Die Variation der Konstanten ist ein Verfahren aus der Theorie linearer gewöhnlicher Differentialgleichungen zur Bestimmung einer speziellen Lösung eines inhomogenen linearen Differentialgleichungssystems erster Ordnung bzw. einer inhomogenen linearen Differentialgleichung beliebiger Ordnung. Vorausgesetzt wird hierfür eine vollständige Lösung (Fundamentalsystem) der zugehörigen homogenen Differentialgleichung.
Leonhard Euler benutzte einen Vorläufer dieser Methode bereits 1748 im Zusammenhang mit astronomischen Problemen.[1][2]
In seiner heutigen Form wurde das Verfahren von dem Mathematiker Joseph-Louis Lagrange entwickelt.[3]
Seien und stetige Funktionen, dann lautet die lineare Differentialgleichung erster Ordnung[4]
- .
Definiere die Funktion
- ,
wobei geeigneten Randbedingungen genügen muss, so ist eine Stammfunktion von .
Dann ist
die Menge aller Lösungen der homogenen Differentialgleichung .
Zur Lösung der inhomogenen Differentialgleichung wird nun die Funktion eingeführt und der Ansatz der Variation der Konstanten gewählt:
- .
Dies ergibt eine eindeutige Zuordnung zwischen den Funktionen und , denn ist eine stets positive, stetig differenzierbare Funktion. Die Ableitung dieser Ansatzfunktion ist
- .
Also löst die inhomogene Differentialgleichung
genau dann, wenn
gilt. Beispielsweise ist
eine solche Funktion und somit
die spezielle Lösung mit . Also ist
die Menge aller Lösungen der inhomogenen Differentialgleichung .
Liegt an einer Spule mit der Induktivität und dem ohmschen Widerstand eine Gleichspannung an, so gilt für die Spannung an dem Widerstand
Nach dem ohmschen Gesetz gilt zudem
- .
Es handelt sich also um eine inhomogene lineare Differentialgleichung erster Ordnung mit konstanten Koeffizienten, die nun mithilfe des Verfahrens der Variation der Konstanten gelöst werden soll.
Für die zugehörige homogene Differentialgleichung
lautet die allgemeine Lösung
für ein beliebiges, aber konstantes .
Als Ansatz für die Lösung der inhomogenen Differentialgleichung ersetze man die Konstante durch einen variablen Ausdruck . Man setzt also
und versucht, eine differenzierbare Funktion so zu bestimmen, dass die inhomogene Differentialgleichung erfüllt. Es folgt
Demnach ist die inhomogene Differentialgleichung genau dann gelöst, wenn gilt
- .
Diese Randwertbedingung ist gleichbedeutend mit oder nach Integration mit . Somit lautet die Lösung der inhomogenen Differentialgleichung
- .
Die Konstante lässt sich aus der Anfangsbedingung bestimmen und ergibt für die Lösung
- .
Das obige Verfahren lässt sich auf folgende Weise verallgemeinern[5]:
Seien und stetige Funktionen und eine Fundamentalmatrix des homogenen Problems sowie diejenige Matrix, die aus entsteht, indem man die -te Spalte durch ersetzt. Dann ist
mit
die Lösung des inhomogenen Anfangswertproblems und .
Setze
Es ist , und wegen sieht man durch Differenzieren, dass die Differentialgleichung erfüllt. Nun löst
für festes das lineare Gleichungssystem
Nach der cramerschen Regel ist somit
Also gilt
Falls die Inhomogenität selber Lösung des homogenen Problems ist, d. h. , so bezeichnet man dies als Resonanzfall. In diesem Fall ist
die Lösung des inhomogenen Anfangswertproblems und .
Das Lösen einer Differentialgleichung höherer Ordnung ist äquivalent zum Lösen eines geeigneten Differentialgleichungssystems erster Ordnung. Auf diese Weise kann man obiges Verfahren nutzen, um eine spezielle Lösung für eine Differentialgleichung höherer Ordnung zu konstruieren.[6]
Seien stetige Funktionen und eine Fundamentalmatrix des homogenen Problems , deren erste Zeile lautet, sowie diejenige Matrix, die aus entsteht, indem man die -te Spalte durch ersetzt. Dann ist
mit
die Lösung des inhomogenen Anfangswertproblems und .
Man betrachte zunächst das hierzu korrespondierende Differentialgleichungssystem erster Ordnung, bestehend aus Gleichungen
- mit
Es gilt: löst die skalare Gleichung -ter Ordnung genau dann, wenn
Lösung obigen Systems erster Ordnung ist. Per definitionem ist
eine Fundamentalmatrix für dieses System erster Ordnung. Darauf wende man schließlich das oben bewiesene Verfahren der Variation der Konstanten an.
Im Fall konstanter Koeffizienten ist es gelegentlich von Vorteil, das Grundlösungsverfahren zur Konstruktion einer speziellen Lösung zu verwenden: Ist diejenige homogene Lösung von , welche
erfüllt, dann ist
diejenige spezielle Lösung von mit .
Durch Differenzieren überprüft man
und
Es ergibt sich
- ↑ Forest Ray Moulton: An Introduction to Celestial Mechanics, 2nd ed. (first published by the Macmillan Company in 1914; reprinted in 1970 by Dover Publications, Inc., Mineola, New York), page 431
- ↑ Leonhard Euler: Recherches sur la question des inégalités du mouvement de Saturne et de Jupiter, sujet proposé pour le prix de l'année 1748 par l’Académie Royale des Sciences de Paris, France: G. Martin, J.B. Coignard, & H.L. Guerin, 1749, online Bei: Google.com
- ↑ Joseph-Louis Lagrange: (1766) “Solution de différens problèmes du calcul integral,” Mélanges de philosophie et de mathématique de la Société royale de Turin, vol. 3, pages 179–380.
- ↑ Wolfgang Walter: Gewöhnliche Differentialgleichungen. 3. Auflage. Springer Verlag, 1986, ISBN 3-540-16143-0, §2, Abschnitt II
- ↑ Wolfgang Walter: Gewöhnliche Differentialgleichungen. 3. Auflage. Springer Verlag, 1986, ISBN 3-540-16143-0, §16
- ↑ Differentialgleichungen n-ter Ordnung. In: Otto Forster: Analysis II. Vieweg Verlag, 1977, ISBN 3-499-27031-5, Kapitel II, §12.