Strukturanalyse (Psychiatrie)

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Strukturanalyse ist ein von Karl Birnbaum zwischen 1918 und 1923 aufgestelltes Konzept, um das Entstehen von endogenen Psychosen entsprechend den Grundsätzen des Strukturalismus, der Elementenpsychologie und der Strukturpsychologie verständlich und erklärbar zu machen.[1][2] Unter Struktur wird allgemein „ordentliche Zusammenfügung“, Ordnung oder auch die (unsichtbare) Anordnung der Teile eines Ganzen zueinander verstanden.[3] In der Strukturanalyse wird darunter auch der Aufbau und das Zusammenwirken ganz bestimmter Kräfte verstanden. Dabei werden pathogenetische und pathoplastische Faktoren voneinander unterschieden, die in ein dynamisches und hierarchisches Spannungsfeld einzuordnen sind. Einzelne Faktoren bzw. Elemente sind: Alter, Geschlecht, Charakter, Milieu, Erleben, Situation, Erlebnisse u. a.[4]

Aufbau der Psychose

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Wie genannte Faktoren bereits erkennen lassen, sind hier körperliche (bzw. somatisch bedingte) und seelische (bzw. psychogenetische) Elemente miteinander in einem Spannungsfeld verbunden (Psychophysische Korrelation). Die klassische deutsche Psychiatrie ging davon aus, dass körperlich determinierte Faktoren als hierarchisch bestimmend anzusehen sind. Diese sind kausal wirksame und daher pathogenetisch entscheidende Kräfte, die auch den gesetzmäßig fortschreitenden Krankheitsprozess bedingen. Sie stehen an der Spitze der Hierarchie und der ,klinischen Dignität‘. - ,Pathoplastische‘ Faktoren dagegen sind eher zufällig. Sie haben keinen Einfluss auf die ‚Krankheit an sich‘, auf das Wesen der Krankheit. Sie enthalten die sozialen und kulturellen Faktoren, die zwar keine letzten klinischen Gegebenheiten (Birnbaum) darstellen, aber doch einen gewissen Einfluss auf die Ausgestaltung der Symptomatik, die ,Krankheitserscheinungen‘, haben.[5] Die Trennung zwischen ‚Krankheit an sich‘ und ‚Krankheitserscheinungen‘ ist auf die Philosophie Kants zurückzuführen (sog. Ding an sich). So können z. B. Wahninhalte als solche ‚Krankheitserscheinungen‘durch pathoplastische Faktoren bestimmt werden. Man hat daher bestimmte Wahninhalte wie Verfolgungs- und Beeinträchtigungsideen als für die Paranoia charakteristisch angesehen.[4][5] Als Paradigma der Paranoia wurde der Fall des Hauptlehrers Wagner (Ernst August Wagner; 1874–1938) betrachtet. Die Dreiheit von typischen Erlebnisweisen, Charakter und Milieu wurde für die Ausgestaltung der Symptomatik in Form eines Beziehungs- und Verfolgungswahns als pathoplastisch angesehen. Erlebnisse, die auf die Auslösung solcher Symptomatik wie der „Schlüssel aufs Schloss“ passten, waren bei Wagner ethische Niederlagen und Erfahrungen der „beschämenden Insuffizienz“ (Masturbationskomplex und Konflikte bei „verspäteter Liebe alternder Mädchen“). Der spezifische Charakter bestand in einer sensitiven (empfindsamen) Persönlichkeitsstruktur, als Milieufaktor wurde die kleinstädtische und kleinbürgerliche Umgebung Wagners angesehen.[5]

Die psychiatriegeschichtliche Bedeutung der Strukturanalyse besteht im Übergang der Auffassung von einer monokausal heredo-konstitutionellen Auslösung der Psychosen – im Sinne der Erblichkeit – zu einer sog. strukturanalytischen Betrachtungsweise. Bei dieser ist nicht eine einzige Ursache für die Auslösung und Ausprägung der endogenen Psychosen verantwortlich zu machen. Vielmehr sind bei dem polymorphen Aufbau der Psychose zahlreiche Faktoren in einem gemeinsamen Zusammenhang zu sehen (polymorph = vielgestaltig). Diese Anschauung Birnbaums wird auch als strukturanalytische Betrachtungsweise bezeichnet. Sie ist vergleichbar mit der multikonditionalen Betrachtungsweise Kretschmers. Auch wenn Ernst Kretschmer sich nicht auf die Arbeiten von Birnbaum stützen konnte, so besteht doch ein zeitgeschichtlicher Zusammenhang, geprägt durch die Strukturpsychologie, wie sie von Wilhelm Dilthey (1833–1911) entwickelt wurde.[4] Diese kann eher als personalistische Psychologie als eine allein auf die Degenerationslehre gestützte Psychiatrie gelten.[6][7] Von der Existenzphilosophie sind Zweifel an der Kantschen Unterscheidung zwischen, Wesen‘ und, Erscheinung‘ erhoben worden.[8] Die Strukturanalyse Birnbaums unterscheidet sich vom Strukturmodell der Psyche nach Sigmund Freuds und der psychoanalytischen Lehre von den strukturellen Störungen und „strukturellen Mängeln“ im weitesten Sinne durch die Betonung psychophysiologischer Gegebenheiten (HereditätEntwicklungspsychologie).[9]

Einzelnachweise

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  1. Birnbaum, Karl: Psychische Verursachung seelischer Störungen und die psychisch bedingten abnormen Seelenvorgänge. J.F. Bergmann, Wiesbaden 1918
  2. Birnbaum, Karl: Der Aufbau der Psychose. Grundzüge der Psychiatrischen Strukturanalyse. Springer, Berlin 1923
  3. Brockhaus, F.A.: Brockhaus-Enzyklopädie. Das große Fremdwörterbuch. Brockhaus Leipzig, Mannheim 192001, ISBN 3-7653-1270-3; Lexikon-Stw. „Strukturanalyse“: Seite 1280
  4. a b c Peters, Uwe Henrik: Lexikon Psychiatrie, Psychotherapie, Medizinische Psychologie. Urban & Fischer, München 62007; ISBN 978-3-437-15061-6; (a) zu Lexikon-Stw. „Strukturanalyse“: Seite 534; (b) zu Lexikon-Stw. „paranoid“: Seite 388; (c) ) zu Lexikon-Stw. „Strukturpsychologie“. Seiten 534, (204, 216, 674) (online)
  5. a b c Tölle, Rainer: Psychiatrie. Kinder- und jugendpsychiatrische Bearbeitung von Reinhart Lempp. Springer, Berlin 71985, ISBN 3-540-15853-7; (a) zu Stw. „pathoplastisch“: Seite 212 249; (b) zu Stw. „Beziehungs- und Verfolgungswahn als Wahninhalte“: Seite 174; (c) zu Stw. „Auslösung und Ausgestaltung der Paranoia bzw. des sensitiven Beziehungswahns durch pathogene und pathoplastische Faktoren (Trias)“: Seite 174 ff.
  6. Stern, William: Person und Sache. Ableitung und Grundlehre. Bd. 1. Barth, Leipzig 1906
  7. Pauleikhoff, Bernhard: Endogene Psychosen als Zeitstörungen: Zur Grundlegung einer personalen Psychiatrie unter Berücksichtigung historischer Entwicklung. Hürtgenwald 1986
  8. Sartre, Jean-Paul: L’être et le néant. Essai d’ontologie phénoménologique. [1943] Gallimard tel, 2007, ISBN 978-2-07-029388-9; Kap. 1. „L’idée de phénomène“ und Kap. 2. „Le phénomène d’être et l’être du phénomène“ Seiten 11–16
  9. Mentzos, Stavros: Neurotische Konfliktverarbeitung. Einführung in die psychoanalytische Neurosenlehre unter Berücksichtigung neuerer Perspektiven. © 1982 Kindler, Fischer-Taschenbuch, Frankfurt 1992, ISBN 3-596-42239-6; zu Stw. „Strukturmodell“: Seite 39 f.; zu Stw. „strukturelle Störungen“: Seiten 11, 146, 177, 182 f.; zu Stw. „strukturelle Mängel“: Seiten 19, 39, 82 ff., 85, 109, 148