Tarifvertrag Gesundheitsfachberufe
Der Tarifvertrag (TV) Gesundheitsfachberufe ist ein Tarifvertrag mit Gültigkeit am Berliner Universitätsklinikum Charité, der inzwischen auch an anderen Klinken übernommen wurde. Mit dem Vertrag soll eine „realistisch erreichbare und nachhaltige Entlastung der Mitarbeitenden“[1] erreicht, personalbindende Faktoren gestaltet und eine generelle Verbesserung der Qualität erreicht werden.[2] Er wird daher auch als „Tarifvertrag Entlastung“ (TV-E) bezeichnet, wie sein Arbeitstitel während des Streiks lautete und unter dem er vielfach bekannt ist.
Der TV Gesundheitsfachberufe gilt als gelungenes Beispiel, wie ein Ausgleich zwischen den Interessen der Beschäftigten und der Arbeitgeber gefunden werden kann, wenn Personal nicht ausreichend zur Verfügung steht. Die Grundidee kommt dabei auch für andere systemrelevante Berufe mit Personalengpässen (z. B. Lehrkräfte) in Betracht.
Personalbemessung und CHEPs
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Der Vertrag unterscheidet die Stationen der Klinik in ihrem Personalbedarf und nimmt eine erste Klassifikation mittels bettenführend / nicht bettenführend vor. Gemeint sind einerseits Stationen und auf der anderen Seite Bereiche wie der operative Bereich, die Anästhesie oder Ambulanzen.
Um eine Entlastung der Beschäftigen herbeizuführen, soll zunächst nach § 3 die Belastung erfasst werden. Dazu werden tagesaktuell und schichtgenau die Besetzungszahlen einer Station (oder eines Bereiches) erfasst. Demgegenüber wird um 12 Uhr, um 18 Uhr und um 24 Uhr die Auslastung der Stationen und der geführten Betten erfasst.[2]
Indem Schichtbesetzung und Bettenauslastung gegenübergestellt werden, wird ein IST-Quotient von Pflegepersonen pro mit einem Patienten belegten Bett errechnet. Dieser Quotient wird wiederum abgeglichen mit im Tarifvertrag festgehaltenen SOLL-Besetzungen. Wird der vorgeschriebene Quotient unterschritten, so erhält die von der Unterschreitung betroffene Pflegeperson eine „belastete Schicht“.
Ein weiterer sehr wichtiger Aspekt ist die Dokumentation der Überlastung des Arbeitnehmers und der möglichen Gefährdungen des Patienten gegenüber dem Arbeitgeber.
Fünf belastete Schichten wiederum generieren einen „Charité-Entlastungspunkt“ (CHEP). Es existiert zudem ein umfangreicher Katalog an weiteren Sachverhalten, die CHEPs anteilig oder sogar direkt generieren. Dazu gehören beispielsweise eine überschrittene Leasing-Quote oder Konfrontationen mit Gewaltsituationen.
Die eigentlich intendierte Entlastung soll anhand von beschäftigungsfreien Ausgleichsschichten erreicht werden. Dabei kann ein CHEP in einen zusätzlichen Urlaubstag umgewandelt werden. Weiterhin können CHEPs in einem Sabbatical- oder einem Altersteilzeitkonto angelegt werden. Auch eine finanzielle Möglichkeit besteht, indem der CHEP ausbezahlt wird, als Erholungsbeihilfe oder Kinderbetreuungszuschuss behandelt wird.[2]
Auch hier dient für den Arbeitgeber die Notwendigkeit belastete Schichten auszugleichen und zu vermeiden letztendlich wieder dem Wohl des Patienten.
Dieses System gilt wie beschrieben nicht nur für die Pflege, sondern lässt sich analog auch auf die anderen Gesundheitsfachberufe, die vom TV-E erfasst werden, übertragen.
Weiterführende Entlastungsregeln
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Während die CHEPs den Kern des TV-E bilden, enthält dieser darüber hinausgehende Vereinbarungen, um mittel- und langfristig ein gesünderes Arbeitsklima zu schaffen.
Die sogenannten Funktionsbereiche Operationsbereich, Anästhesie, Ambulanzen, Herzkatheter und ähnliches ohne eigens zugeordnete Patienten sind unterschiedlich eher pauschal geregelt. Die angewendeten Verfahren haben die Beschäftigten entwickelt, sie funktionieren unterschiedlich gut, weil das Entgegenkommen des Arbeitgebers unterschiedlich ausfällt.
So werden beispielsweise im § 13 das spezielle Training von Führungskräften beim Konzipieren eines Dienstplans oder ein Konzept zur Vermeidung von Gewaltsituationen besprochen. Zudem soll eine Kommission „Entlastung“ einberufen werden, die im § 14 detailliert beschrieben wird. Darüber hinaus enthält der TV-E Bestimmungen hinsichtlich Personalgewinnung und -bindung.[2]
Politische Relevanz
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Durch den Tarifvertrag kann gegenüber dem Management die Belastungssituation von Pflegepersonen sichtbar gemacht werden. Auch die Konsequenz eines Freizeitausgleichs wird als arbeitsrechtliche Errungenschaft betrachtet. Der TV-E hat inzwischen eine Leuchtturmfunktion für andere deutsche Kliniken übernommen, die die Regelungen entweder bereits übernommen haben oder an denen die Beschäftigten dafür eintreten.[3][4] Da das gemeinsame Interesse von Arbeitgebern und Beschäftigen in guter Arbeit besteht, werden die Regelungen des TV-E nach aktuellem Erkenntnisstand nicht missbräuchlich genutzt. Dies liegt vor allem am Ziel, die Anzahl der belasteten Schichten zu reduzieren (bestenfalls gegen null) und am Geist des Vertrages, dass alle gemeinsam daran arbeiten.
2019 noch wurde von Gesundheitsminister Jens Spahn, die von der Gewerkschaft und vom Pflegerat vorgelegte Pflegepersonalbemessung 2.0 ignoriert.[5]
Da die Tarifverträge in erster Linie keine Lohnforderungen enthalten, werden sie von den Beschäftigten vielfach als politischer Streik, der sonst in Deutschland verboten ist, und Bewegung verstanden. Der Tarifvertrag Gesundheitsfachberufe zeigt, dass eine tarifrechtlich bindende Veränderung des Beschäftigungsverhältnisses auch durch die Einflussnahme von bisher unterrepräsentierten Pflegenden erreicht werden kann.
Verhandlungsverlauf
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Der erste Tarifvertrag zur Entlastung wurde 2015 an der Charité erstreikt. Dazu war zunächst ein Grundsatz-Gerichtsverfahren erforderlich, in dem festgestellt wurde, dass rein arbeitsorganisatorische Regelungen nicht unter die tarifliche Friedenspflicht fallen. Das deutsche Arbeitsrecht legt im Tarifrecht seit den 1950er-Jahren hohe Hürden an. Durch die neue Grundsatzentscheidung wurde es erstmals möglich, während eines bestehenden Tarifvertrags (TV-öD) dennoch für bessere Arbeitsbedingungen zu streiken (da keine finanziellen Forderungen im Raum standen). Im Zuge dessen wurde vor dem Arbeitsgericht auch die Tariffähigkeit einer Regelung zur Personalbemessung erstritten.
Tarifpolitisch standen drei Punkte im Mittelpunkt:
- Es sollte ein Verhältnis von Personal zu Patient festgelegt werden (Ratio, Quote),
- Es sollte transparent gemacht werden, dass erkannt werden kann, ob eine belastete Schicht in der konkreten Schicht vorliegt und Bemessungen eingehalten werden können,
- Für den Fall des Nichteinhaltens sollte ein Sanktionsregime verankert werden, das für die Kollegen eine Kompensation ist. Und das Unternehmen finanziell in die Verpflichtung nimmt.
Aufgrund des in Deutschland etablierten DRG-Systems war bereits vor Start der Verhandlungen klar, dass dieses Finanzierungssystem Grenzen möglicher tarifvertraglicher Regelungen ziehen wird. Wegen größerer Möglichkeiten gegenüber kleineren Kliniken wurde die Charité ausgewählt.
In der Tarifeinigung von 2015 konnte eine Personalbemessung eingeführt werden, allerdings noch ohne Quote (Ratio). Der Tarifvertrag führte zu einem Personalzuwachs. Im Tarifvertrag von 2015 gab es jedoch noch keine Sanktionsmöglichkeiten bei Nichteinhaltung der Besetzungsregel da die Charité drohte, die Verhandlungen abzubrechen. Es gab eine Gesundheitskommission (bestehend aus den Tarifparteien), die bei missachteter und unterlaufener Bemessung einberufen wurde, deren Vorschläge aber nicht zwingend umgesetzt werden mussten und auch nicht wurden. In der Folge blieben die Belastungen des Personals hoch. Es kam in den Folgejahren bis 2018 zu weiteren Abschlüssen anderer Kliniken, die aber nicht über diese Regelungen hinausgingen. Nach Auslaufen des Vertrages wurde dieser durch die Gewerkschaften nicht verlängert, da die Besetzungsregeln nicht eingehalten wurden und keine Handhabe dazu bestand.[6] Im Ergebnis wurde das Konzept überarbeitet, das im TV Gesundheitsfachberufe mündete (siehe Abschnitt Personalbemessung).
Vertragsentwicklung vor dem Hintergrund einer Pflegebewegung
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Im Jahr 2018 kündigte der damalige Gesundheitsminister Jens Spahn an, dass ein Großteil der Pflege („Pflege am Bett“) aus dem DRG-System herausgelöst wird. Unter diesem Eindruck erkämpften die Beschäftigten der Unikliniken Essen und Düsseldorf den ersten Tarifvertrag mit einer vorgeschriebenen Personalbesetzungsquote. In diesem Streik wurde die Schließung von Betten und Stationen vorangetrieben.
Weitere Voraussetzung für den Erfolg war eine weitergehende Einbindung der Politik durch das Adressieren vor Wahlen. Das Organizing wurde eingebunden. Teamdelegiertenstrukturen wurden aufgebaut, die ihr Fachwissen in die Tarifkommission und Verhandlungen einbrachten („Experten in eigener Sache“). Die Stellvertreterrolle der Gewerkschaft wurde angesprochen, aus dem gewerkschaftlichen „wir“ wurde ein aktivierendes „ihr“: Die Beschäftigten („ihr“) müssten sich organisieren, um erfolgreich zu sein. Es ging darum, aktiv zu werden und die eigenen Arbeitsbedingungen zu gestalten. Stärketests wurden durchgeführt mittels Petitionen und anderer Aktionen. Die Gesellschaft wurde angesprochen und Kooperationen gesucht.
In dieser Ausgestaltung führte ein Streik in Jena zum ersten vollständigen Erfolg der Pflegebewegung. Es folgten weitere Unikliniken. Die Klinikleitungen schämten sich zunächst dafür, sich Regelungen vom und zum Personal abgerungen zu haben und hofften, es bleibe eine kurze Episode. Nach dem Erfolg der Regelungen begannen sie jedoch, mit den Tarifverträgen nach außen zu werben. Vorläufiger Abschluss sind die Unikliniken in Nordrhein-Westfalen nach einem elfwöchigen Streik.[7][8] Der letzte große erfolgreiche Streik in Nordrhein-Westfalen an allen Unikliniken führte zur beschleunigten Einführung des Pflegepersonalbedarfsbemessungsinstrument (PPR 2.0).
Insgesamt sind 20 % des Budgets der Krankenhäuser bis 2022 aus dem DRG-System herausgenommen. Sie sind damit im Sinne des Sozialwohls des Grundgesetzes nicht mehr der seit 1985 unter der Regierung Kohl eingeführten Logik der für Krankenhäuser möglichen Profite und Gewinnsteigerungen unterworfen.
Ein Krankenhaus -- eine Belegschaft
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]In der Überzeugung, dass ein Krankenhaus von allen Beschäftigten zum Funktionieren gebracht wird, streikten die Charitébeschäftigten mit Vivantes und den Vivantes Töchtern (Wirtschafts- und Versorgungsbetriebe und weitere, die jedoch ausgegründet und unterhalb TVöD behandelt werden.) Das eigene Charité Facility Management (CFM) war leider in der Friedenspflicht, einer Hürde des deutschen Streikrechts.
Dadurch erreichte der Streik eine erhebliche Größe und Wirkung. Die Landespolitiker wurden unter Druck gesetzt, da die Leitung der landeseigenen Vivanteskliniken aus wirtschaftlichen Gründen blockierte und entgegen politischer Absicht den Streik eskalierte.
Diese Auffassung der Gemeinsamkeit aller Beschäftigten führte im medizinischen Bereich zu Regelungen für vormals gewerkschaftlich nicht organisierte und ungeregelte Bereiche:
- Funktionsbereiche
- Anästhesie und
- Operationsbereich (OP) (Regelungen bestehen zu Kräften im Saal und Springern sowie Vor- und Nachbereitungszeit.)
- Ambulanzen
- Herzkatheter
- Radiologie
Einige dieser Regeln werden leider von der Charité unterschiedlich gut bis kaum umgesetzt. Anästhesie fällt beispielsweise nicht unter „Pflege am Bett“-Refinanzierung und wird bei Finanzierungszwängen bevorzugt belastet. Andere Bereiche ähnlich.
Bezugnahme
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Arbeitsrechtlich wird vielfach Bezug genommen auf diese Tarifbewegung. Nachdem die Friedenspflicht während der Gültigkeit der Lohntarife nicht band, kam das Arbeitsgericht bei Personalbemessung des Kitapersonals 2024 zum Ergebnis, eine Friedenspflicht binde doch. Die Begründung macht tarifliche Regelungen noch kleintteiliger.[9]
Literatur
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]- Gebraucht, beklatscht – aber bestimmt nicht weiter so! Silvia Habekost und andere, VSA-Verlag, 2022, ISBN 978-3-96488-139-7, vsa-verlag.de (PDF, Leseprobe und Inhaltsverzeichnis).
- Julia Dück, Julia Garscha: Aus Sorge kämpfen In: luxemburg beiträge. Nr. 9, 2. Auflage, 2022, ISSN 2749-0939 rosalux.de (PDF; 1,2 MB).
- Theresa Tschenker, Politischer Streik, Rechtsgeschichte und Dogmatik des Tarifbezugs und des Verbots des politischen Streiks, Duncker& Humblot ISBN 978-3-428-18950-2.
Weblinks
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]- Berliner-Krankenhausbewegung
- Krankenhaus statt Fabrik untersucht die zugrundeliegende Problematik des DRG-Systems.
Einzelnachweise
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]- ↑ Die Charité hat mehrere globale Ziele und Kooperationen (M8 Alliance) zu Global Health, One Health. Sie verfolgt die Agenda 2030 woher die Wortwahl "nachhaltig" (= sustainable) rührt. Alles Ziele (neben Prestigeprojekten), die jetzt nicht der Stadtbevölkerung und den Patienten des Einzugsgebiets nützen, die sie finanzieren.
- ↑ a b c d Tarifvertrag Gesundheitsfachberufe Charité (TV Gesundheitsberufe). Berlin 15. Dezember 2021 (charite.de [PDF; abgerufen am 1. Oktober 2024]).
- ↑ Streik beendet: Einigung in Tarifstreit am Jüdischen Krankenhaus Berlin. In: Der Tagesspiegel Online. ISSN 1865-2263 (tagesspiegel.de [abgerufen am 1. Oktober 2024]).
- ↑ Tarifvertrag Pro Personal Vivantes. Berlin 12. Oktober 2021 (dgina.de [PDF; abgerufen am 1. Oktober 2024]).
- ↑ ver.di Link
- ↑ Julia Garscha, Julia Dück: Aus Sorge kämpfen. In: luxemburg beiträge. N.r 9, 2022. Seite 12
- ↑ Kalle Kunkel: Der Kampf geht weiter. Langer Atem ... In: Gebraucht, beklatscht – aber bestimmt nicht weiter so!. Seiten 93 ff
- ↑ David Wetzel, Max Manzey: Organize! Stärke aufbauen ... In: Gebraucht, beklatscht – aber bestimmt nicht weiter so!. Seiten 48 ff
- ↑ https://www.berlin.de/gerichte/arbeitsgericht/presse/pressemitteilungen/2024/pressemitteilung.1493394.php