Wikipedia:Archiv/WikiProjekt Selbstreflexion der Wikipedia/Diskussionsseite Wissen
Das Wissen unserer Zeit
[Quelltext bearbeiten]In der Wikipedia soll das Wissen der Gegenwart gesammelt werden. Was kann als "bekanntes Wissen" gewertet werden? Und wie kann es neutral und möglichst objektiv dargestellt werden? Wissenssoziologisch kann nach den Regeln der Generierung und Strukturierung und dem Geltungsbereich verschiedener Wissensbestände gefragt werden. Aus den Regeln der Erzeugung wissenschaftlichen Wissens lassen sich Konsequenzen für die Analyse und Darstellung in der Wikipedia ableiten.
Erzeugung und Struktur von Wissensbeständen
[Quelltext bearbeiten]Wissen unterschiedlicher Art ist Gegenstand der Wissenssoziologie. Grundlegend für jede Art von Wissen ist die Alltagswelt, und der hier erlernte Wissensvorrat bildet den Bezugsrahmen jeder Wahrnehmung und Interpretation der Welt. Er setzt sich zusammen aus Typisierungen von Erfahrungen, Deutungsschemata und Problemlösungen, die nach bestimmten subjektiv und kollektiv bestimmten Relevanzkriterien ausgewählt und geordnet sind. Deutungsmuster sind kollektiv geteilte, tradierte und historisch und kulturell abhängige Interpretationsmuster, in deren Kontext eine Fülle von Typisierungen, Vorgehensweisen, Einstellungen, Orientierungen usw. erzeugt werden, die Wahrnehmen und Handeln in der Welt ermöglichen.
Das Alltagswissen enthält weiterhin Verweisungsbezüge auf außeralltägliche Sinnbereiche und zugehörige Wissensbestände wie Traum, religiöse Erfahrung, Wissenschaft usw. Wissenschaftliches Wissen wird als Sonderwissensbestand unter ganz bestimmten, definierten Kriterien gewonnen. Während im Alltag die pragmatische Handlungsorientierung im Vordergrund steht, unterliegt die Wissensgewinnung im wissenschaftlichen Bereich explizierbaren Kriterien, die eine systematische Verfahrensweise, die Definition von Begriffen, logische Konsistenz und Einhaltung logischer Schlussregeln sowie intersubjektive Überprüfbarkeit fordern. Wissenschaft beansprucht für sich aufgrund der Anwendung dieser Regeln Objektivität und Neutralität entgegen der Subjektivität in der Generierung und Nutzung des Alltagswissens. Abgesehen von den unterschiedlichen Regeln der Erzeugung und Anwendung des Wissens ist das wissenschaftliche Wissen aber genauso wie jeder Wissensvorrat in Deutungsmustern strukturiert, die sich hier als Paradigmen wiederfinden, die zulässige Theorien, Begriffe, Methoden usw. definieren.
Wissensbestände in der Wikipedia
[Quelltext bearbeiten]In der Wikipedia soll das bekannte Wissen der Gegenwart gesammelt werden. Dabei ist der Grundregeln nach neutral und möglichst objektiv vorzugehen. Das bringt das Verfahren in den Bereich eines wissenschaftlichen Anspruchs, obwohl Gegenstand der Sammlung nicht nur in der Wissenschaft generiertes Wissen ist, sondern jedes bekannte Wissen. Dazu gehören also auch kollektiv relevante Teile des Alltagswissens und andere Sonderwissensbestände aus Religion, Politik, Kultur, Esoterik, Technik, Freizeit und vieles mehr. Naturgemäß kommt es zu Differenzen darüber, was in diese Sammlung hineingehört und wie objektiv und neutral zu verstehen ist. Unter anderem kann es in folgenden Fällen zu Schwierigkeiten kommen oder sind bei Löschanträgen Kontroversen zu beobachten:
- Artikel über politische, weltanschauliche, religiöse (soweit nicht in der Theologie kanonisiert), esoterische oder sonst als „unwissenschaftlich“ eingestufte Theorien (z.B. siehe die Diskussion zur Alternativmedizin)
- Beiträge mit politisch extremen (meistens rechtsradikalen) Meinungen und nazistischem Gedankengut
- Bereiche, in denen Parteilichkeit von der intervenierenden Sozialpädagogik und Sozialpsychologie als bewusste Strategie angewendet wird (z.B. Mädchenarbeit und damit verbunden oft sexueller Missbrauch, aber auch Mobbing)
- Beiträge, die zu eben diesen Bereichen von Betroffenen geschrieben werden und die daher eine – in Bezug auf das Alltagwissen adäquate – Parteilichkeit zeigen (siehe zu 3 und/oder 4: Täterstrategien_bei_sexuellem_Missbrauch_von_Kindern und die zugehörige Diskussion beim Löschantrag)
- Artikel zu Theorien, die einen wissenschaftlichen Anspruch erheben, aber keine wissenschaftliche Anerkennung besitzen (siehe die Diskussion zum Artikel Algorithmisch Rekursive Sequenzanalyse)
- Beiträge mit dem mehr oder weniger expliziten Zweck der Werbung oder individuellen Selbstdarstellung
- nicht relevante Einzelinformationen.
Dazu hier zunächst einige allgemeine Überlegungen.
Neutralität und Objektivität in der Wissenschaft
[Quelltext bearbeiten]Grundsätzlich ist davon auszugehen, dass jedes zu beobachtende Phänomen, Geschehen und jedes mündlich oder schriftlich formulierte Wissen Gegenstand einer neutralen Analyse und Darstellung sein kann, auch wenn dieses Objekt selbst weder neutral noch objektiv ist. Dabei ist auch die Wissenschaft ständig in Gefahr Werturteile zu fällen, also ihren Grundsätzen untreu zu werden, indem sie mit der Brille ihrer Deutungsmuster (Theorien) an die Dinge herangeht und das wiederfindet, was das Instrumentarium zu erkennen erlaubt. In den Naturwissenschaften führt dies immer wieder dazu, dass Paradigmen wie die mechanische Physik eines Tages durch andere ersetzt werden, die besser in der Lage sind, eine Reihe von bis dahin unerklärbaren Phänomenen und auftretende Unregelmäßigkeiten zu erklären.
Geht dies auch nicht immer emotionslos und objektiv vonstatten (siehe die Geschichte der Ablehnung solch bahnbrechender Erkenntnisse wie die von Galilei) so ist es in den Geistes- und Sozialwissenschaften, deren Gegenstand selbst sinnstrukturiert ist und Werturteile und Interpretationen hervorbringt, noch weitaus schwieriger objektiv und neutral zu bleiben. Sehr nah befindet man hier an Ablehnung, Abwertung und Verurteilung von Dingen, die nicht sein können, weil sie politisch, ideologisch oder psychologisch nicht sein dürfen. Die diffuse Angst vor einer „Infizierung“ mit dem Sinn des Forschungsobjektes scheint eine objektive Betrachtung oft zu erschweren. Z.B. existiert(e?) – um ein "exotisches" Beispiel zu nehmen – eine einflussreiche Forschungstradition in der Völkerkunde, die mit der Brille des zivilisierten Hochmutes eingeborene Kulturen untersuchte und zu keinem anderen Ergebnis kam, als für Außenstehende zugängliche Riten zu beschreiben und als primitiv und unterentwickelt zu kennzeichnen. Der Sinn der Traditionen dieser Stammeskulturen blieb so weiterhin verborgen, die Erkenntnis war mager und unbefriedigend.
Eine Analyse und Darstellung eines Wissensbestandes verliert allerdings keineswegs ihre Neutralität, wenn sie sich darauf einlässt, das jeweilige Wissen in der internen Logik seiner Deutungsmuster zu explizieren und das System der Entwicklung, Anwendung und Rechtfertigung des Wissens nachzuvollziehen. Aus dieser Analyse erschließen sich Grundannahmen, Denkmodelle, Funktionsweisen und generative Logiken und Regeln des jeweiligen Forschungsgegenstandes, die sich darstellen lassen, ohne sie in Bezug auf ihre „Wahrheit“ oder „Gültigkeit“ innerhalb des eigenen Glaubenssystems zu beurteilen. Soweit ist die Analyse und Darstellung rein neutral und objektiv. Das bedeutet im oben angeführten Fall der Ethnologie z.B., dass es möglich und in Bezug auf den Erkenntnisgewinn sinnvoll ist, die Glaubenssysteme des Eingeborenenstammes zu erforschen und nachzuvollziehen, wie z.B. Krankheit definiert und Heilungsverfahren konzipiert sind. Um dies zu erforschen und darzustellen braucht der Forscher nicht an Heilung durch die Beschwörung von Geistern glauben. Der Versuch den Geisterglauben mit wissenschaftlichen Erkenntnissen zu widerlegen, wäre dann ein ganz anderes Vorhaben mit anderem Ziel und weitaus schwieriger objektiv zu halten, weil es über den Nachweis einer unterschiedlichen Effektivität hinaus weitreichende erkenntnistheoretische Implikationen (was ist Wahrheit, was gilt als bewiesen, welche Kriterien sind gültig usw.) enthält.
Neutral und objektiv bezieht sich also auf die Art der Analyse und Darstellung und nicht auf den Anspruch eine Entscheidung über den Wahrheitsgehalt des Wissens zu fällen.
Schlussfolgerungen
[Quelltext bearbeiten]Die Schwierigkeiten, die sich auch für die Wissenschaften hinsichtlich ihrer Objektivität ergeben, sind also beträchtlich und entsprechende Unklarheiten in der Wikipedia dürfen somit mit Nachsicht zur Kenntnis genommen werden. Bemühen wir uns um eine neutrale und sachliche Klärung der strittigen Fälle.
Zu 1: Weltanschauliche Themen - Es besteht kein Hindernis, Artikel über alle Arten weltanschaulicher, religiöser, esoterischer und sonstiger wertbehafteter Themen aufzunehmen, solange sie in der Darstellung im oben ausgeführten Sinn der Explikation der internen Logik neutral sind. Dabei können Annahmen und Sinnkonstrukte Darstellung finden, die keineswegs wissenschaftlich bewiesen oder allgemein als richtig beurteilt werden. Bewertungen, Interpretationen und divergierende Meinungen zum Thema sollten im Sinne der Neutralität von der Darstellung getrennt und durch Angabe der Vertreter dieser Meinungen gekennzeichnet werden. Wissenschaftliche Argumente sind nicht per se logischer oder wahrer als andere Denksysteme und müssen auch als solche ausgewiesen werden.
Zu 2: Gleiches gilt auch für politisch extreme Meinungen und Interessenbereiche. Im Prinzip sind politische Meinungen und Gruppierungen ebenso wie weltanschauliche analyse- und darstellungsfähig. Dabei muss allerdings auf eine sehr sorgfältig auf eine neutrale Darstellung und Kennzeichnung bestimmter Argumentationen als Meinung und auf eine Einhaltung demokratischer Grundsätze geachtet werden. Auf keinen Fall darf eine Wikipedia sich als Propagandainstrument für irgendeine Gruppe missbrauchen lassen.
'Zu 3:' Parteilichkeit als Interventionsstrategie kann ebenso neutral dargestellt werden, darf aber nicht mit der Beschreibung des Sachverhaltes vermischt werden.
Zu 4: Betroffenenmeinungen bedürfen einer ganz besonders vorsichtigen Handhabung. Sie können Aspekte des Themas enthalten, die in “offiziellen“ Analysen fehlen. Insgesamt stellen sie bei gesellschaftlich relevanten Themen eine von einer bestimmten Gruppe vertretene Meinung dar, die also solche auch darstellungsfähig ist. Wichtig wäre in diesem Fall eine deutliche Kennzeichnung des Beitrages als Argumentation einer Gruppe oder die Überarbeitung dieser Beiträge von einer Person mit entsprechenden Sachkenntnissen zu einer neutralen Darstellung. Ist erst einmal ein Edit-War ausgebrochen, wie im Fall des Artikels über Täterstrategien beim sexuellen Missbrauch, ist es sehr schwierig zu einem Konsens zu kommen. In diesem Fall spielen psychologische Aspekte eine dominierende Rolle, ein Wechsel der beteiligten Wikepedianer könnte evt. einen neuen Verhandlungsspielraum schaffen.
Zu 5: Eine Theorie mit wissenschaftlichen Anspruch, die keine wissenschaftliche Anerkennung erfährt, ist nicht immer so einfach zu beurteilen, wie es aussieht, weil es diese Grenzfälle in der Wissenschaft gibt und gegeben hat. Schließlich aber ist die Wikipedia kein Ort, um Entscheidungen über die Tragfähigkeit von wissenschaftlichen Theorien zu fällen. Nachvollziehbar ist allerdings das Ansinnen von Menschen, ihre nicht gehörten Theorien in der Wikipedia zu platzieren, da der Begriff „ frei“ nicht nur in Bezug auf eine Dokumentationslizenz verstanden wird, sondern sich auch in anderem, politisch gemeinten Sinne auflädt. Dazu könnte an anderer Stelle etwas gesagt werden (Open Content Projekte im Rahmen gesellschaftlicher Entwicklung).
Zu 6: Werbestrategien und individuelle Selbstdarstellung sind in der Regel am unstrittigsten in den Diskussionen über Löschanträgen. Trotzdem sollte im Auge behalten werden, dass es in geeigneten Fällen, z.B. bei größeren Firmen, möglich ist wie bei weltanschaulichen Themen eine neutrale Darstellung des Sachverhaltes ohne Werbecharakter zu verfassen.
zu 7: Es ist nicht immer leicht, eine Entscheidung darüber zu fällen, was ein kollektiv geteilter Wissensbestand und was eine irrelevante Einzelinformation oder Einzelmeinung darstellt. Anscheinend setzt sich der Maßstab "in Google aus mehreren Quellen auffindbar" immer mehr durch. Ob dies ein geeignetes Kriterium für alle Arten von Informationen ist, sollte noch einmal durchdacht werden. Gibt es gesellschaftliche Sinnbereiche, die im Internet noch keine Darstellung finden?
Anmerkungen
[Quelltext bearbeiten]Viele (durchaus florierende) Bereiche der aktuellen Wikipedia beschreiben weniger Wissen als vielmehr Informationen (über Filme, Bücher, Buch- und Filmhelden, Künstler) oder sogar Nachrichten (zeitlich sehr begrenzt interessante Informationen). Die Grenzen sind m.E. nicht ausdiskutiert.