Stealthing

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Stealthing (von engl. stealth = List, Verstohlenheit, Heimlichtuerei) ist eine Form des Missbrauchs,[1] bei der ein Sexualpartner das Kondom heimlich und ohne Einwilligung des anderen Partners vor oder während der Ausübung von Geschlechtsverkehr entfernt. Die Praxis führt dazu, dass kein Safer Sex stattfindet und die Übertragung von Krankheiten und ggf. eine Schwangerschaft möglich werden.[2]

In einem erweiterten Sinn kann von Stealthing gesprochen werden, wenn ein Geschlechtspartner über die korrekte Benutzung eines beliebigen Verhütungsmittels getäuscht wurde – beim Stealthing kann also das Kondom auch ganz fehlen, oder es kann absichtlich ein defektes Kondom verwendet werden.

Geschichte und Praxis

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Stealthing wird in zahlreichen Internetforen thematisiert; laut der Journalistin Gunda Windmüller sei es ein „Trend“. In einschlägigen Foren würden männliche User behaupten, das Abstreifen des Kondoms sei ihr „gutes Recht“; wenn eine Frau mit einem Mann schliefe, müsse sie das „mit allen Konsequenzen tun“. Dagegen äußern zahlreiche Frauen die Überzeugung, diese Praxis missachte „nicht nur die körperliche Unversehrtheit, sondern auch die sexuelle Autonomie der Opfer“.[1] Der Sexualstrafrechtler Joachim Renzikowski widersprach der Behauptung, dass Stealthing ein Trend sei, es handle sich vielmehr um eine Straftat,[3] und dies insbesondere nach Verschärfung des deutschen Sexualstrafrechts 2016.

Alexandra Brodsky, Juristin an der Yale University, hat Stealthing als „schwerwiegende Verletzung der Würde und Selbstbestimmtheit“ bezeichnet und will mit einer 2017 veröffentlichten Studie zu dem Thema[4] ein Bewusstsein für diese Art des sexuellen Missbrauchs schaffen. In ihrer Arbeit hat sie jedoch darauf hingewiesen, dass es schwierig ist, auf eine juristisch einwandfreie Weise die Strafbarkeit des Stealthings zu befürworten – denn das Strafrecht regelt bloß Fälle, in welchen eine Person geschädigt oder in Gefahr gebracht wurde. Die Verletzung einer Vereinbarung (wie “Wir verwenden ein Kondom!”) hat nämlich im Strafrecht keinerlei Konsequenzen, abgesehen von den relativ neuen „Nein heißt nein“-Regeln in einigen Ländern. So ließe sich eine Strafbarkeit des Stealthings eher mit der Gefahr von Geschlechtskrankheiten begründen. Dem tritt der deutsche Strafrechtler Sebastian Keßler entgegen: Zentrales Schutzgut des Sexualstrafrechts ist die sexuelle Selbstbestimmung, nicht die körperliche Unversehrtheit. Eine Strafbarkeit lasse sich im deutschen Rechtsraum daher nicht über den Umweg einer tatsächlichen oder auch nur hypothetischen Gesundheitsgefährdung begründen. Das führe zudem zur Umdeutung des § 177 Abs. 1 StGB in ein Gefährdungsdelikt, wofür Normhistorie und Gesetzesbegründung jedoch keinerlei Anhaltspunkte bieten.[5]

Die im August/September 2010 gegen Julian Assange in Schweden erhobenen Vorwürfe drehten sich ebenfalls um Stealthing.[6]

Im Jahr 2017 wurde erstmals in der Schweiz ein Mann aufgrund von Stealthing wegen Vergewaltigung zu 12 Monaten auf Bewährung verurteilt. Die Richter am Strafgericht Lausanne sahen es als strafrechtlich relevant an, dass die Frau „unfähig war, Widerstand zu leisten“ und dass sie „den Geschlechtsverkehr abgelehnt hätte, wenn sie bemerkt hätte, dass der Mann kein Präservativ mehr trug.“[7] In zweiter Instanz wurde er wegen Schändung verurteilt, bei gleichem Strafmaß.[8]

2019 sprach das Zürcher Obergericht einen Mann frei. Zwar hält das Gericht Stealthing grundsätzlich für strafwürdig und bezeichnet das Vorgehen des Mannes als moralisch verwerflich, doch es bewege sich in einer Gesetzeslücke. Den Tatbestand der Schändung sah das Gericht als nicht erfüllt an. Das Urteil geht auf einen Vorfall vom Herbst 2017 zurück. Der damals 19-Jährige und die 18-jährige Frau lernten sich über eine Dating-Plattform kennen. Nach dem Date gingen die beiden in die Wohnung der Frau, wo es zu einvernehmlichem Sex kam. Die Frau bestand jedoch darauf, dass der Mann ein Kondom verwendet. Damit war der Mann zunächst einverstanden. Während des Aktes entledigte er sich jedoch des Kondoms, ohne die Frau darüber zu informieren. Der genaue Hergang ist jedoch umstritten.[9][10]

Das Bundesgericht hat den Zürcher Fall – und einen weiteren Fall aus Basel – beurteilt, nachdem die beteiligten Staatsanwaltschaften das Urteil weiterzogen. Im Kern legten sie dar, dass die betroffenen Frauen zum Widerstand (gegen den Sexualakt) unfähig waren, weil sie keine Kenntnis vom entfernten Kondom hatten. Das Bundesgericht jedoch stützte sich auf das Wortlaut des Art. 191 StGB:

„Wer [...] eine zum Widerstand unfähige Person in Kenntnis ihres Zustandes [...] missbraucht“

Artikel 191 des Schweizerischen Strafgesetzbuches

Nach Ansicht des Bundesgerichtes waren die betroffenen Frauen zu keinem Zeitpunkt zum Widerstand unfähig – sie verfügten lediglich nicht über die notwendige Information, um den Widerstand einzuleiten. Da die Vorinstanzen nicht wegen sexueller Belästigung (Art. 198 StGB) geprüft hatten, verwies das Bundesgericht die Fälle dorthin zurück.[11] Im Zürcher Fall wurde der Täter im September 2023 zu einer Geldbuße in Höhe von 2500 Franken verurteilt, auf Grundlage einer sexuellen Belästigung.[12]

Im Dezember 2022 urteilte der Bundesgerichtshof (BGH), dass Stealthing einen sexuellen Übergriff gemäß § 177 Abs. 1 StGB darstelle. Er begründete dies so: „Stimmt eine Person Geschlechtsverkehr ersichtlich nur unter der Voraussetzung zu, dass dabei ein Kondom genutzt werde, stehen ohne Präservativ vorgenommene sexuelle Handlungen ihrem erkennbaren Willen entgegen.“[13] Geschlechtsverkehr mit und ohne Benutzung eines Kondoms stellten verschiedene Handlungen dar. Sei mit Bezug auf eine sexuelle Handlung klar, dass eine Person diese ablehne, so sei ihr Einverständnis in Bezug auf andere sexuelle Handlungen unerheblich.[14] Diese Begründung ist zumindest missverständlich: Eine Strafbarkeit nach § 177 Abs. 1 StGB setzt voraus, dass der Täter gegen den artikulierten Gegenwillen bzgl. einer konkreten sexuellen Handlung (oder einer Variation davon) verstößt. Ein bloßes Handeln ohne zuvor eingeholtes Einverständnis des Gegenüber ist straflos.[15] Zudem kommt nach dem BGH „grundsätzlich die Verwirklichung des Regelbeispiels nach § 177 Abs. 6 Satz 2 Nr. 1 StGB in Betracht“[16] (also der Vergewaltigung).

2020 wurde in Deutschland die erste obergerichtliche Entscheidung zu Stealthing in einem Fall getroffen, in dem der Täter bei einvernehmlichem Geschlechtsverkehr, aber entgegen der Absprache ohne Kondom in die Frau eindrang und in ihr ejakulierte. Das Berliner Kammergericht urteilte, dass es sich um einen sexuellen Übergriff nach § 177 Abs. 1 StGB handelte.[17][18] Eine Verurteilung wegen Vergewaltigung scheiterte daran, dass dieser Tatbestand von den Vorinstanzen nicht angewandt worden war.[17][19] Auch in der strafrechtlichen Literatur für Deutschland wird die Auffassung vertreten, dass Stealthing nach § 177 Absatz 1, Absatz 2 Nr. 3 bzw. Absatz 6 StGB strafbar ist.[20][21][22] Nach anderer Ansicht hat sich der Täter zwar nicht nach § 177 StGB, jedoch wegen (versuchter) Körperverletzung sowie Beleidigung strafbar gemacht.[23] Das Amtsgericht Kiel wiederum sprach 2020 einen Angeklagten in einem Fall von Stealthing frei, in welchem es zu keiner Ejakulation kam.[24] Das Schleswig-Holsteinische Oberlandesgericht hob den Freispruch jedoch auf und verwies den Fall zurück an das Amtsgericht. Ein Leitsatz zu der Entscheidung lautet: „Das ‚Stealthing‘ – also das absprachewidrige Entfernen eines Kondoms beim Geschlechtsverkehr – ist jedenfalls dann gemäß § 177 Abs. 1 StGB strafbar, wenn der in einem engen raum-zeitlichen Zusammenhang erklärte Widerwillen gegen einen Geschlechtsverkehr ohne Kondom bei vom Opfer unbemerkter vorsätzlicher Entfernung des Kondoms fortwirkt.“[25][26][27]

In den Niederlanden wurde ein Mann, weil er während des Geschlechtsverkehrs mit einer Frau das Kondom entfernt hatte, zu einer Bewährungsstrafe von drei Monaten verurteilt. Das Gericht verurteilte ihn wegen Missbrauchs, nicht wegen Vergewaltigung.[28]

In Kanada verlor Craig Hutchinson 2014 eine Berufung vor dem Obersten Gerichtshof des Landes, nachdem er Löcher in seine Kondome gestochen hatte und infolgedessen seine Freundin beim ansonsten einvernehmlichem Geschlechtsverkehr schwängerte (R v. Hutchinson). Hutchinson war zu 18 Monaten Haft verurteilt worden und sein Name wurde in die kanadische National Sex Offender Registry eingetragen.[29][30]

  • Alexandra Brodsky: ‚Rape-Adjacent‘: Imagining Legal Responses to Nonconsensual Condom Removal. Columbia Journal of Gender and Law 32 (2), April 2017. (Abstract)
  • Felix Herzog: „Stealthing“: Wenn Männer beim Geschlechtsverkehr heimlich das Kondom entfernen. Eine Sexualstraftat? In: Stephan Barton, Ralf Eschelbach, Michael Hettinger, Eberhardt Kempf, Christoph Krehl & Franz Salditt (Hg.), Festschrift für Thomas Fischer, C. H. Beck, München 2018, S. 351–359.
  • Sebastian Keßler: Sexuelle Täuschungen – Strafbarkeit und Strafwürdigkeit nach deutschem Sexualstrafrecht, Berlin 2022. (Abstract)

Einzelnachweise

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  1. a b Gunda Windmüller: Dieser sogenannte „Sex-Trend“ ist in Wahrheit Missbrauch. Welt.de
  2. Wenn ein Mann heimlich das Kondom abzieht, sollte das strafbar sein auf jetzt.de, abgerufen am 27. April 2017
  3. Nora Burgard-Arp: Stealthing: „Stellungwechsel, Gummi ab“ Zeit Campus vom 12. Januar 2018; abgerufen am 20. Dezember 2018
  4. Abstract
  5. Sebastian Keßler: Sexuelle Täuschungen – Strafbarkeit und Strafwürdigkeit nach deutschem Sexualstrafrecht. Duncker & Humblot, Berlin 2022, ISBN 978-3-428-18472-9, S. 359–362.
  6. stern.de
  7. Sex ohne Kondom – wegen Vergewaltigung verurteilt auf 20min.ch, zuletzt abgerufen am 7. Januar 2018
  8. Stealthing: „Foreneinträge erstaunlich grauslich und unverblümt“. In: derstandard.at. 14. Juni 2017, abgerufen am 7. April 2019.
  9. Zürcher Stealthing-Fall – Mann streift heimlich das Kondom ab: Gericht spricht ihn frei In: Schweizer Radio und Fernsehen vom 28. November 2019
  10. «Stealthing», das heimliche Abziehen des Kondoms, ist moralisch «unterste Schublade», aber derzeit nicht strafbar In: Neue Zürcher Zeitung, 28. November 2019 
  11. "Stealthing" fällt nicht unter den Tatbestand der "Schändung". Schweizerisches Bundesgericht, 9. Juni 2022;: „Das Bundesgericht weist die Beschwerden der kantonalen Staatsanwaltschaften ab, soweit sie sich gegen den Freispruch vom Vorwurf der Schändung richteten. Es heisst die Beschwerden insoweit gut, als in beiden Fällen von den Vorinstanzen ergänzend zu prüfen sein wird, ob eine sexuelle Belästigung vorliegt.“
  12. Mann wird verurteilt, weil er heimlich das Kondom abstreifte. Schweizer Radio und Fernsehen SRF, 18. September 2023, abgerufen am 18. September 2023.
  13. BGH, Beschluss vom 13. Dezember 2022, Aktenzeichen 3 StR 372/22, Rn. 12.
  14. BGH, Beschluss vom 13. Dezember 2022, Aktenzeichen 3 StR 372/22, Rn. 13.
  15. Sebastian Keßler: Sexuelle Täuschungen – Strafbarkeit und Strafwürdigkeit nach deutschem Sexualstrafrecht. Duncker & Humblot, Berlin 2022, ISBN 978-3-428-18472-9, S. 201–267.
  16. BGH, Beschluss vom 13. Dezember 2022, Aktenzeichen 3 StR 372/22, Rn. 18.
  17. a b Kammergericht, Beschluss vom 27. Juli 2020, Aktenzeichen 4-58/20, 4 Ss 58/20, 161 Ss 48/20, Zitat (Rn. 50): „Der Senat hat es insbesondere hinzunehmen, dass dem Angeklagten trotz Vorliegens der Voraussetzungen des Regelbeispiels des § 177 Abs. 6 Satz 2 Nr. 1 StGB kein besonders schwerer Fall (und damit im Schuldspruch keine Vergewaltigung) zur Last gelegt worden ist. Eine Schuldspruchänderung im Revisionsrechtszug kam schon angesichts der besonderen Konzeption des § 177 Abs. 6 StGB, bei dem der Schuldspruch wegen Vergewaltigung unmittelbar an eine (dem Senat bei der hier gegebenen Sachlage verwehrte eigene) Strafzumessungsentscheidung geknüpft ist, nicht in Betracht.“.
  18. Verena Mayer: Heimliches Abstreifen eines Kondoms ist ein sexueller Übergriff. In: Süddeutsche Zeitung. Johannes Friedmann, 13. August 2020, abgerufen am 13. August 2020.
  19. Kammergericht in Berlin entscheidet erstmals obergerichtlich über die Strafbarkeit des sog. Stealthings (heimliches Abstreifen des Kondoms beim Geschlechtsverkehr) (PM 51/2020). In: berlin.de. 13. August 2020, abgerufen am 15. August 2020.
  20. Felix Herzog: „Stealthing“: Wenn Männer beim Geschlechtsverkehr heimlich das Kondom entfernen. Eine Sexualstraftat? In: Stephan Barton, Ralf Eschelbach, Michael Hettinger, Eberhardt Kempf, Christoph Krehl & Franz Salditt (Hg.), Festschrift für Thomas Fischer, C. H. Beck, München 2018, S. 356 f.
  21. Thomas Michael Hoffmann: Zum Problemkreis der differenzierten Einwilligung (Einverständnis) des Opfers im Bereich des § 177 StGB nach dem Strafrechtsänderungsgesetz 2016. In: NStZ. 2019, S. 16.
  22. Theo Ziegler in: BeckOK StGB, v. Heintschel-Heinegg 46. Edition, Stand: 1. Mai 2020, § 177 Rn. 9a
  23. Kevin Franzke: Zur Strafbarkeit des so genannten „Stealthings“. In: Bonner Rechtsjournal – Ausgabe 01/2019. Sandra Latzko, Lorenz Posch, Tanja Posch (Hrsg.), 7. Oktober 2019, S. 114–122, abgerufen am 14. Oktober 2019.
  24. Stealthing-Urteil des Amtsgerichts Kiel : Angeklagter freigesprochen. In: taz. 23. November 2020, abgerufen am 20. März 2021.
  25. Schleswig-Holsteinisches Oberlandesgericht, Urteil vom 19. März 2021, Az. 2 OLG 4 Ss 13/21.
  26. Vgl. Freispruch des Amtsgerichts Kiel in einem „Stealthing“-Verfahren aufgehoben. Pressemitteilung des Schleswig-Holsteinischen Oberlandesgerichts Nr. 2/2021. 19. März 2021, abgerufen am 20. März 2023.
  27. Vgl. Oberlandesgericht Schleswig hebt Freispruch für mutmaßlichen Sexualstraftäter auf. Der Spiegel, abgerufen am 19. März 2021 (Aktenzeichen: 2 OLG 4 Ss 13/21).
  28. Kondom beim Sex entfernt: Bewährungsstrafe für Niederländer. becklink 2026463. In: Beck-Online. 15. März 2023, abgerufen am 20. März 2023.
  29. Condom piercer loses Supreme Court appeal. CBC, 7. März 2014, abgerufen am 25. Juni 2022 (englisch).
  30. Supreme Court Judgment: R. v. Hutchinson. Supreme Court of Canada, 7. März 2014, abgerufen am 25. Juni 2022 (englisch).