Stier (Mythologie)
Der Stier in der europäischen Mythologie ist in zweierlei Hinsicht relevant. Zum einen steht er für Zeugungskraft und damit als Zeichen der Fruchtbarkeit. Zum anderen für die allgewaltige Kraft der Drehbewegung des Himmels.
Verbreitung
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Kreta
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]In der Vereinigung beider Charakteristika ist der kretisch-minoische Stierkult zu sehen. Dort taucht der Stier auch in Verbindung mit der Doppelaxt auf. Die Doppelaxt ist ihrerseits eine Symbolik der Sonne-Mond-Bewegungen am Himmel. Wenn bspw. im mykenischen Schachtgrab IV ein Gefäß in Stierkopfform gefunden wurde, dem eine Doppelaxt zwischen den Hörnern aus dem sonnenverzierten Schädel ragt, so versteht sich das als Gleichnis für den mit der Weltachse verwachsenen Himmelsstier, der um diese in stoisch kreisendem Lauf das Himmelsjoch zieht.
Mitteldeutschland
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Bestattungen von Rinderpaaren finden sich seit der jungsteinzeitlichen Kugelamphoren-Kultur oder der Havelländischen Kultur[1]. Dies hängt vermutlich mit dem Beginn ihrer Nutzung als Zugtier zusammen. In denselben Horizont fallen die Rindergravierungen am Züschener und Warburger Galeriegrab der Wartberggruppe.
Insbesondere die Rinderdarstellungen im Warburger Steinkammergrab neben zeitrelevanten Zeichen lassen astronomisch-kalendarische Hintergründe auch beim Totenkult erkennen.
Schließlich sind gerade in den vorbezeichneten neolithischen Kulturen des heutigen mitteleuropäischen Raumes auch Schmuckstücke in Form von Doppeläxten weit verbreitet. Ob sich allerdings die neolithische Kulttradition jenseits der Alpen mit den mediterranen, bronzezeitlichen Entwicklungsständen vergleichen lassen muss oder umgekehrt, ist unklar. Die hohe Güte der kretisch-minoischen Kulturzeugnisse muss nicht zwangsläufig mit früher entwickelten oder geistig höher entwickelten Kult- oder Himmelsvorstellungen einhergehen.
Vorderasien
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Auch in Vorderasien und im antiken Griechenland kommt ein mythologischer Himmelsstier vor – insbesondere als Werkzeug der Götter. In der iranischen Mythologie wird die Erde von einem Stier getragen[2]. Im Gilgamesch-Epos entsendet die vom sumerischen Helden-König verschmähte Liebesgöttin Ištar den Stier, um Gilgamesch zu töten, doch wird er von diesem bezwungen. In der altgriechischen Herakles-Sage gelingt es dem Helden, den Stier zu zähmen.
Literatur
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]- Gerald Unterberger: Die Gottheit und der Stier. Der Stier in Mythos, Märchen, Kult und Brauchtum. Beiträge zur Religionsgeschichte und vergleichenden Mythenforschung. Praesens, Wien 2018, ISBN 978-3-7069-1005-7.
- Gerald Unterberger: Der Stier mit der Weltsäule. Ein archaisches Mythenbild vom Bau der Welt. Praesens, Wien 2011, ISBN 978-3-7069-0639-5.
- Annika Backe: Die Stiere des Zeus. Stier und Mythos im antiken Griechenland. Kulturkommunikation, Uplengen 2006.
- Günter Dietz: Europa und der Stier. Ein antiker Mythos für Europa? Kulturgeschichtliche Reihe, 4. Sonnenberg, Annweiler 2003, ISBN 3-933264-29-4 (zum Zeus-Mythos).
- Wilhelm Heizmann, Hans Reichstein, Heiko Steuer: Hirsch. In: Reallexikon der Germanischen Altertumskunde (RGA). 2. Auflage. Band 14, Walter de Gruyter, Berlin/New York 1999, ISBN 3-11-016423-X, S. 588–612.
- Günther Kehnscherper: Kreta, Mykene, Santorin. Urania, Leipzig u. a. 1973.
- Dieter Koch: Der Stierkampf des Gilgamesch. Vom Ursprung menschlicher Kultur. Häretische Blätter, Frankfurt 2008, ISBN 978-3-931806-05-7 (zu Europa: Griechen, Italiener, Kelten, Iberer, Germanen, Schweizer).
- Ferdinand Orth: Stier. In: Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft (RE). Band III A,2, Stuttgart 1929, Sp. 2495–2520.
Einzelnachweise
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]- ↑ Herrmann Behrens, Die neolithisch-frühmetallzeitlichen Tierskelettfunde der Alten Welt. Studien zu ihrer Wesensdeutung und historischen Problematik. Veröffentlichungen des Landesmuseums für Vorgeschichte Halle 19, 1964
- ↑ Der Hakim von Nischapur Omar Chajjám und seine Rubaijat, nach alten und neuesten persischen Handschriftenfunden von Manuel Sommer, Pressler, Wiesbaden 1974, S. 42 und 146