale Praxis. (ISSN 1861-1923) Bd. 8, H. 1 (2012), S. 21–35.
- ↑ Sarah Henning: Psychosoziale Belastungen von Kindern und Jugendlichen bei elterlicher Trennung und Scheidung und Unterstützungsmöglichkeiten der Sozialen Arbeit. Bachelorarb. Fachhochschule Kiel 2012, OCLC 934923424.
- ↑ Felix Nandi: Psychosoziale Belastungen für Kinder bei Trennung und Scheidung - Lösungsansätze in der professionellen Arbeit. Diplomarb. Hochschule Ravensburg-Weingarten 2007, OCLC 698870843.
- ↑ Miriam Rassenhofer et al.: Misshandlung und Vernachlässigung. (= Leitfaden Kinder- und Jugendpsychotherapie; Bd. 28) Hogrefe Verl., Göttingen 2020, ISBN 978-3-8017-2668-3.
- ↑ Peter Teuschel, Klaus Werner Heuschen: Bullying: Mobbing bei Kindern und Jugendlichen. F. K. Schattauer Verl., Stuttgart (1. Aufl. 2012) Nachdruck 2018, ISBN 978-3-608-42843-8.
- ↑ Ilka Quindeau, Marianne Rauwald: Auffällige Unauffälligkeit: Psychosoziale Belastungen unbegleiteter minderjähringer Geflüchteter. In: dies. (Hrsg.): Soziale Arbeit mit unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen: traumapädagogische Konzepte für die Praxis. (= Grundlagentexte Soziale Berufe) Beltz Juventa, Weinheim/Basel 2017, ISBN 978-3-7799-2358-9, S. 14–27.
- ↑ Carolin Mogk: Allein in Deutschland – Psychotherapie und psychosoziale Arbeit mit minderjährigen, unbegleiteten Flüchtlingen. In: Karl Heinz Brisch (Hrsg.): Bindung und Migration. [Tagung München, 2014] 2. Aufl., Klett-Cotta, Stuttgart 2016, ISBN 978-3-608-96098-3, S. 44–82.
- ↑ Anke Kerschgens, Beate Schnabel: Psychosoziale Arbeit mit jugendlichen Geflüchteten: transkulturelle Übergangsräume und Verstehensprozesse. / Frankfurter Institut für interkulturelle Forschung und Beratung (Herausgebendes Organ). Brandes & Apsel, Frankfurt a. M. 2020, ISBN 978-3-95558-285-2.
- ↑ Wolfgang Hirschberg: Sozialtherapie bei Jugendlichen mit Störungen des Sozialverhaltens: Ergebnisse und Katamnesen. In: Praxis der Kinderpsychologie und Kinderpsychiatrie. (ISSN 0032-7034) 48. Jg. (1999), S. 247–259. (PDF)
- ↑ Michaela Haslinger et al.: Psychosoziale Versorgung von Kindern und Jugendlichen im ersten Corona-Lock-Down unter Zuhilfenahme von Telefon und Online-Tools. Möglichkeiten und Grenzen. In: Psychotherapie-Forum. (ISSN 0943-1950) Bd. 25 (2021), S. 124–133.
- ↑ A. Thomas McLellan et al.: The effects of psychosocial services in substance abuse treatment. In: JAMA − Journal of the American Medical Association. (ISSN 0254-9077) Bd. 269, H. 15 (April 1993), S. 1953–1959.
- ↑ Liranso Gselamu et al.: Psychosocial effects of teenage pregnancy: Systematic analysis. In: Psychology and Behavioral Sciences. (ISSN 2328-7837) Bd. 8, H. 5 (2019), S. 115–118.
- ↑ Psychosoziale Planungs- und Versorgungskonzepte für Kinder und Jugendliche. GÖG/ÖBIG, [Wien] 2012. (Download-PDF)
- ↑ Außerstationäre psychosoziale Versorgung von Kindern und Jugendlichen. GÖG/ÖBIG, [Wien] 2013. (Download-PDF)
- ↑ Integrierte psychosoziale Versorgung von Kindern und Jugendlichen. GÖG/ÖBIG, [Wien] 2014. (Download-PDF)
- ↑ Integrierte psychosoziale Versorgung von Kindern und Jugendlichen. GÖG/ÖBIG, [Wien] 2015. (Download-PDF)
- ↑ Integrierte psychosoziale Versorgung von Kindern und Jugendlichen − Abschlussbericht. GÖG/ÖBIG, [Wien] 2016. (Download-PDF)
- ↑ Corinna Petersen, Elmar Kruithoff: Psychosoziale Versorgung von Kindern und Jugendlichen in Deutschland. In: Silke Pawils, Uwe Koch (Hrsg.): Psychosoziale Versorgung in der Medizin: Entwicklungstendenzen und Ergebnisse der Versorgungsforschung. Schattauer Verl., Stuttgart 2006, ISBN 3-7945-2450-0, S. 132–143.
- ↑ a b c d e f g h i j BELLA-Studie. uke.de-Internetportal (Universitäts-Klinikum Eppendorf), Letzte Änderung: 3. Dezember 2021, Website abgerufen am 19. April 2023.
- ↑ Christiane Otto et al.: Mental health and well-being from childhood to adulthood: design, methods and results of the 11-year follow-up of the BELLA study.In: European Child and Adolescent Psychiatry. (ISSN 1018-8827) Bd. 30 (2021), S. 1559–1577.