Transkulturelle Psychiatrie
Die seit Eric David Wittkower (1972) definierte Bedeutung der transkulturellen Psychiatrie lautet: „Die transkulturelle Psychiatrie ist der Zweig der Psychiatrie, der sich mit den kulturellen Aspekten der Ätiologie, der Häufigkeit und Art geistiger Erkrankungen sowie mit der Behandlung und Nachbehandlung der Krankheiten innerhalb einer gegebenen Einheit befasst.“ Der Begriff „transkulturelle Psychiatrie“, der eine Erweiterung der kulturellen Psychiatrie ist, bedeutet, dass der wissenschaftliche Beobachter über den Bereich einer kulturellen Einheit hinausblickend andere Kulturbereiche einbeziehen sollte, um sein Verständnis für einen kulturell anders geprägten Personenkreis zu schärfen. Insofern verfolgt die transkulturelle Psychiatrie ähnliche Ansätze, wie sie aus ethnologischer Sicht die Ethnopsychiatrie oder die Ethnopsychoanalyse vertritt.
Unterscheidungen
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Die transkulturelle Psychiatrie unterscheidet sich von der vergleichenden Psychiatrie insofern, als bei letzterer die verschiedenen Krankheiten miteinander verglichen werden und nicht so sehr Wert gelegt wird auf das Verständnis einzelner Betroffener, vielmehr dagegen auf kollektive geisteswissenschaftliche Aspekte.[1]
Anfänge der transkulturellen Psychiatrie
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Begründer der transkulturellen Psychiatrie war Emil Kraepelin, der einen entsprechenden psychiatrischen Bericht aus Anlass der von ihm 1904 besuchten Anstalt Buitenzorg auf Java verfasste.[2] Ähnliche Arbeiten wurden 1905 in Paris von Edouard Jeanselme durchgeführt, der die gleiche, 1881 von Holländern in eine Colonie agricole umgewandelte Anstalt wie Kraepelin besuchte. Diese Einrichtung wurde ohne Zwangsmaßnahmen betrieben.[3] Für die USA sind Benjamin Rush (1745–1813) und James Woods Babcock (1856–1922) als wichtige Protagonisten der transkulturellen Psychiatrie zu nennen, für Frankreich Jaques-Joseph Moreau de Tours (1804–1884) und für das Russische Reich Alexei Iraklijewitsch Lewschin (1797–1879).[4]
Fragestellungen
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Transkulturelle Kompetenz in der Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik:
- Ist eine Migration per se krankmachend?
- Ist jedes Symptom eines Migranten ein Hinweis auf die erfolgte Migration?
- Diagnoseerhebung, Therapie – Auswahl und Verlauf (psychopharmakologische und psychotherapeutische Therapie) aus der Sicht der transkulturellen Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik
- Umgang mit migrationsspezifischen Fragestellungen in der Medizin, insbesondere in der Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik
- Posttraumatische Belastungsstörung: Diagnosestellung und Therapie aus der Sicht der transkulturellen Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik
- Kenntnisse des Asyl- und Aufenthaltsrechtes im Umgang mit psychisch erkrankten Migranten
- Qualifizierter Umgang mit Dolmetschern im Rahmen der Diagnoseerhebung sowie der psychotherapeutischen Arbeit
- Testverfahren und deren Einsatz in der Psychiatrie aus transkultureller Sicht
- Ethnomedizinische Fragestellungen
- Regelmäßige Teilnahme an Fort- und Weiterbildungsangeboten im Bereich der transkulturellen Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik
Literatur
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]- Der Kontext Migration, Sozialmedizin, Public Health und Kultur in 80 Stichworten. In: Curare. Zeitschrift für Ethnomedizin und transkulturelle Psychiatrie. Band 29, H. 2–3, 2006, S. 195–234.
- Wielant Machleidt et al. (Hrsg.): Sonnenberger Leitlinien. Integration von Migranten in Psychiatrie und Psychotherapie. Erfahrungen und Konzepte in Deutschland und Europa. (= Forum Migration, Gesundheit, Integration. 4). Verlag für Wissenschaft und Bildung VWB, Berlin 2006, ISBN 3-86135-293-1.
- Hansjörg Assion (Hrsg.): Migration und seelische Gesundheit. Springer, Heidelberg 2005, ISBN 3-540-20218-8.
- Solmaz Golsabahi, Thomas Heise (Hrsg.): Von Gemeinsamkeiten und Unterschieden. VWB, Berlin ISBN 978-3-86135-187-0.
- Thomas Eberhard Heise (Hrsg.): Transkulturelle Beratung, Psychotherapie und Psychiatrie in Deutschland. 2., korr. Auflage. VWB, Berlin 2002, ISBN 3-86135-138-2.
- Ernestine Wohlfart, Manfred Zaumzeil: Transkulturelle Psychiatrie – Interkulturelle Psychotherapie. Interdisziplinäre Theorie und Praxis. Springer, Heidelberg 2006
- Thomas Lux (Hrsg.): Kulturelle Dimensionen der Medizin. Ethnomedizin – Medizinethnologie – Medical Anthropology. Reimer, Berlin 2003, ISBN 3-496-02766-5.
- Hannes Stubbe: Lexikon der Ethnopsychologie und der Transkulturellen Psychologie. IKO-Verlag für interkulturelle Kommunikation, Frankfurt 2005, ISBN 3-88939-746-8.
- Thomas Heise (Hrsg.) Buchreihe: Das transkulturelle Psychoforum. 20 Bände Verlag
Weblinks
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]- Unterseiten bei AGEM, Arbeitsgemeinschaft Ethnomedizin
- Homepage des Dachverbandes der transkulturellen Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik im deutschsprachigen Raum
- Psychische Leiden und Krankheiten im kulturellen Vergleich. Interview mit Helene Basu Westfälische Wilhelms-Universität
- Transkulturelle Konzepte psychischer Gesundheit und Krankheit. Praktische Implikationen für die psychotherapeutische Flüchtlingsarbeit, von Amelie Schwarzer, Otto-Friedrich-Universität Bamberg, Institut für Psychologie, Bachelorarbeit. Zugang nur individuell über Deutsche Nationalbibliographie
Einzelnachweise
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]- ↑ Uwe Henrik Peters: Wörterbuch der Psychiatrie und medizinischen Psychologie. 3. Auflage. Urban & Schwarzenberg, München 1984; S. 436 zu Lemma „Psychiatrie, transkulturelle“, S. 436 zu Lemma „Psychiatrie, vergleichende“, S. 185 zu Lemma „Ethnopsychiatrie“.
- ↑ Kraepelin: Psychiatrisches aus Java. 1904.
- ↑ Edouard Jeanselme: La Condition des Aliénés dans les Colonies Françaises, Anglaises et Néerlandaises d'Extrême-Orient. La Presse Médicale, 9 August 1905 (quod.lib.umich.edu)
- ↑ B. Engmann, H. Steinberg: Some comparative psychiatric studies in the 19th century. In: Transcultural Psychiatry. Band 55, Nr. 3, 2018, S. 428–440, doi:10.1177/1363461518767033.