Verzerrungstensor

aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie
(Weitergeleitet von Verzerrungstensoren)
Zur Navigation springen Zur Suche springen

Verzerrungstensoren sind dimensionslose Tensoren zweiter Stufe, die das Verhältnis von Momentankonfiguration zur Ausgangskonfiguration bei der Deformation von kontinuierlichen Körpern und damit Veränderung der gegenseitigen Lagebeziehungen der Materieelemente beschreiben. Diese Änderung (Deformation) der inneren Anordnung korrespondiert mit einer Änderung der äußeren Gestalt des Festkörpers und wird damit beispielsweise als Dehnung, Stauchung, Scherung usw. sichtbar. Die Verzerrungstensoren sind eine wesentliche Größe in der Beschreibung der Kinematik der Deformation. In der Kontinuumsmechanik werden eine Reihe von verschiedenen Verzerrungstensoren definiert, deren Benennung nicht einheitlich ist.

Die Verzerrungstensoren werden vor allem für die Formulierung von Materialmodellen, z. B. der Hyperelastizität, verwendet, die eine Relation zwischen den Spannungen im Material und seinen Deformationen herstellen. Solche Materialmodelle werden dazu benutzt, Verformungen von Körpern zu berechnen.

In der Literatur ist eine Vielzahl von Verzerrungstensoren bekannt, die aus dem Deformationsgradienten gebildet werden. Für deren Definition werden die Verschiebungen

als Differenzvektor zwischen der momentanen Lage eines Partikels und seiner Ausgangslage eingeführt, mit als den materiellen Koordinaten des Partikels bezüglich der Standardbasis. Der Verschiebungsgradient[1]

ist dann die Ableitung des Verschiebungsvektors nach den materiellen Koordinaten und enthält die Ableitungen der Verschiebungen ui nach den Koordinaten Xj. Damit bekommt der Deformationsgradient die Form

worin 1 der Einheitstensor ist. Zunächst lassen sich damit der rechte Cauchy-Green-Tensor

bzgl. der Ausgangskonfiguration und der linke Cauchy-Green-Tensor

bzgl. der Momentankonfiguration bilden. Diese beiden Strecktensoren sind symmetrisch und im Fall einer Nicht-Deformation gleich dem Einheitstensor.

Für ingenieurtechnische Anwendungen werden gewöhnlich allerdings Größen gewünscht, die bei Nicht-Deformation eine Null darstellen. Dies führt auf Definitionen des Green-Lagrange-Verzerrungstensors

oder des Euler-Almansi-Verzerrungstensors

Daneben existiert aber noch eine Vielzahl weiterer ähnlicher Definitionen, die jeweils ihre Berechtigung und Vorteile in verschiedenen Theorien besitzen, siehe unten. Dort erklärt sich auch der oben auftretende Faktor ½.

Linearisierter Verzerrungstensor

[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Zur Beschreibung kleiner Verzerrungen wird in der technischen Mechanik üblicherweise der linearisierte Verzerrungstensor verwendet. Dieser Verzerrungstensor wird auch Ingenieursdehnung genannt, denn bei vielen Anwendungen im technischen Bereich liegen kleine Dehnungen vor oder sie müssen aus sicherheitstechnischen Gründen klein gehalten werden. Der linearisierte Verzerrungstensor entsteht durch Linearisierung der Größen oder Hierzu wird die Definition des Deformationsgradienten in den Verzerrungstensor eingesetzt:

Bei kleinen Verzerrungen kann der letzte Term vernachlässigt werden und so entsteht der linearisierte Verzerrungstensor

mit den Komponenten

Allgemeine Definition

[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Ein Tensor E ist ein geeignetes Verzerrungsmaß, wenn er drei Forderungen genügt[2]:

  1. E verschwindet bei Starrkörperbewegungen (Verschiebung und/oder Drehung ohne Formänderung)
  2. E ist eine monotone, stetige und stetig differenzierbare Funktion des Verschiebungsgradienten H und
  3. E geht bei kleinen Verzerrungen in den linearisierten Verzerrungstensor ε über.

Die Polarzerlegung des Deformationsgradienten F = R · U = v · R spaltet die Verformung lokal in eine reine Drehung, vermittelt durch den orthogonalen Rotationstensor R (mit R · RT und der Determinante det(R) = 1), und eine reine Streckung, vermittelt durch die symmetrischen positiv definiten rechten bzw. linken Strecktensoren U bzw. v. Letztere dienen der Definition einer Vielzahl von Verzerrungstensoren.

In seiner natürlichen Darstellung in konvektiven Koordinaten ist der rechte Strecktensor U kovariant und der linke Strecktensor v kontravariant. Diese Eigenschaft überträgt sich auf die mit ihnen gebildeten Verzerrungstensoren. Durch Invertierung werden kovariante Tensoren kontravariant und umgekehrt.

Seth-Hill-Familie von Verzerrungstensoren

[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Die Verzerrungstensoren

und

die sich für verschiedene Werte des Parameters ergeben, genügen den Bedingungen der allgemeinen Definition[3]. Die einigen gebräuchlichen Werten von entsprechenden Tensoren führt die folgende Tabelle auf:

m Verzerrungstensor Namen[4][5][6]
1 Green-Lagrange-Verzerrungstensor, Green- oder St.-Venant-Dehnungen
½ Biot-Verzerrungstensor, Materieller Biot-, Cauchy- oder Swainger-Verzerrungstensor
0 Hencky-Dehnungen, materielle logarithmische Dehnungen
−1 negativer Piola-Verzerrungstensor, Lagrange-Karni-Reiner-Verzerrungstensor

Die hier benutzten Namen stehen jeweils kursiv hervorgehoben an erster Stelle. In der räumlichen Beschreibung ergeben sich die Entsprechungen:

m Verzerrungstensor Namen[4][5][6]
1 negativer Finger-Tensor, Euler-Karni-Reiner-Verzerrungstensor
0 Räumliche Hencky-Dehnungen, räumliche logarithmische Dehnungen
Swainger-Verzerrungstensor, räumlicher Biot-Verzerrungstensor
−1 Euler-Almansi-Verzerrungstensor, Almansis- oder Hamels-Verzerrungstensor

In den Tabellen bedeutet "" Kovarianz und "" Kontravarianz. Der Funktionswert eines Tensors (z. B. ) berechnet sich durch Hauptachsentransformation, Bildung der Funktionswerte der Diagonalelemente und Rücktransformation.

Beschreibung einiger Verzerrungstensoren

[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Weil die Verzerrungstensoren der Seth-Hill-Familie bei kleinen Verzerrungen in den linearisierten Verzerrungstensor übergehen, trifft das hier gesagte bei kleinen Verzerrungen auch auf den linearisierten Verzerrungstensor zu.

Der Green-Lagrange-Verzerrungstensor

[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]
Streckung und Scherung der Tangenten (rot und blau) an materielle Linien (schwarz) im Zuge einer Deformation

Der Green-Lagrange-Verzerrungstensor ist aus dem Vergleich zweier materieller Linienelemente und im Punkt motiviert, siehe Abbildung rechts:

In einer Richtung ergibt sich über

die Dehnung:

Wenn in der Ausgangskonfiguration ist, berechnet sich:

Mit resultiert für die Scherung γ dann:

Der Euler-Almansi-Verzerrungstensor

[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Der Euler-Almansi-Verzerrungstensor

kann analog zum Green-Lagrange-Verzerrungstensor aus dem Vergleich zweier materieller Linienelemente und im Punkt motiviert werden:

Für die Dehnung in eine Richtung ergibt sich dann:

mit

Der Hencky-Verzerrungstensor

[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Der Hencky-Verzerrungstensor wird über die Hauptachsentransformation des rechten Strecktensors berechnet. Weil dieser symmetrisch und positiv definit ist, lautet seine spektrale Zerlegung

wobei λi die sämtlich positiven Eigenwerte und die auf eins normierten und paarweise orthogonalen Eigenvektoren von sind. Dann berechnet sich der Hencky-Verzerrungstensor aus

Seine Spur ist wegen

ein Maß für die Kompression am Ort. Bei kleinen Verzerrungen ist

weswegen dann die Spur des Verschiebungsgradienten oder des linearisierten Verzerrungstensors diese Rolle übernimmt.

Der Piola- und Finger-Verzerrungstensor

[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]
Streckung und Scherung der Normalen (rot und blau) an materielle Flächen (grau) im Zuge einer Deformation

Der Piola-Verzerrungstensor ist aus dem Vergleich der Normalenvektoren an materielle Flächen motiviert. Eine Familie von Flächen kann durch eine skalare Funktion

und einen Flächenparameter definiert werden. Die Normalenvektoren an diese Flächen sind die Gradienten

Im Zuge einer Deformation wird daraus

Mit einer anderen skalaren Funktion kann eine andere Familie von Flächen definiert werden, deren Normalenvektoren bzw. über

in Beziehung stehen. Der Vergleich der Skalarprodukte der Normalenvektoren in der deformierten und undeformierten Lage in einem materiellen Punkt führt auf den Piola-Verzerrungstensor

der also ein Maß für die Deformationen der materiellen Flächen ist. Der Piola-Verzerrungstensor operiert in der Ausgangskonfiguration.

Sein Gegenstück in der Momentankonfiguration ist der Finger-Tensor[5]

für den

abgeleitet werden kann.

Verzerrungsgeschwindigkeiten

[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Alle realen Materialien sind mehr oder weniger ratenabhängig, das heißt ihr Widerstand gegen eine Deformation hängt davon ab, mit welcher Geschwindigkeit diese Deformation herbeigeführt wird. Für die Beschreibung eines solchen Zusammenhangs werden Verzerrungsgeschwindigkeiten benutzt. Das Materialverhalten ist beobachterinvariant, die meisten Zeitableitungen der Verzerrungen jedoch nicht. Es wurden aber eine Reihe von Verzerrungsgeschwindigkeiten definiert, die beobachterinvariant sind.

Der rechte Strecktensor ist körperbezogen objektiv, was bedeutet, dass er von einem Wechsel des Bezugssystems unbeeinflusst ist. Gleiches gilt auch für seine materielle Zeitableitung Dementsprechend sind auch alle aus dieser Zeitableitung gebildeten Verzerrungsgeschwindigkeiten, z. B.

körperbezogen objektiv.

In der räumlichen Beschreibung kann nachgewiesen werden, dass der linke Strecktensor objektiv ist, seine Rate jedoch nicht. Für die Formulierung objektiver Raten der räumlichen Verzerrungstensoren wird der räumliche Geschwindigkeitsgradient

definiert, dessen symmetrischer Anteil

räumlicher Verzerrungsgeschwindigkeitstensor und dessen unsymmetrischer Anteil

Spin- oder Wirbeltensor heißt. Dann lautet die (objektive) kovariante Oldroyd-Ableitung eines Tensors :

Für den Euler-Almansi-Tensor e gilt insbesondere

Die kontravariante Oldroyd-Ableitung eines Tensors ist definiert als:

Die Raten der kovarianten Tensoren werden üblicherweise mit der kovarianten Oldroyd-Ableitung gebildet und die der kontravarianten Tensoren mit der kontravarianten Oldroyd-Ableitung. Die Zaremba-Jaumann-Rate eines Tensors ist ebenfalls objektiv und definiert als:

Einzelnachweise

[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]
  1. Die Fréchet-Ableitung einer Funktion nach ist der beschränkte lineare Operator der – sofern er existiert – in alle Richtungen dem Gâteaux-Differential entspricht, also
    gilt. Darin ist skalar-, vektor- oder tensorwertig aber und gleichartig. Dann wird auch
    geschrieben.
  2. Z. P. Bazant, L. Cedolin: Stability of Structures. Elastic, Inelastic, Fracture and Damage Theories. Oxford Univ. Press, 2003, ISBN 0-486-42568-1.
  3. B. R. Seth vom Indian Institute of Technology in Kharagpur war der erste der gezeigt hat, dass der Green-Lagrange- und der Euler-Almansi-Verzerrungstensor Spezialfälle dieses allgemeineren Verzerrungsmaßes sind [a][b]. Die Idee wurde von Rodney Hill in [c] weiterentwickelt.
    [a] B. R. Seth: Generalized strain measure with applications to physical problems. MRC Technical Summary Report #248 des Mathematics Research Center, United States Army, University of Wisconsin, 1961, S. 1–18, AD0266913.pdf
    [b] B. R. Seth: Generalized strain measure with applications to physical problems. IUTAM Symposium on Second Order Effects in Elasticity, Plasticity and Fluid Mechanics, Haifa 1962.
    [c] R. Hill: On constitutive inequalities for simple materials-I. In: Journal of the Mechanics and Physics of Solids. 16, Nr. 4, 1968, S. 229–242.
  4. a b Bertram (2012)
  5. a b c Haupt (2000)
  6. a b Altenbach (2012)