Soziale Diagnostik

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Soziale Diagnostik beschreibt den Prozess der systematischen Erfassung und Einordnung von Informationen des gesamten Lebensbereiches eines Menschen, um bei Problemkonstellationen von Menschen gezielt intervenieren zu können. Als Diagnostik wird laut Heiner (2015) „sowohl [der] Prozess der Informationsverarbeitung und Erkenntnisgewinnung als auch die Lehre von der Gestaltung dieses Prozesses“[1] (S. 282) bezeichnet. „Diagnosen dienen der Optimierung von Entscheidungen“ (ebd.). Dabei ist der Mensch in seiner Umwelt und in Wechselwirkung mit dieser zu betrachten.

Bereits 1917 beschrieb Richmond in den USA Soziale Diagnose als den Versuch, eine möglichst exakte Beschreibung der Situation und der Persönlichkeit eines Menschen in Beziehung zu seiner Umwelt zu erfassen und darauf aufbauend Interventionen zu planen (Richmond, 1917)[2]. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts legten vor allem Mary Richmond in den USA (Richmond, 1917)[2] und darauf aufbauend Alice Salomon (Salomon, 1927)[3] den Grundstein für Soziale Diagnostik/Social Diagnosis. Sie nutzten den Begriff Diagnose, wo zuvor „Recherche“ und „Ermittlung“ (ebd. S. 1)[3] verwendet wurden. Wie Kuhlmann (2004, S. 11)[4] beschreibt, diente sie im 19. Jahrhundert zur Unterscheidung von Leistungsberechtigten und Nicht-Leistungsberechtigten von Unterstützung im Sinne von „würdig oder unwürdig“, „verschuldet oder unverschuldet“ (Salomon, 1927, S. 2)[3] durch Armenpfleger. Die Auswahl erfolgte auf der Grundlage von gesellschaftlich aktuellen und relevanten Definitionen und moralischen Vorstellungen (Gahleitner, Hahn & Glemser, 2014)[5].

Die fruchtbaren Entwicklungen zur Zeit der Weimarer Republik im Bereich Soziale Arbeit/Soziale Diagnostik wurden durch den Nationalsozialismus unterbrochen. Die Soziale Diagnostik wurde vom Nationalsozialismus zu Selektionsverfahren missbraucht[6] womit zum Teil tödliche Folgen einhergingen (Kuhlmann, 2004)[4].

Die Bewegung der 1970er und 1980er Jahre brachte neue Aspekte in die Soziale Diagnostik, indem sie das Klientenbild wesentlich veränderten. Die Klienten werden nun als aktive Teilnehmende am Diagnostikprozess gesehen (vgl. Harnach-Beck).

Nach langjähriger Abwehr von Sozialarbeitern gegen das Thema Diagnostik im Spannungsfeld der deutschen Geschichte, Einzelfallorientierung/Therapeutisierung und gesellschaftlichen Bedingungen/Politisierung, beschäftigen sich verschiedene Sozialarbeiter seit den letzten zwei Jahrzehnten wieder verstärkt mit der Ausgestaltung von Diagnostik in der Sozialen Arbeit (Gahleitner et al. 2014)[5]. Gegenwärtig halten Diskussionen zur Sozialen Diagnostik somit wieder vermehrt Einzug in der Bereich der Sozialen Arbeit. Publikationen auf dem deutschsprachigen Markt entstehen.

Soziale Diagnostik in der Sozialen Arbeit

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Durch den Einsatz von Standards, strukturierter Informationserhebung und darauf basierenden Interventionsplanung kann eine vollständigere Erfassung und eine professionelle Distanz zum Fall zumindest teilweise unterstützt werden (Pantuček 2006)[7]. Auch für den Dialog mit anderen Fachkräften kann die Erarbeitung einer gemeinsamen Bedeutungsebene von Begrifflichkeiten für die Kommunikation hilfreich sein. Eine solche Verständigung ist deutlich weniger von subjektiver Interpretation abhängig und macht fallspezifisches Vorgehen nachvollziehbarer. Zudem können auf Grundlage von vergleichbaren Daten besser empirisch fundierte Aussagen zu „Vorkommen von sozialen Problemlagen und sozialen Hilfen“ getroffen werden (Röh, 2014, S. 90)[8].

In den verschiedenen Ansätzen, die sich in Hinblick auf Zielstellung, Setting und methodischer Umsetzung unterscheiden, zeichnen sich im Vergleich auch Übereinstimmungen ab. Hierzu gehören Lebenswelt- und Ressourcenorientierung, ein ganzheitlicher Ansatz, in dem der Prozess dabei sowohl dialogisch als auch partizipativ gestaltet wird in jeweils unterschiederlicher Schwerpunktsetzung (Heiner, 2004)[9].

Es gibt zwei Grundrichtungen, in die sich Diagnostik in der Sozialen Arbeit unterteilt. Zum einen ein hermeneutisches Fallverstehen, unter Verwendung von rekonstruktiven Verfahren und einer hohen Relevanz der Selbstdeutung der Klienten, welches in der Sozialen Arbeit lange Zeit bevorzugt genutzt wurde. Zum anderen ein klassifikatorisch-orientiertes Vorgehen, mit Einstufung und Deutung einer Situation und von Informationen auf Grundlage der Einschätzung und des Fachwissens der Fachkraft (Heiner, 2015[1], Forgber, 2014[10]). Je nach Funktion und Auftrag, die die Diagnostik zum jeweiligen Zeitpunkt hat, kann der Standardisierungsgrad ausgestaltet werden. So kann man bspw. zur Orientierung, Zuweisung, Gestaltung von Hilfen oder Risikodiagnostik unterschiedliche Schwerpunkte setzen (Heiner, 2014)[11].

Dreischritt (siehe Michael Galuske – Methoden der Sozialen Arbeit):

  1. Anamnese: Sammlung relevanter Daten für den Fall
  2. Soziale Diagnose: Zusammenfassung, Verdichtung und Deutung der gesammelten Daten durch die Fachkraft
  3. Behandlung

Soziale Diagnostik kann, professionell eingesetzt, Soziale Arbeit wesentlich bereichern, in dem sie in strukturierter, systematisierter Weise Datenerhebung ermöglicht.

Es geht um eine Erkenntnis, eine Beurteilung von komplexen Sachverhalten. Um zu möglichst nachvollziehbaren und logischen Schlussfolgerungen zu gelangen, werden strukturierte Verfahren eingesetzt, die es ermöglichen, komplexe Sachverhalte zu erheben, die Inhalte zu ordnen und auf eine Essenz, eine Diagnose, zusammenzufassen. Es ist eine Möglichkeit, die Anliegen eines Klienten zu identifizieren, zu strukturieren und zu ordnen (vgl. Cormier & Nurius & Osborn).

Der Diagnostikprozess selbst kann bereits problemreduzierend wirken, indem er Probleminhalte aufzeigt, strukturiert und einteilen hilft. Soziale Diagnostik kann als partnerschaftlicher Prozess (vgl. Bebensee) zwischen Fachkraft und Klient verstanden werden (wenngleich die Beziehung FachkraftKlient eine asymmetrische ist). Die Ergebnisqualität hängt wesentlich von der gelungenen Gestaltung des Diagnostik-Prozesses ab.

Beispiele für sozialdiagnostische Verfahren in der jüngeren Zeit sind:

  • das „Psychosoziale Ressourcenorientierte Diagnosesystem PREDI“[12]
  • die „Sozialpädagogischen Diagnose-Tabellen“ des Bayerischen Landesjugendamts[13]
  • Alice Salomon: Soziale Diagnose. Die Wohlfahrtspflege in Einzeldarstellungen, Bank 3. Carl Heymann Verlag, Berlin, 1926
  • Andreas Bebensee: Die Sozialdiagnostik als dialogischer Prozess der Erkenntnisgewinnung. In: Soziale Arbeit, 68. Jg., H. 12 (Dez.), S. 456–462, 2019
  • Maja Heiner: Diagnostik und Diagnosen in der Sozialen Arbeit. Lambertus-Verlag, 2004, ISBN 3-7841-1724-4
  • Gert-Holger Klevenow / Alban Knecht (2013): Soziale Diagnose in der Arbeitsverwaltung. In: Soziale Arbeit, 62. Jg., H. 1 (Jan.), S. 18–24
  • Peter Pantucek: Soziale Diagnostik. Verfahren für die Praxis sozialer Arbeit. FACTS Beiheft 1. Böhlau-Verlag, 2. Auflage, 2005, ISBN 3-205-77350-0
  • Peter Pantucek/Dieter Röh (Hrsg.): „Perspektiven Sozialer Diagnostik. Über den Stand der Entwicklung von Verfahren und Standards.“ LIT Verlag, 2009, ISBN 978-3-643-50074-8

Einzelnachweise

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  1. a b Maja Heiner: Diagnostik. In: Hans-Uwe Otto, Hans Thiersch (Hrsg.): Handbuch Soziale Arbeit. Ernst Reinhardt Verlag., München, Basel 2015.
  2. a b Mary Richmond: Social Diagnosis. Russel Sage Foundation, New York 1917.
  3. a b c Alice Salomon: Soziale Diagnose. Carl Heymanns Verlag, Berlin 1927.
  4. a b Carola Kuhlmann: Zur historischen Dimension der Diagnostik am Beispiel von Alice Salomon. In: Maja Heiner (Hrsg.): Diagnostik und Diagnosen in der Sozialen Arbeit. Eigenverlag des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge, Berlin 2004, S. 11–25.
  5. a b Silke Birgitta Gahleitner, Gernot Hahn, Rolf Glemser: Psychosoziale Diagnostik. Psychiatrie Verlag GmbH, Köln 2014.
  6. Carola Kuhlmann: Erbkrank oder erziehbar? Jugendhilfe zwischen Zuwendung und Vernichtung in der Fürsorgeerziehung in Westfalen 1933–1945. In: Juventa Verlag (Hrsg.): Beiträge zur Geschichte der Sozialpädagogik. 1989, S. 11, 104, 143, 176, 209, 227, 254 (pedocs.de [PDF]).
  7. Peter Pantuček-Eisenbacher: Soziale Diagnostik. In: Zeitschrift für psychosoziale Praxis und Forschung. 2. Jahrgang, Heft 2 April, 2006, S. 4–8.
  8. Dieter Röh: Klassifikation in der Sozialen Arbeit – Vorschlag eines gegenstands- und funktionsbasierten Verfahrens. In: Rolf Glemser (Hrsg.): Psychosoziale Diagnostik. Psychiatrie Verlag GmbH, Köln 2014, S. 80–93.
  9. Maja Heiner: Diagnostik und Diagnosen in der Sozialen Arbeit, Ein Handbuch. Eigenverlag des Deutschen Vereins für private und öffentliche Fürsorge, Berlin 2004.
  10. Julia Forgber: Diagnostik in der Sozialarbeit und Sozialpädagogik: Grundlinien und Diskurse. In: Rolf Glemser (Hrsg.): Psychosoziale Diagnostik. Psychiatrie Verlag GmbH, Köln 2014, S. 49- 60.
  11. Maja Heiner: Wege zu einer integrativen Grundlagendiagnostik in der Sozialen Arbeit. In: Rolf Glemser (Hrsg.): Psychosoziale Diagnostik. Psychiatrie Verlag GmbH, Köln 2014, S. 18–34.
  12. Küfner, H., Coenen, M., Indlekofer, W.: PREDI – Psychosoziale Ressourcenorientierte Diagnostik. Hrsg.: Pabst Science Publishers. 2006, ISBN 978-3-89967-292-3.
  13. Michael Macsenaere u. a.: EST! Evaluation der Sozialpädagogischen Diagnose-Tabelle. Kurzbericht. Hrsg.: IKJ Institut für Kinder- und Jugendhilfe gGmbH. 2019 (ikj-mainz.de [PDF; abgerufen am 8. Januar 2021]).