Germanische Seherin

aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie
(Weitergeleitet von Schicksalsfrau)
Zur Navigation springen Zur Suche springen

Als Prophetinnen und Wahrsagerinnen sind Seherinnen bei den germanischen Völkern und Kulturen in der Zeit von der Antike bis zum Hochmittelalter bezeugt.

Bereits in der Edda gibt es das Götterlied Völuspá, eine Weissagung der Seherin altnordisch Völva ‚Stabträgerin‘,[1] die in ihren Prophezeiungen von der Entstehung und dem Ende der Welt berichtet.

Die Riesin Angurboda, die zum Geschlecht der Jotnen- oder Thursen gehörte, galt als Seherin oder Weissagerin, da sich dieses Geschlecht, nach dem germanischen Glauben, im Besitz der Weisheit und Prophezeiung befand. Ihr wurde daher der Name Völva gegeben, eine Bezeichnung der Menschen für weissagende Frauen. Allgemein wurde vermutet, dass selbst die verstorbenen Seherinnen sowohl vergangenes und gegenwärtiges, als auch zukünftiges besser kannten, als die lebenden. So wurden die Toten aus dem Grabe heraufbeschworen, um Antworten über Schicksalsrätsel zu erhalten. Insbesondere jene Seherinnen, die schon zu Lebzeiten als Orakel weissagten, wurden nach dem Tod heraufbeschworen.[2]

Bei vielen Stämmen der Germanen galten Frauen als weise und besaßen neben prophetischen Gaben auch magische Kräfte. Damit verbunden war der Glaube, dass die Frauen das Schicksal der Menschen bestimmen. Dies zeigt sich auch drin, dass die Schicksalsgöttinnen, die Nornen, das Leben bestimmten und niemand diesem Schicksal entrinnen könne.[3]

Von den Kimbern und Teutonen berichtet Strabon (7,2), dass ihr Kriegszug 120 v. Chr. (Kimbernkriege) von bestimmten alten Frauen begleitet worden sei, die aus dem Blut von Gefangenen die Zukunft voraussagten.

Cassius Dio (Historia Romana 55, 1) berichtet vom Feldzug des Drusus in die niederdeutsche Tiefebene (9 v. Chr.), dass diesem der Durchzug bis zur Elbe durch eine körperlich große, oder vom Wesen her übermenschlich wirkende Frau warnend verwehrt wurde, sodass Drusus den Feldzug abbrach.

Tacitus berichtet etwa um 100 n. Chr. in seiner Germania (Kap. 8), dass die Germanen glaubten, den Frauen liege an sich Heiliges und Seherisches inne.[4]

Bekannte Seherinnen

[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]
  • Albruna, aus dem handschriftlichen „Aurinia(m)“ (Tacitus, Germ. 8,2) so verbessert (Konjektur), ist „die mit dem Geheimwissen der Alben versehene“. Augenscheinlich hatte sie während der Feldzüge des Drusus und Tiberius einiges Ansehen und erscheint deshalb in den Berichten des Tacitus.[5][6] Der germanisierte Name setzt sich aus alb- und -rüna zusammen.[7]
  • Ganna, eine Seherin, die nach Cassius Dio (67.5) während der Zeit Domitians bei den Semnonen in hohen Ehren stand.
  • Veleda, aus dem Stamme der Brukterer stammend, taucht in den Quellen mehrfach auf, und erlangte Berühmtheit, als sie in der Zeit des Bataveraufstandes (69/70 n. Chr.) den Untergang der römischen Truppen vorhersagte. Ihr Name könnte auch nur eine Standesbezeichnung (Seher, weise Frau) sein, entsprechend dem urkeltischen Wort velet („Seher, Dichter“). Simek führt dazu aus, dass er den Zusammenhang mit völva, das zwar lautlich verwandt sei, eher für unwahrscheinlich hält.[8] Sie soll in einem Turm an der Lippe gewohnt haben.[9]
  • Waluburg, eine vermutlich suebische Seherin, die in Ägypten im Dienst der Militärverwaltung stand.[10] Karl Helm ordnet sie den semnonischen Seherinnen zu.[11]

Andere Seherinnen sind die in der Ursprungssage der Langobarden genannte Gambara und die in den fuldischen Annalen (MG.1 365) für das Jahr 847 bezeugte Thiota aus Alamannien.[12]

Eine literarisch-fiktionale Rezeption einer paganen Seherin findet sich in der Figur der Þórbjörg lítilvölva aus der altwestnordischen Sagaliteratur in der Eiríks saga rauða. In der Darstellung werden alte überkommene heidnische Inhalte reflektiert.

  • E. Mogk: Albruna. In: Johannes Hoops (Hrsg.): Reallexikon der germanischen Altertumskunde, unter Mitwirkung zahlreicher Fachgelehrten herausgegeben. Band 1: A–E. Karl J. Trübner, Straßburg 1913, S. 57 (Textarchiv – Internet Archive).
  • Walter Baetke: Die Religion der Germanen in Quellenzeugnissen. 3. Auflage. Verlag Moritz Diesterweg, Frankfurt am Main 1944.
  • Dagmar Beate Baltrusch: Und was sagt Thusnelda? Zu Macht und Einfluß germanischer Frauen. In: Ernst Baltrusch, Morten Hegewisch, Michael Meyer, Uwe Puschner, Christian Wendt (Hrsg.): 2000 Jahre Varusschlacht. Geschichte – Archäologie – Legenden. de Gruyter, Berlin / Boston 2012, ISBN 978-3-11-028251-1, S. 71–94. (Topoi. Berlin Studies of the Ancient World, 7).
  • Reinhold Bruder: Die germanische Frau im Lichte der Runeninschriften und der antiken Historiographie. In: Stefan Sonderegger (Hrsg.): Quellen und Forschungen zur Sprach- und Kulturgeschichte der germanischen Völker, Neue Folge Band 57 (181), Verlag De Gruyter, Berlin – New York 1974, ISBN 3-11-004152-9.
  • Ånders Hultgard: Seherinnen. In: Heinrich Beck, Dieter Geuenich, Heiko Steuer (Hrsg.): Reallexikon der Germanischen Altertumskunde Band 28, Verlag De Gruyter, Berlin / New York 2005, ISBN 3-11-018207-6, S. 113–121.
  • Rudolf Much: Die Germania des Tacitus. 3. Auflage. (Hrsg.) Wolfgang Lange unter Mitarbeit durch Herbert Jankuhn und Hans Fromm. Universitätsverlag Winter, Heidelberg 1967.
  • Franz Rolf Schröder: Quellenbuch zur Germanischen Religionsgeschichte. Verlag De Gruyter, Berlin und Leipzig 1933.
  • Rudolf Simek: Lexikon der germanischen Mythologie (= Kröners Taschenausgabe. Band 368). 3., völlig überarbeitete Auflage. Kröner, Stuttgart 2006, ISBN 3-520-36803-X.
  • Jiří Starý: Induktive, intuitive und inspirierte Mantik in klassischen und altnordischen Quellen der germanischen Religion. In: Wilhelm Heizmann, Klaus Böldl, Heinrich Beck (Hrsg.) Analecta Septentrionalia – Beiträge zur nordgermanischen Kultur- und Literaturgeschichte (Festschrift für Kurt Schier), de Gruyter, Berlin/New York 2009, ISBN 978-3-11-021870-1, S. 607–645. (Reallexikon der Germanischen Altertumskunde – Ergänzungsbände 65)
  • Sabine Tausend: Germanische Seherinnen In: Klaus Tausend: Im Inneren Germaniens – Beziehungen zwischen den germanischen Stämmen vom 1. Jh. v. Chr. bis zum 2. Jh. n. Chr. In: Geographica Historica. Band 25. Verlag Franz Steiner, Stuttgart 2009, ISBN 978-3-515-09416-0, S. 155–174.

Einzelnachweise

[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]
  1. Wilfried Nölle: Völva. In: Wörterbuch der Religionen: die Glaubenslehren der Völker. Wilhelm Goldmann, München 1960, S. 412 (Textarchiv – Internet Archive).
  2. Frédéric Guillaume Bergmann: Weggewohnts Lied (Vegtamskvida), der Odins Raben Orakelsang (Hrafna galdr Odins) und der Seherin Voraussicht (Völu spâ). K. J. Trübner, Strassburg 1875, S. 53–54 (n75 – Internet Archive).
  3. Weise Frauen. In: Johannes Hoops (Hrsg.): Reallexikon der germanischen Altertumskunde. Band 4: Rü–Z. K. J. Trübner, Straßburg 1919, S. 504–505 (Textarchiv – Internet Archive).
  4. Rudolf Simek: Lexikon der germanischen Mythologie. Kröner, Stuttgart 2006, S. 367 f.
  5. Rudolf Much: Die Germania des Tacitus. 1967, S. 169 f.
  6. Rudolf Simek: Lexikon der germanischen Mythologie. Kröner, Stuttgart 2006, S. 11.
  7. Moritz Schönfeld: Aurinia. In: Wörterbuch der altgermanischen Personen- und Völkernamen. C. Winter, Heidelberg 1911, S. 38 (Textarchiv – Internet Archive).
  8. Rudolf Simek: Veleda. In: Lexikon der germanischen Mythologie. A. Kröner, Stuttgart 1984, ISBN 3-520-36801-3, S. 437–438 (Textarchiv – Internet Archive – Leseprobe).
  9. Hermann Julius Meyer: Meyers Konversations-Lexikon. Bibliographisches Institut, Leipzig 1893, S. 190 (Textarchiv – Internet Archive).
  10. Rudolf Simek: Lexikon der germanischen Mythologie. Kröner, Stuttgart 2006, S. 485.
  11. Karl Helm: Waluburg, die Wahrsagerin. In: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur. Band 43, 1918, ISSN 1865-9373, S. 337–341, doi:10.1515/bgsl.1918.1918.43.337 (Textarchiv – Internet Archive).
  12. Rudolf Much: Die Germania des Tacitus. 1967, S. 170.