Wissenskultur (Soziologie)
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Die Wissenskultur einer Gesellschaft prägt den Umgang ihrer Elite und ihrer weiteren Gesellschaftsmitglieder mit der Ressource „Wissen“. Fach- und Erfahrungswissen sind Faktoren, die wesentlich zum Wohl und zur Entwicklung einer Gesellschaft beitragen. Das Konzept der Wissenskultur umfasst diejenigen Praktiken, Mechanismen und Prinzipien, die in den einzelnen Wissensgebieten darüber bestimmen, wie wir wissen, was wir wissen.[1]
Die Wissenskultur umfasst im weitesten Sinne Erscheinungsformen menschlichen Daseins, welche auf bestimmten Wertvorstellungen und erlernten Verhaltensweisen im Umgang mit der Ressource „Wissen“ beruhen, die sich darüber hinaus in der diesbezüglichen dauerhaften Erzeugung und Erhaltung von Werten ausdrückt, und sie übt maßgeblichen Einfluss darauf aus, von welchem Geist (und von welchem Habitus) die Wissensproduktion in einem Wissensgebiet getragen ist und wie – also in welcher Situiertheit – eine Wissensproduktion zustande kommt. Die Wissenskultur beeinflusst, wie Wissenscommunities neues Wissen erarbeiten und adaptieren, welcher Kontext für soziale Interaktion (z. B. für Wissenskommunikation) vorherrscht, wie Arbeitsergebnisse der Wissensproduktion gedeutet werden und welche Bedeutung diesen beigemessen wird.
Begriffsbestimmungen und nähere begriffliche Einordnung
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Im Bereich der Wissenssoziologie bedeutet Wissenskultur je nach Definition bzw. Autor:
- (natur-)wissenschaftliche Experimentalkulturen (Karin Knorr-Cetina)
- ein Synonym für Wissensordnungen (Hans-Jörg Sandkühler)
- ein Ergebnis bzw. Verfahren der „kommunikativen Konstruktion“ (Hubert Knoblauch)
- soziologische Wissenskultur (Angelika Poferl, Reiner Keller): Das Konzept soziologischer Wissenskulturen zielt darauf ab, „zum einen sowohl den institutionell mehr oder minder stabilisierten diskursiven Strukturierungen als auch zum anderen den kontextuell situierten Erkenntnisorientierungen wissenschaftlichen Handeln“[2] nachzugehen. Soziologische Wissenskulturen werden demnach als Ausdruck der wissenschaftlichen Konstruktion von Wirklichkeit betrachtet. Poferl und Keller betonen den Handlungs- und Problemlösungsbezug von Wissenskulturen (auch jenseits der Wissenschaften).
Abgrenzung
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Der „soziologische Begriff der Wissenskultur“ verhält sich im Gegensatz zum Konzept der „organisatorischen Wissenskultur im Wissensmanagement“ nicht normativ, sondern deskriptiv. Es werden demnach keine Ratschläge an Betriebe und Firmen gegeben, sondern Wissensformen und -prozesse in sozialen Zusammenhängen beschrieben bzw. erforscht. Ebenso wenig handelt es sich um Alternativen zur lernpsychologischen Forschung zur Optimierung der Didaktik.
Vertiefung
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Unter anderem folgende Vertiefungsthemen können im Zusammenhang mit Wissenskultur von Belang sein:
- Legitimation
- Vergemeinschaftungen (Communities of Knowledge)
- Medialisierung und Informatisierung kommunikativen Handelns
- Objektivierung
- „Wissen in Aktion“ (Wissenskommunikation)
- Praxistheorie
Literatur
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]- Hans-Jörg Sandkühler: Kritik der Repräsentation (Suhrkamp 2009).
- Hubert Knoblauch, Eric Lettkemann, Rene Wilke (Hrsg.): Knowledge in Action (Springer VS 2018).
- Peter L. Berger, Thomas Luckmann: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit (Fischer; OA: 1969).
- Frank Hillebrandt: Soziologische Praxistheorien (Springer VS 2014).
- Reiner Keller, Angelika Poferl (Hrsg.): Wissenskulturen der Soziologie. Band 1 der Reihe Wissenskulturen (BeltzJuventa: 2018)
- Keller, Reiner, Angelika Poferl (2016): Soziologische Wissenskulturen zwischen individualisierter Inspiration und prozeduraler Legitimation. Zur Entwicklung qualitativer und interpretativer Sozialforschung in der deutschen und französischen Soziologie seit den 1960er Jahren, Forum Qualitative Sozialforschung Forum: Qualitative Social Research, 17(1), doi:10.17169/fqs-17.1.2419 (Historical Social Research 42 (4): 301–357 (mit Reiner Keller), doi:10.12759/hsr.42.2017.4.301-357).
- Poferl, Angelika, Reiner Keller (2017). Wissenskulturen und Soziologiegeschichte. In Handbuch Geschichte der deutschsprachigen Soziologie. Band 2: Forschungsdesign, Theorien und Methoden, Hrsg. Andrea Ploder, Stephan Moebius. Wiesbaden: Springer VS, S. 81–98. doi:10.1007/978-3-658-07999-4_30-1.
- Poferl, Angelika, Reiner Keller (2018): Form und Feld. Soziologische Wissenskulturen zwischen diskursiver Strukturierung und erkenntnisorientiertem Handeln. In Wissenskulturen der Soziologie. Band 1 der Reihe Wissenskulturen, Hrsg. Reiner Keller und Angelika Poferl. Weinheim, Basel: Beltz Juventa, S. 18–39.
- Keller, Reiner, Angelika Poferl. 2020. Soziale Probleme. Wissenssoziologische Überlegungen. Soziale Probleme 31, S. 141–163. doi:10.1007/s41059-020-00080-z.
- Keller Reiner, Angelika Poferl (Hrsg.): Reihe Wissenskulturen (Beltz/Juventa, seit 2018) (6 Bände erschienen).
Einzelnachweise
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]- ↑ Karin Knorr-Cetina: Epistemic cultures: How the sciences make knowledge. [1999], Harvard University Press, Cambridge (Mass.) Third printing 2003, ISBN 0-674-25894-0; (dt.) dieselbe, Wissenskulturen: Ein Vergleich naturwissenschaftlicher Wissensformen. Suhrkamp Verl., Frankfurt am Main 2002, ISBN 978-3-518-29194-8, S. ?
- ↑ Angelika Poferl, Reiner Keller: Form und Feld: Soziologische Wissenskulturen zwischen diskursiver Strukturierung und erkenntnisorientiertem Handeln. In: Reiner Keller, Angelika Poferl (Hrsg.): Wissenskulturen der Soziologie. (= Reihe Wissenskulturen; Bd. 1). Beltz Juventa, Weinheim/Basel 2018, ISBN 978-3-7799-3447-9, S. 18–39, darin auf S. 19.