Geschichtsfälschung

aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie
(Weitergeleitet von Quellenfälschung)
Zur Navigation springen Zur Suche springen

Bei einer Geschichtsfälschung (auch: Pseudohistorie) wird in Täuschungsabsicht und mit wissenschaftlich unlauteren Mitteln ein unzutreffender Eindruck von historischen Ereignissen oder Situationen und ihrer Interpretation vermittelt.[1]

Arten der Geschichtsfälschung

[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]
Die „Eiserne Jungfrau“ (rechts im Bild), angeblich ein Folterinstrument des Mittelalters, ist ein Fantasieprodukt des 19. Jahrhunderts.

Darstellungs- und Dokumentationsebene

[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Ein wissenschaftlich anerkanntes Geschichtsbild wird durch Behaupten, Interpretieren oder Verschweigen – auch in Kombination – so angepasst, dass es in seiner öffentlichen Wahrnehmung teilweise oder in Gänze nicht mehr dem wissenschaftlich nachgewiesenen oder nachweisbaren Sachverhalt entspricht; dabei werden Daten, Fakten oder Zusammenhänge weggelassen oder verschwiegen. Handelt es sich um schwerwiegende Tatsachen von öffentlichem Interesse (z. B. NS-Verbrechen), so wird mit einer solchen einseitigen Darstellung die Sicht auf den historischen Hintergrund oder Kontext verfälscht.

Der Fall des Chefarchitekten, Reichsrüstungsministers und ergebenen Hitler-Vertrauten Albert Speer ist hinsichtlich Methode und Motivation ein besonders vielschichtiges Beispiel für diese Form der Geschichtsfälschung. Speer stellte sich sehr erfolgreich – unter anderem in seiner Bestseller-Autobiographie[2][3] – als unpolitischen Technokraten dar, der von den nationalsozialistischen Verbrechen angeblich nichts gewusst haben will. Tatsächlich wirkte er aber als einer der Haupttäter aktiv am Holocaust mit.[4] Seine geschickt gefälschte Legende als „guter Nazi“ wurde in der Nachkriegszeit bereitwillig von vielen Deutschen als willkommener Beleg für ihr eigenes distanziertes Verhältnis zum Nationalsozialismus und ihr Nichtwissen vom Massenmord an den Juden übernommen.[5] Eine Nürnberger Ausstellung ab April 2017 präsentierte die Zusammenhänge.[6]

Weniger häufig, weil schwieriger zu beschaffen, sind materielle Fälschungen, also die Produktion von Objekten, die vom Fälscher oder seinen Auftraggebern als ursprüngliche Quelle ausgegeben werden. Bekannt ist die posthume Herstellung angeblich historischer Urkunden, wie bei der Konstantinischen Schenkung. Eine effektivere Variante der Quellenfälschung ist die Verfälschung einer echten Quelle (Interpolation), also etwa das Entfernen oder Hinzufügen von Textstellen in einer Urkunde oder sonstigen Dokumenten; dazu gehören unter anderem auch Änderungen des betroffenen Personenkreises oder des Bearbeitungszeitpunkts. Auch Autobiographien, wie bei Speer, sind häufig von Interessen geleitet und damit anfällig für Fälschungen. Im Wörterbuch Geschichte[7] werden auch Fälschungen mit vorwiegend wirtschaftlichen Absichten genannt, neben der Urkundenfälschung auch die Münzfälschung und, als jüngeres Beispiel, die Hitlertagebücher von Konrad Kujau. Ein entscheidendes Kriterium der Geschichtsforschung ist deshalb immer auch eine ausführliche Quellenkritik. Skepsis und kritische Überprüfung vermeintlicher Erkenntnisse sind eine wesentliche Voraussetzung wissenschaftlichen Fortschritts; aber diese Haltung kritischer Wissenschaft wird auch von ihren Gegnern ausgenutzt, indem die Abwesenheit wissenschaftlich gesicherter Tatsachen betont wird.[8] Für den Historiker Heinrich August Winkler ist die „Herausbildung einer selbstkritischen Geschichtskultur“ „eine der größten Errungenschaften“ der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg.[9][10]

Ziele, Motive, Intentionen

[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]
Seite der angeblich mittelalterlichen „Königinhofer Handschrift“, 1817
Der Reichsapfel stellt die Weltkugel dar und widerlegt damit die im 19. Jahrhundert aufgestellte und heute noch verbreitete Behauptung, im Mittelalter hätte es eine Doktrin der flachen Erde gegeben.

Geschichtsfälschung kennzeichnet vor allem autoritär geführte Gesellschaften und Gruppen, ist aber auch ein allgemeines Phänomen menschlicher Schwäche. Beweggründe können wirtschaftliche, politische oder sonstige Eigeninteressen einzelner Personen oder Gruppen sein. Menschen ziehen einen großen Teil ihres Selbstverständnisses aus ihrer Vergangenheit. So spiegelt sich das Bewusstsein von Nationen, Religionsgemeinschaften, Bevölkerungsgruppen oder auch Familien in idealisierten oder mythologisierten Weltbildern wider. Selten stimmen diese Geschichtsbilder mit den historischen Fakten überein, die deshalb durch Weglassungen unbequemer oder Betonung willkommener Sachverhalte angepasst werden. Daraus resultierende Geschichtsfälschungen fallen bei unterschiedlichen Menschen in Abhängigkeit von der jeweiligen Situation auf mehr oder weniger fruchtbaren Boden. Da Fälschungen oft in Schulbücher oder andere interessengesteuerte Medien eingehen, sind sie dann auch durch objektiven wissenschaftlichen Diskurs nur noch schwer aus der Welt zu schaffen. Fälscher werden von unterschiedlichen Motiven getrieben:

Geschichtsfälschung liegt nur vor, wenn ein Geschichtsbild in Täuschungsabsicht manipuliert wurde. Keine Geschichtsfälschung ist daher

  • ein veralteter Forschungsstand auf Grund von neuentdeckten historischen Sachverhalten,
  • eine abweichende Meinung, die auf Grund anderer Vorgaben bei der Interpretation zustande kommt,
  • ein bloßer Irrtum.

Die Grenzen zwischen abweichender Meinung und Fälschung können fließend sein. In ihrem Essay Wahrheit und Politik definierte Hannah Arendt das folgendermaßen:

„Tatsachen sind der Gegenstand von Meinungen, und Meinungen können sehr verschiedenen Interessen und Leidenschaften entstammen, weit voneinander abweichen und doch alle noch legitim sein, solange sie die Integrität der Tatbestände, auf die sie sich beziehen, respektieren.“[22]

Generell beruht jede Theorie oder historische Gesamtdarstellung auf einer Vereinfachung der Realität. Auch Heribert Illigs ChronologiekritikErfundenes Mittelalter“, wonach sämtliche zeitgenössischen Quellen zu Karl dem Großen ausnahmslos gefälscht worden sein sollen, ist bloß eine These, die als Fehlinterpretation von der Fachwelt klar widerlegt wurde.[23]

Bei Operationen unter falscher Flagge wie dem angeblich polnischen Überfall auf den Sender Gleiwitz (1939) oder dem Tonkin-Zwischenfall (1964) wurde propagandistisch versucht, Aktionen oder Auswirkungen zu rechtfertigen. Um die Fälschung eines Bildes der Vergangenheit ging es nicht.

Der Begriff Geschichtsfälschung bezieht sich in der Regel auf die Geschichte von Menschen, nicht auf Naturgeschichte; daher gehören der Piltdown-Mensch oder die Kreationismus-Debatte nicht in diese Kategorie. Materielle Fälschungen, die zum Verkauf angeboten werden, sind in der Regel keine Geschichtsfälschungen, da sie meist ohne Einfluss auf ein Geschichtsbild sind. Dazu gehören vor allem Kunstfälschungen und Briefmarkenfälschungen, also die unlautere Multiplizierung bereits vorhandener Werke. Streng genommen gilt dies auch für Kujaus Hitler-Tagebücher, da ihr eher trivialer Inhalt nur mäßigen wissenschaftlichen Wert hätte haben können.

Fiktionale Werke wie Romane und Spielfilme sind weitgehend frei in der Interpretation von bestimmten historischen Hintergründen (man vergleiche etwa Bounty mit Meuterei auf der Bounty (1935)). Trotzdem kann es sich um eine massive Geschichtsfälschung handeln, wie etwa im Fall des Propaganda-Spielfilms Jud Süß von 1940. In diesem Fall war die propagandistische Absicht eine hasserzeugende Darstellung der jüdischen Bevölkerung.

Erich von Dänikens Hypothesen von der Entstehung der menschlichen Art und ihrer Kultur durch Eingreifen von Wesen aus dem Weltraum gehören ebenfalls in den fiktionalen Bereich. Er selbst beendet seine Vorträge übrigens mit der Aufforderung, ihm nichts zu glauben; er hat auch selbst eingestanden, manche seiner „Beweisstücke“ erfunden zu haben. Andere Autoren der Präastronautik arbeiten durchaus mit gefälschten Artefakten wie beispielsweise den Steinen von Ica.[24]

Geschichtsfälschungen können durchaus brauchbare Quellen sein, wenn auch nicht in dem Sinne, der von ihren Urhebern beabsichtigt wurde: Sie können vielmehr Auskunft geben über deren Absichten, über Täuschungs- und Betrugsstrategien oder darüber, was zu ihrer Entstehungszeit für plausibel gehalten wurde.[25]

Geschichtsklitterung

[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Das Wort „Geschichtsklitterung“ geht auf den Titel der zweiten Ausgabe der Affentheurlich Naupengeheurliche Geschichtklitterung (1582) von Johann Fischart zurück, in dem sich angeblich „der ganze physische, geistige und politische Kosmos der deutschen Renaissance“ spiegelt.[26] Das Verb ,klittern‘ bedeutet wörtlich ,klecksen‘, im übertragenen Sinne ,willkürlich darstellen, schnell und unordentlich niederschreiben‘, eine Verwandtschaft mit ,Kladde‘ wird vermutet.[27] Der Begriff wird auch synonym bzw. abwertend für eine absichtliche Geschichtsfälschung verwendet.

Geschichtsrevisionismus

  • Ernst Haiger: Fälschungen zur Geschichte des Zweiten Weltkriegs im britischen Nationalarchiv. In: Christian Müller-Straten (Hrsg.): Fälschungserkennung (= Wunderkammer. Band 10). Band 2. Müller-Straten, München 2015, ISBN 978-3-932704-85-7, S. 211–221.
  • Arnd Hoffmann: Klios „doppeltes Herz“. Zur Bedeutung von Lüge und Fälschung in der Geschichtswissenschaft. In: Tillmann Bendikowski, Arnd Hoffmann, Diethard Sawicki: Geschichtslügen. Vom Lügen und Fälschen im Umgang mit der Vergangenheit. 2. Auflage. Westfälisches Dampfboot, Münster 2003, ISBN 3-89691-499-5, S. 15–53.
  • Lars-Broder Keil, Sven Felix Kellerhoff: Gerüchte machen Geschichte. Folgenreiche Falschmeldungen im 20. Jahrhundert. Ch. Links, Berlin 2006, ISBN 978-3-86153-386-3.
  • Hermann Weber: Ulbricht fälscht Geschichte. Ein Kommentar mit Dokumenten zum „Grundriß der Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung“. Neuer Deutscher Verlag, Köln 1964, DNB 455393796 (gemeint ist Walter Ulbricht, 1949–1971 der „erste Mann“ in der DDR).

Einzelnachweise

[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]
  1. „Erinnerungen, vor allem kollektive, sind oft macht- und interessengeleitet. Und wenn sie nicht kritisch betrachtet werden, wirken sie weiter – zusammen mit den Ideologien, mit denen sie verbunden waren.“ (Rolf Cantzen: Kolonialmythen in Deutschland – SWR2-Wissen, Erstsendung am 11. März 2016).
  2. Albert Speer: Erinnerungen. Ullstein Buchverlage, 2005, ISBN 3-548-36732-1.
  3. Fühlende Brust. In: Der Spiegel. Nr. 40, 26. September 1966 (spiegel.de).
  4. Heinrich August Winkler: Geschichte des Westens. Band 2. Die Zeit der Weltkriege 1914–1945. 3. Auflage. 2016, S. 735 & 984, C. H. Beck, München 2011, ISBN 978-3-406-59236-2.
  5. Deutschlandfunk Kultur – Zeitfragen 23. November 2016, Jochen Stöckmann, Der Lügner und sein Publikum, Albert Speers bemerkenswerte Nachkriegskarriere
  6. Museen der Stadt Nürnberg, Dokumentationszentrum Reichsparteitagsgelände Albert Speer in der Bundesrepublik, Vom Umgang mit deutscher Vergangenheit
  7. Konrad Fuchs, Heribert Rab (Hrsg.): Wörterbuch Geschichte. 13. Auflage. München: dtv, 2002, unter Fälschung.
  8. Susan Neiman: Widerstand der Vernunft. Ein Manifest in postfaktischen Zeiten. Ecowin Verlag, Salzburg/München 2017, ISBN 978-3-7110-0154-2.
  9. Heinrich August Winkler: Wie wir wurden, was wir sind. Eine kurze Geschichte der Deutschen. Verlag C. H. Beck, München, 2020, ISBN 978-3-406-75651-1, S. 231.
  10. „Denn zum Lernen aus der Geschichte gehört die Bereitschaft, aus den bisherigen Lernprozessen zu lernen. Es ist eine Aufgabe, die sich jeder Generation neu stellt. Abgeschlossen ist sie nie.“ (Heinrich August Winkler: Wie wir wurden, was wir sind. Eine kurze Geschichte der Deutschen. S. 231).
  11. Atlas zur Geschichte. Band 2, 3. Auflage, Gotha: VEB Hermann Haack, 1982, S. 89.
  12. Gerhard Wettig: Rezension zu: Steininger, Rolf: Der vergessene Krieg. Korea 1950–1953. Olzog-Verlag, München 2006, in: H-Soz-Kult, 23. November 2006.
  13. Herwig Wolfram: Die Goten und ihre Geschichte. C. H. Beck, München 2010, S. 26–30; Harold Bollbuch: Geschichtsfälschung. Überlieferung historischen Wissens und Antikenrezeption – die Antiquitates des Annius von Viterbo. In: Susanne Rau und Birgit Studt: Geschichte schreiben. Ein Quellen- und Studienhandbuch zur Historiografie (ca. 1350–1750). Akademie-Verlag, Berlin 2010, ISBN 978-3-05-008825-9, S. 302 f. (abgerufen über De Gruyter Online).
  14. Heinrich August Winkler: Wie wir wurden, was wir sind. Eine kurze Geschichte der Deutschen. Verlag C. H. Beck, München, 2020, ISBN 978-3-406-75651-1, S. 34.
  15. Lutz Budrass: Adler und Kranich, Die Lufthansa und ihre Geschichte 1926–1955, Blessing Verlag 2016, ISBN 978-3-641-11246-2.
  16. Johannes Bähr: Rezension von Lutz Budrass, Adler und Kranich in: Sehepunkte Ausgabe 17 (2017), Nr. 10, abgerufen am 7. August 2018.
  17. Sarah Hofmann: Geschichte der Lufthansa, Empörung über die fehlende Aufklärung in Deutschlandfunk vom 2. Mai 2016, abgerufen am 7. August 2018.
  18. Nana Brink, Interview mit Johannes Bähr: Wie deutsche Unternehmen mit ihrer Geschichte umgehen in Deutschlandfunk Kultur vom 14. April 2016, abgerufen am 7. August 2018.
  19. Rüdiger Hachtmann in Frank Becker, Ralf Schäfer (Hrsg.): Sport und Nationalsozialismus. Wallstein Verlag, Göttingen 2016, ISBN 978-3-8353-1923-3, S. 44.
  20. Lutz Henning Müller: Die Hanseatische Yachtschule. Eine Institution im Segelsport an der Flensburger Förde. In: Werner Fröhlich/Maja Naumann (Hg.), Bildungshauptstadt Flensburg, S. 400, Rainer Hampp Verlag Mering/München 2009, ISBN 978-3-86618-353-7.
  21. Hans-Erhard Lessing: The Leonardo da Vinci Bicycle Hoax. In: Cycle Publishing. 1997.
  22. Hannah Arendt: Wahrheit und Politik. Berlin 2006, S. 23.
  23. Rudolf Schieffer: Ein Mittelalter ohne Karl den Großen, oder: Die Antworten sind jetzt einfach. In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 48, 10, 1997, S. 611–617.
  24. Ica Stones in The Skeptic's Dictionary, abgerufen am 28. Dezember 2020.
  25. Jörn Rüsen: Historik. Theorie der Geschichtswissenschaft. Böhlau, Köln/Weimar/Wien 2013, ISBN 978-3-412-21110-3, S. 180 (abgerufen über De Gruyter Online).
  26. Johann Fischart: Affentheuerlich Naupengeheurliche Geschichtklitterung. Mit einem Auszug aus dem Gargantua des Rabelais, basierend auf der Texteinrichtung der von Ute Nyssen 1963 herausgegebenen Ausgabe, in: Die andere Bibliothek, Band 151, herausgegeben von Hans Magnus Enzensberger, Eichborn, Frankfurt am Main 1997, ISBN 3-8218-4151-6.
  27. DWDS – Digitales Wörterbuch der deutschen Sprache. Abgerufen am 3. Dezember 2021.