Kentum- und Satemsprachen

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Kentumsprachen (blau) und Satemsprachen (rot) um 500 v. Chr.

Nach einem heute veralteten Modell lassen sich die Zweige der indogermanischen Sprachfamilie in zwei Gruppen einteilen: Kentumsprachen und Satemsprachen. Diese Unterscheidung beruht auf der Entwicklung der ursprünglichen palatalen Gaumenlaute (Tektale) *k̑, *g̑ und *g̑ʰ.

  • In den Kentumsprachen verloren diese Laute ihren palatalen Charakter und fielen dadurch mit den velaren Gaumenlauten *k, *g und *gʰ zusammen. Die Labiovelare *kʷ, *gʷ und *gʷʰ blieben dagegen erhalten.
  • In den Satemsprachen wurden die ererbten palatalen Gaumenlaute dagegen palatalisiert, d. h. regelhaft zu verschiedenen stimmlosen oder stimmhaften Sibilanten oder Affrikaten weiterentwickelt. Die velaren und labiovelaren Gaumenlaute fielen durch Aufgabe der Lippenrundung zu einer Lautreihe zusammen.

Die Bezeichnungen Kentumsprachen und Satemsprachen sind aus zwei Wörtern für „hundert“ abgeleitet, nämlich lateinisch centum und jungavestisch satəm.

August Schleicher, Franz Bopp und andere vertraten ursprünglich die Auffassung, die Kentumsprachen seien der westliche Zweig der indogermanischen Sprachen und die Satemsprachen der östliche Zweig. Man vermutete, dass die Aufteilung auf eine frühe Verzweigung gemäß der Stammbaumtheorie zurückgehe. Diese Auffassungen sind inzwischen relativiert worden und haben als Theorie nur noch historische Bedeutung.

Die verwandtschaftliche Einordnung und Gliederung des Indogermanischen

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Schon in früher Zeit, als die Keimzellen der späteren indogermanischen Einzelsprachen einander noch verhältnismäßig ähnlich waren, wurde die Gesamtheit des Indogermanischen in zwei große Gruppen geschieden.

Die Satem-Sprachen stellen

Die Kentum-Sprachen umfassen

Das wichtigste Unterscheidungsmerkmal beider Sprachgruppen ist die verschiedene Behandlung der grundsprachlichen gutturalen Verschlusslaute. Während die Palatale in den Kentum-Sprachen als k-Laute erhalten blieben und mit den Velaren zusammenfielen (indogermanisch *kmtóm "100" = altgriechisch ἑ-κατόν, lateinisch centum, altirisch cēt, tocharisch känt, gotisch hund), wurden sie in den Satem-Sprachen in Zischlaute verwandelt (altindisch śatám, avestisch satǝm, litauisch šitas). Andererseits fielen die Labio-velare in den Satem-Sprachen mit den Velaren zusammen, wurden also reine k-Laute (indogermanisch *qṷi/qṷo- als Stamm des Interrogativums = altirisch káḥ, avestisch , litauisch kàs "wer?"), blieben aber in den Kentum-Sprachen von diesen gesondert und nahmen eine vielfältig verschiedene Entwicklung, wobei häufig das labiale Element Oberhand gewann (altgriechisch τίς "wer?", ποῦ "wo?", lateinisch quis, oskisch-umbrisch pis, kymrisch pwy, hethitisch kuiš, gotisch ƕas "wer?").

Innerhalb der Kentum-Sprachen nimmt das Germanische eine durchaus selbstständige Stellung ein. Es ist von den übrigen Gliedern dieser Gruppe durch einschneidende Neuerungen auf dem Gebiet des Lautstands und des Formenschatzes scharf geschieden. Die wichtigsten dieser Neuerungen, welche das Germanische von allen anderen indogermanischen Sprachen unterscheidet, sind:

  1. Die Festlegung des indogermanischen freien Wortakzents auf die erste Silbe des Wortes.
  2. Die sogenannte erste oder germanische Lautverschiebung.
  3. Die Entwicklung der indogermanischen sonantischen Liquiden und Nasale r̥,l̥,ṃ,ṇ zu ur, ul um un.
  4. Der Zusammenfall der Vokale ặ und ǒ in ặ und ā und ō in ō (ähnlich auch in anderen Sprachen).
  5. Die besonderen Auslautgesetze
  6. Die systematische Verwendung des indogermanischen Ablautsystems im Ausbau des starken Verbums
  7. Der Synkretismus einer Reihe von Casus in der Nominal- und Pronominaldeklination.
  8. Der Ausbau der n-Deklination beim Substantiv, die sogenannte "schwache" Deklination.
  9. Die Ausbildung und Scheidung einer starken und schwachen Adjektiv-Deklination.
  10. Der Verlust mehrerer Formenkategorien (namentlich auf dem Gebiet der Tempora und Modi) beim Verbum.
  11. Die Schaffung des "schwachen" Präteritums"

Lautverschiebungen in den Kentum- und Satemsprachen

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Die Differenzierung aufgrund der Lautverschiebungen zeigt die Entwicklung von drei Isoglossen innerhalb der indogermanische Sprachfamilie anhand der dorsalen Konsonanten auf.[2] Für die indogermanische Ursprache wurden tektale Plosive rekonstruiert, die an drei Artikulationsorten im Bereich des Gaumendachs gebildet werden: Palatale werden am vorderen (harten) Gaumen und Velare am hinteren (weichen) Gaumen artikuliert; Labiovelare werden wie Velare artikuliert, aber mit gleichzeitiger Lippenrundung.[3]

  palatal velar labiovelar
Stimmlose Plosive k
Stimmhafte Plosive g
Aspirierte stimmhafte Plosive g̑ʰ gʷʰ

Die Fortsetzungen in den indogermanischen Sprachzweigen lassen sich grob in zwei Gruppen einteilen:

Die Kentum-/Satem-Unterscheidung lässt sich wie folgt zusammenfassen (am Beispiel der stimmlosen Plosive):

  palatal velar labiovelar
Protoindoeuropäisch k
Kentumsprachen k
Satemsprachen k

Relevanz der Einteilung

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Vermutete Verwandtschaftsbeziehungen innerhalb der indoeuropäischen Sprachfamilie. Die roten Linien deuten Sprachkontakte an.

Vor hundert Jahren nahm man an, dass sich das Indogermanische zuerst in zwei Sprachen geteilt habe: eine Kentumsprache im Westen und eine Satemsprache im Osten. Alle damals bekannten westlichen indogermanischen Sprachen schienen Kentumsprachen und alle östlichen Satemsprachen zu sein.

Doch nicht erst die Entdeckung des „kentumsprachlichen“ Hethitischen und noch mehr des Tocharischen, das im Gebiet des heutigen China entdeckt wurde, widersprechen dieser Annahme. So steht zum Beispiel auch das satemsprachliche Armenisch dem kentumsprachlichen Griechisch am nächsten. Auch innerhalb des anatolischen Zweiges gibt es mit dem Hethitischen zwar eine Kentumsprache, doch zeigen z. B. das Luwische[4] und das Lykische[5] eine Satementwicklung der Palatale und keinen Zusammenfall der drei tektalen Verschlusslautreihen. Zudem erfolgte die Satemisierung erst zu einer Zeit, als sich die Einzelsprachen bereits herausgebildet hatten. Daher ist dieser Lautwandel für die Frage nach der Aufgliederung nicht relevant.[6][7][8] Die tatsächlichen Verhältnisse sind viel komplexer. Beispielsweise werden in einem vereinfachenden Stammbaum-Modell die Sprachkontakte nicht berücksichtigt. Sie sind jedoch für eine korrekte Rekonstruktion der Entwicklung unverzichtbar (vgl. die Grafik rechts).

In nichtwissenschaftlichen Kreisen wird der auffällige Unterschied zwischen Kentum- und Satemsprachen immer noch fälschlich für eine genealogische Unterteilung der indogermanischen Sprachen herangezogen.[9][10]

Wiktionary: Kentumsprache – Bedeutungserklärungen, Wortherkunft, Synonyme, Übersetzungen
Wiktionary: Satemsprache – Bedeutungserklärungen, Wortherkunft, Synonyme, Übersetzungen

Einzelnachweise

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  1. Krahe, Hans (Verfasser), Seebold, Elmar (Mitwirkender): Historische Laut- und Formenlehre des Gotischen : Zugleich eine Einführung in die germanische Sprachwissenschaften. Hrsg.: Krahe, Hans. 2. Aufl. bearb. von Elmar Seebold. Carl Winter Universitätsverlag, Heidelberg 1967, S. 11–12.
  2. J.P. Mallory; D.Q. Adams (Hrsg.): The Encyclopedia of Indo-European Culture 1997, S. 461.
  3. Hans Krahe: Einleitung in das vergleichende Sprachstudium. Institut für vergleichende Sprachwissenschaften der Universität Innsbruck 1970, ISBN 3-85124-500-8, S. 43 (Online, PDF)
  4. Michael Meier-Brügger: Indogermanische Sprachwissenschaft. 8., überarbeitete und ergänzte Auflage. Walter de Gruyter, Berlin / New York 2002, S. 130, 134.
  5. Ignacio-Javier Adiego: Greek and Lycian. In: Anastasios-Phoibos Christidis (Hrsg.): A History of Ancient Greek. From the Beginnings to Late Antiquity. Cambridge University Press, Cambridge 2007, ISBN 978-0-521-83307-3, S. 766–767.
  6. Johann Tischler: Hundert Jahre kentum-satem-Theorie. Indogermanische Forschungen (1990)95: 63–98
  7. Michael Meier-Brügger (2010:L339), Indogermanische Sprachwissenschaft. Berlin: De Gruyter
  8. Wolfram Euler und Konrad Badenheuer, Sprache und Herkunft der Germanen. Verlag Inspirations Un Limited, Frankfurt 2009: 36
  9. Wolfram Euler und Konrad Badenheuer, Sprache und Herkunft der Germanen. Verlag Inspirations Un Limited, Frankfurt 2009: 29,36
  10. J.P. Mallory; D.Q.Adams (Hrsg.): "Proto-Indo-European". Encyclopedia of Indo-European Culture. London, Chicago: Fitzroy Dearborn Publishers, 1997, ISBN 1-884964-98-2, S. 461.