Tevfik Esenç
Tevfik Esenç (* 1904 in Hacıosman, Landkreis Manyas; † 7. Oktober 1992 ebenda) war ein Türke, dessen Vorfahren aus dem Kaukasus stammten und der wie die meisten Mitglieder seiner ursprünglich Ubychisch sprechenden Ethnie[A 1] im Exil in der Türkei lebte. Er war der letzte Sprecher dieser mit seinem Tod ausgestorbenen kaukasischen Sprache Ubychisch und hat dadurch maßgeblich zu deren Erforschung beigetragen.
Leben
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Die Vorfahren von Esenç waren mit Ende des Kaukasuskrieges 1864, also 40 Jahre vor seiner Geburt, unter russische Herrschaft geraten und aufgrund der damit einhergehenden harten Behandlung durch Russland wie praktisch die gesamte ubychische und wie Teile der übrigen muslimischen Bevölkerung (etwa der Tscherkessen) des Nordkaukasus in die heutige Türkei (insbesondere in die Marmararegion) geflohen oder vertrieben worden.[1]
Esenç war Bauer und hatte drei Söhne, die seiner Angabe nach das Ubychische jedoch nicht erlernt hatten.[1] Er lebte im Dorf Hacıosman in der Provinz Balıkesir und war dort Bürgermeister, bis er eine Stelle in Istanbul bekam.
Esenç trug als Informant und Mitarbeiter des französischen Sprachforschers Georges Dumézil maßgeblich dazu bei, das aussterbende Ubychisch wissenschaftlich aufzuzeichnen.[2] Dumézil erachtete die Erforschung der ubychischen Sprache für in doppelter Hinsicht interessant,[1] da weltweit kaum eine Sprache so viele verschiedene Konsonanten (insgesamt bis zu 80) enthält wie das Ubychische, das jedoch gleichzeitig über lediglich zwei phonemische Vokale verfügt.[1][3] Zudem führte Dumézil mehrere Studien zur Erforschung der Frage durch, ob Ubychisch in Verbindung zur indoeuropäischen Sprachfamilie steht.[1]
Ausgestattet mit einem sehr guten Erinnerungsvermögen und einem Verständnis für fremde Sprachen, arbeitete Esenç mit Dumézil und den vielen anderen Sprachforschern mehrerer Generationen, die ihn besuchten, sehr gut zusammen. Am Ende wurde nicht nur ein Großteil der Wörter dieser ausgestorbenen Sprache, sondern auch die Mythologie und die Kultur der Ubychen von den Wissenschaftlern schriftlich festgehalten.
Esenç sprach nicht nur Ubychisch und fließend Türkisch, sondern auch den fast ausgestorbenen Hakuchi-Dialekt des Adygeischen.
Mit seinem Tod im Jahr 1992 verstarb der letzte bekannte Sprecher des Ubychischen.[2]
Siehe auch
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Weblinks
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]- Tevfik Esenc (englisch)
- Tonband der Zusammenarbeit 1986 mit Tevfik Esenç. Ein nicht vorgestellter englischsprachiger Linguist erfragt auf Türkisch mit einer Türkisch-Dolmetscherin und Esenç gibt die ubychische Übersetzung an.
Einzelnachweise
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]- ↑ a b c d e Ubykh: The language that died with a man. In: dailysabah.com. 8. Oktober 2015, abgerufen am 27. November 2024 (englisch, Quelle: Anadolu Agency).
- ↑ a b Georgij A. Klimov, Übersetzung ins Deutsche und Bearbeitung: Jost Gippert: Einführung in die kaukasische Sprachwissenschaft. Aus dem Russischen übersetzt und bearbeitet. Buske, Hamburg 1994, ISBN 3-87548-060-0, hier S. 49 (405 S., russisch: Vvedenie v kavkazskoe jazykoznanie.).
- ↑ Stephen Matthews, Maria Polinsky: Teil 2/1: Europa und Eurasien. In: Bernard Comrie, Stephen Matthews, Maria Polinsky (Hrsg.): Bildatlas der Sprachen: Ursprung und Entwicklung der Sprachen dieser Erde. Weltbild (Bechtermünz), Augsburg 1998, ISBN 3-8289-0707-5, S. 36–55, hier S. 51 (englisch: The Atlas of Languages. London (Quarto Publishing) 1996.).
Anmerkungen
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]- ↑ Die Tscherkessen und verwandte Gruppen in der Türkei bildeten ihre Identität nach Abstammungsgruppe und Sprachzugehörigkeit, bevorzugten Endogamie auf Ebene des „Stammes“ und wurden auch durch eine gemeinsame Erinnerung an das Exil zusammengehalten. Obwohl die Adyge (türk.: Adığe), Abchasen und Ubychen klar definierte Gruppen bildeten, werden sie wissenschaftlich zuweilen zusammen behandelt, da sie etisch als Tscherkessen wahrgenommen und ihnen daher von den osmanischen Behörden oft gemeinsame Siedlungen zugeteilt wurden, auch wenn sie strenggenommen nicht zu den „eigentlichen Tscherkessen“ (Adığe) gehören. Es ist umstritten, ob diese Hauptgruppen als eigenständige Völker oder lediglich als Volksstämme betrachtet werden sollten. Die Sprache als Kriterium der ethnischen Zugehörigkeit wurde im türkischen Exil besonders im urbanen Bereich durch den Einfluss von Massenmedien und türkischem Bildungswesen zunehmend ausgehebelt und es kam es zu einer internen Assimilation der Ubychen durch die „eigentlichen Tscherkessen“, wobei die Ubychen mehrheitlich die Sprache der tscherkessischen Majorität übernahmen. (Quelle: 44. Circassians and Related Groups. In: Peter Alford Andrews, unter Mitarb. von Rüdiger Benninghaus (Hrsg.): Ethnic Groups in the Republic of Turkey (= Heinz Gaube, Wolfgang Röllig [Hrsg.]: Beihefte zum Tübinger Atlas des Vorderen Orients. B, Nr. 60.1). Reichert, Wiesbaden 2002, ISBN 3-89500-297-6, S. 167–171 (Erstausgabe: 1989). Die Auflage von 2002 ist ein unveränderter Reprint der Erstauflage); Batıray Özbek: Tscherkessen in der Türkei. In: Peter Alford Andrews, unter Mitarb. von Rüdiger Benninghaus (Hrsg.): Ethnic Groups in the Republic of Turkey (= Heinz Gaube, Wolfgang Röllig [Hrsg.]: Beihefte zum Tübinger Atlas des Vorderen Orients. B, Nr. 60.1). Reichert, Wiesbaden 2002, ISBN 3-89500-297-6, S. 581–590 (Erstausgabe: 1989).
Personendaten | |
---|---|
NAME | Esenç, Tevfik |
KURZBESCHREIBUNG | letzter Sprecher der ubychischen Sprache |
GEBURTSDATUM | 1904 |
GEBURTSORT | Hacıosman (Mnyas) |
STERBEDATUM | 7. Oktober 1992 |
STERBEORT | Hacıosman (Mnyas) |