Pikrinsäure

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Strukturformel
Struktur von Pikrinsäure
Allgemeines
Name Pikrinsäure
Andere Namen
  • 2,4,6-Trinitrophenol
  • Trinitrophenol
  • TNP
  • Weltersches Bitter[1]
Summenformel C6H3N3O7
Kurzbeschreibung

leuchtend gelbe blatt- oder prismaförmige Kristalle, die extrem bitter schmecken und beim raschen[2] Erhitzen verpuffen[3]

Externe Identifikatoren/Datenbanken
CAS-Nummer 88-89-1
EG-Nummer 201-865-9
ECHA-InfoCard 100.001.696
PubChem 6954
ChemSpider 6688
DrugBank DB03651
Wikidata Q189298
Eigenschaften
Molare Masse 229,11 g·mol−1
Aggregatzustand

fest

Dichte

1,76 g·cm−3[4]

Schmelzpunkt
pKS-Wert

0,29[5]

Löslichkeit
Sicherheitshinweise
GHS-Gefahrstoffkennzeichnung aus Verordnung (EG) Nr. 1272/2008 (CLP),[9] ggf. erweitert[8]
wasserfrei
Gefahrensymbol Gefahrensymbol

Gefahr

H- und P-Sätze H: 201​‐​301​‐​311​‐​331
P: 210​‐​212​‐​230​‐​233​‐​280​‐​301+310​‐​370+380+375​‐​501[10]
MAK

Schweiz: 0,1 mg·m−3 (gemessen als einatembarer Staub)[11]

Soweit möglich und gebräuchlich, werden SI-Einheiten verwendet.
Wenn nicht anders vermerkt, gelten die angegebenen Daten bei Standardbedingungen (0 °C, 1000 hPa).

Pikrinsäure (altgriechisch πικρός pikrós ‚bitter‘) ist der Trivialname für 2,4,6-Trinitrophenol (TNP). Die Säure besteht aus einem Benzolring, an den eine Hydroxygruppe (–OH) und drei Nitrogruppen (–NO2) als Substituenten gebunden sind. Sie gehört damit zur Stoffgruppe der Trinitrophenole. Ihre Salze heißen Pikrate.

Pikrinsäure (Historische Farbstoffsammlung der TU Dresden)

Durch Behandlung von Indigo mit Salpetersäure konnte Peter Woulfe als erster 1771 Pikrinsäure darstellen.[12][13] Neben der Gelbfärbung von Seide hatte sie zunächst noch keine Bedeutung.[14] Die Substanz war das erste detonierende, brisante Geschoss-Füllmittel und wurde als Lyddit, Ekrasit, Schimose oder Melinit ab 1886 so verwendet, nachdem der Franzose Eugène Turpin die Sprengstoffeigenschaft der Pikrinsäure entdeckt hatte.[14] 1864 verfasste der deutsche Arzt Wilhelm Erb eine Arbeit über Physiologische und therapeutische Wirkungen der Pikrin-Säure. 1865 habilitierte er sich auch mit einer Arbeit zu dieser Thematik.[15] Im ausgehenden 19. Jahrhundert wurde Pikrinsäure verbreitet zum Färben von Backwaren verwendet und war als Weltersches Bitter[1] bekannt. Dies wurde nach zahlreichen Vergiftungsfällen jedoch unterbunden. Bei der katastrophalen Halifax-Explosion im Jahre 1917 detonierten unter anderem 2300 Tonnen Pikrinsäure.[16] Pikrinsäure wurde im Ersten und z. T. auch im Zweiten Weltkrieg als Sprengladung für Granaten verwendet.[17] Wegen der unkontrollierten Bildung von sehr stoßempfindlichen Schwermetallpikraten ersetzte man die Pikrinsäure durch TNT.

1998 und 2000 fanden zwei Rückrufaktionen in Thüringen statt, um Pikrinsäure aus Schulen zurückzuholen, weil Versuche nicht mehr im Lehrplan vorgesehen waren. In anderen deutschen Bundesländern wurde erst 2008 wieder auf die Gefahr aufmerksam gemacht.[18] 2012 und 2013 wurde Pikrinsäure an Schulen in Berlin und Friedrichshafen entdeckt und vom Kampfmittelbeseitigungsdienst entsorgt.[19] 2023 und 2024 wurden an 4 Schulen in Niederösterreich jeweils kleine Mengen an (getrockneter) Pikrinsäure, wohl früher für die Demonstration der Detonationswirkung beschafft, von Polizei, Feuerwehr und Entschärfungsdienst sicher entsorgt.[20][21]

Darstellung und Gewinnung

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Die Pikrinsäure wird über die Sulfonierung von Phenol zu Phenol-2,4-disulfonsäure und nachfolgende Behandlung mit Salpetersäure hergestellt.[14]

Synthese von Pikrinsäure
Synthese von Pikrinsäure

Alternativ bietet sich die Darstellung aus Chlorbenzol über 2,4-Dinitrochlorbenzol, 2,4-Dinitrophenol und dessen erneute Nitrierung an.[22] Eine direkte Herstellung der Substanz gelingt durch die Oxynitrierung von Benzol durch konzentrierte Salpetersäure in Gegenwart von Quecksilber(II)-nitrat.[14] Früher wurde Pikrinsäure auch aus Akaroidharz hergestellt.

Pikrinsäure bildet leuchtend gelbe, stark bitter schmeckende Kristalle. Sie ist nur schwer in kaltem Wasser löslich, besser löslich in siedendem Wasser und leicht löslich in Ethanol und Benzol. Bedingt durch die Häufung elektronenziehender Nitrogruppen (–NO2) reagiert die phenolische Hydroxygruppe der Pikrinsäure stark sauer (pKs = 0,29). Pikrinsäure kristallisiert in der orthorhombischen Raumgruppe Pca21 mit a = 9,13 Å, b = 18,69 Å, c = 9,79 Å und α = β = γ = 90°.[23]

Physikalische Gefahren

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An der Luft verbrennt Pikrinsäure mit starker Rauchentwicklung; bei sehr raschem Erhitzen oder einer Initialzündung detoniert sie. Pikrinsäure ist empfindlich gegen thermische (Hitze, Feuer) und mechanische (Schlag, Reibung) Belastung und gilt im Sinne des Sprengstoffgesetzes als Sprengstoff. Für den Versand zur Verwendung als Laborchemikalie (siehe unten) wird die kristallisierte Säure durch Zugabe von 30 bis 50 Prozent Wasser stabilisiert („phlegmatisiert“).

Tabelle mit wichtigen explosionsrelevanten Eigenschaften:
Bildungsenergie −865,9 kJ·kg−1[24]
Bildungsenthalpie −936,2 kJ·kg−1[24]
Sauerstoffbilanz −45,4 %[24]
Stickstoffgehalt 18,34 %[24]
Normalgasvolumen 881 l·kg−1[24]
Explosionswärme 3546 kJ·kg−1 (H2O (l))
3465 kJ·kg−1 (H2O (g))[24]
Spezifische Energie 1033 kJ·kg−1 (105,3 mt/kg)[24]
Bleiblockausbauchung 31,5 cm3·g−1[24]
Detonationsgeschwindigkeit 7350 m·s−1
Stahlhülsentest Grenzdurchmesser 4 mm[24]
Schlagempfindlichkeit 7,4 Nm[24]
Reibempfindlichkeit bis 353 N keine Reaktion[24]

Pikrinsäure bildet mit zahlreichen anorganischen und organischen Basen Salze, die als Pikrate bezeichnet werden. Als starke Säure greift sie in wässriger Lösung zudem unedle Metalle unter Pikratbildung an. Einige der Salze z. B. Bleipikrat sind extrem empfindlich gegenüber Schlag, Reibung und Funken. Sie verhalten sich somit wie Initialsprengstoffe. Ammoniumpikrat wurde als Sprengstoff verwendet.

Ebenfalls als Pikrate bezeichnet werden die Charge-Transfer-Komplexe, die Pikrinsäure mit Aromaten bildet. Diese Feststoffe sind oft schwerlöslich und farbig. Wegen der charakteristischen und scharfen Schmelzpunkte (z. B. Benzol-Pikrat 84 °C,[5] Toluol-Pikrat 88 °C,[5] Anthracen-Pikrat 138 °C[5]) wurde Pikrinsäure vor allem früher als Nachweisreagenz zur Identifikation von Aromaten verwendet.

Pikrinsäure ist giftig. Auf der Haut kann sie starke allergische Reaktionen hervorrufen. Die Kontamination mit Stäuben und Dämpfen ist daher zu vermeiden.

Primär dient die Pikrinsäure der Farbstoffindustrie zur Herstellung von 2-Amino-4,6-dinitrophenol (Pikraminsäure). Sie wurde früher zusammen mit Gummi arabicum und destilliertem Wasser zur Herstellung gelber Tinte verwendet. Ein weiteres Einsatzgebiet ist die organische Analytik zum Nachweis von Aminen, Alkaloiden und Kreatinin. Diese basischen Stoffe bilden gelbe Salze, welche durch ihren Schmelzpunkt charakterisiert werden (Derivat-Bildung).

In der Histologie wird Pikrinsäure in dem Fixiergemisch nach Bouin (Bouinsche Lösung) verwendet.

In der Mikroskopie verwendet man Pikrinsäure als Bestandteil von Fixierflüssigkeiten (zur Konservierung zellulärer Strukturen) und zum Anfärben von Präparaten. Ein weiteres Einsatzgebiet von Pikrinsäure ist die Metallografie. Hier wird die Substanz zum Ätzen metallischer Oberflächen verwendet, z. B. bei der Präparation von Magnesiumlegierungen oder bei Seigerungsuntersuchungen an Stählen. Die Ätzung der Stähle wird mit Igeweskys-Reagenz, einer fünfprozentigen Lösung von Pikrinsäure in wasserfreiem Alkohol, durchgeführt. Pikrinsäure dient auch der Kreatinin-Konzentrationsmessung: Kreatinin bildet in alkalischer Lösung mit Pikrinsäure einen Meisenheimer-Komplex (Jaffé-Reaktion), dessen rote Farbe photometrisch gemessen wird.

Amine bilden mit Pikrinsäure Salze, die einen scharfen, charakteristischen Schmelzpunkt haben. Früher (und heute noch in der Chemieausbildung) wurden Amine so nachgewiesen und identifiziert.

Pikrinsäure ist im Sinne des deutschen Sprengstoffgesetzes als explosionsgefährlicher Stoff der Stoffgruppe A (trocken) bzw. C (mit 25 % Wasser angefeuchtet) gemäß § 1 Abs. 3 Sprengstoffgesetz eingestuft.[25] Für Privatpersonen ist trockene Pikrinsäure somit nach § 27 SprengG erlaubnispflichtig. Trocken ist Pikrinsäure in Lagergruppe 1.1 oder I bzw. als Gefahrgut in Klasse 1.1 (Stoffe, die massenexplosionsfähig sind) eingestuft,[4] angefeuchtet mit 30 % Wasser in Lagergruppe 1.4.[26]

Als handelsübliches Produkt ist Pikrinsäure mit > 30 % Wasser angefeuchtet und damit phlegmatisiert.[4] Angefeuchtet (> 30 % Wasser) verhält sich Pikrinsäure wie ein entzündlicher Feststoff und wird zum Transport als Entzündbarer fester Stoff der Gefahrgutklasse 4.1 nach ADR gekennzeichnet.[27]

Pikrinsäure wird in aller Regel mit mindestens 30 % Wasser phlegmatisiert gelagert und gilt dann nicht mehr als explosionsgefährlich, die GHS-Kennzeichnung lautet dann wie folgt:

Pikrinsäure mit > 30 % Wasser
GHS-
Kennzeichnung

Gefahrensymbol Gefahrensymbol
Signalwort: Gefahr[4]
H-Sätze 206​‐​302​‐​311+331[4]
P-Sätze 210​‐​212​‐​230​‐​233​‐​280​‐​370+380+375​‐​501[4]
  • Louis F. Fieser, Mary Fieser: Lehrbuch der Organischen Chemie. übersetzt und bearbeitet von Hans R. Hensel. Verlag Chemie, Weinheim 1954, S. 663–665.
Commons: Pikrinsäure – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien
Wiktionary: Pikrinsäure – Bedeutungserklärungen, Wortherkunft, Synonyme, Übersetzungen

Einzelnachweise

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  1. a b Weltersches Bitter. In: Brockhaus' Kleines Konversations-Lexikon. 5. Auflage. Band 2, Leipzig 1911, S. 970.
  2. D`Ans, Ellen Lax, Taschenbuch für Chemiker und Physiker, Band II, Springer-Verlag 1964.
  3. A. Bernthsen: Kurzes Lehrbuch der organischen Chemie. Friedr. Vieweg & Sohn, Braunschweig 1914.
  4. a b c d e f g h Eintrag zu Pikrinsäure, angefeuchtet mit mindestens 30 Masse% Wasser in der GESTIS-Stoffdatenbank des IFA, abgerufen am 15. Januar 2021. (JavaScript erforderlich)
  5. a b c d e CRC Handbook of Tables for Organic Compound Identification. 3. Auflage. 1984, ISBN 0-8493-0303-6.
  6. a b c A. Koffler; M. Brandstätter: Zur isomorphen Vertretbarkeit von H, OH, Cl: s-Trinitrobenzol, Pikrinsäure, Pikrylchlorid. In: Monatshefte Chem. 78, 1948, S. 65–70. doi:10.1007/BF00942489.
  7. Henry Watts: A Dictionary of Chemistry and the Allied Branches of Other Sciences ... Longmans, 1883, S. 402 (eingeschränkte Vorschau in der Google-Buchsuche).
  8. Eintrag zu Pikrinsäure, trocken oder mit weniger als 30 % Wasser angefeuchtet in der GESTIS-Stoffdatenbank des IFA, abgerufen am 3. Februar 2024. (JavaScript erforderlich)
  9. Eintrag zu Picric acid im Classification and Labelling Inventory der Europäischen Chemikalienagentur (ECHA), abgerufen am 1. August 2016. Hersteller bzw. Inverkehrbringer können die harmonisierte Einstufung und Kennzeichnung erweitern.
  10. Datenblatt Picric acid bei Sigma-Aldrich, abgerufen am 3. Februar 2024 (PDF).
  11. Schweizerische Unfallversicherungsanstalt (Suva): Grenzwerte – Aktuelle MAK- und BAT-Werte (Suche nach 88-89-1 bzw. Pikrinsäure), abgerufen am 2. November 2015.
  12. P. Woulfe: Experiments to shew the nature of aurum mosaicum in Philosophical Transactions of the Royal Society of London 61 (1771) 114–130.
  13. Rolf Werner Soukup: Chemiegeschichtliche Daten organischer Substanzen, Version 2020, S. 135 pdf.
  14. a b c d Eintrag zu Pikrinsäure. In: Römpp Online. Georg Thieme Verlag, abgerufen am 14. Juni 2014.
  15. W. Erb: Die physiologischen und therapeutischen Wirkungen der Pikrinsäure. In: Archiv Pharm. 181, 1867, S. 123–124. doi:10.1002/ardp.18671810180
  16. Jay White: Exploding Myths: The Halifax Explosion in Historical Context. In: Alan Ruffman, Colin D. Howell (Hrsg.): Ground Zero: A Reassessment of the 1917 explosion in Halifax. Nimbus Publishing, 1994, ISBN 1-55109-095-3, S. 266.
  17. Arbeitshilfe für die Untersuchung von Sprengplätzen, PDF-Datei auf www.lfu.bayern.de
  18. Carola Padtberg: Pikrinsäure-Alarm: "Das Zeug gehört nicht an Schulen". In: Der Spiegel. 18. August 2008 (spiegel.de [abgerufen am 29. November 2024]).
  19. Explosionsgefahr: Lehrerin entdeckt Pikrinsäure im Schrank. In: Der Spiegel. 7. November 2013 (spiegel.de [abgerufen am 29. November 2024]).
  20. Pikrinsäure entdeckt: HTL Mödling evakuiert. In: orf.at. 22. Oktober 2024, abgerufen am 22. Oktober 2024.
  21. Andreas Kössl: Pikrinsäure entdeckt: Zwei Schulen in Waidhofen/Ybbs evakuiert. In: NÖN. 23. Oktober 2024, abgerufen am 23. Oktober 2024.
  22. Hans Beyer, Wolfgang Walter: Organische Chemie. 22. Auflage. S. Hirzel Verlag, Stuttgart 1984, ISBN 3-7776-0485-2, S. 504–505.
  23. V. Bertolasi, P. Gilli, G. Gilli: Hydrogen Bonding and Electron Donor-Acceptor (EDA) Interactions Controlling the Crystal Packing of Picric Acid and Its Adducts with Nitrogen Bases. Their Rationalization in Terms of the pKa Equalization and Electron-Pair Saturation Concepts. In: Cryst. Growth Des. 2011, 11, 2724–2735, doi:10.1021/cg101007a.
  24. a b c d e f g h i j k J. Köhler, R. Meyer, A. Homburg: Explosivstoffe. 10., vollständig überarbeitete Auflage. Wiley-VCH, Weinheim 2008, ISBN 978-3-527-32009-7, S. 234.
  25. Altstoffliste im Bundesanzeiger Nr. 233 a vom 16. Dezember 1986 nebst Berichtigung BAnz. Nr. 51, S. 2635 vom 14. März 1987.
  26. Bundesanstalt für Materialprüfung, Lagergruppenzuordnung von anderen explosiven Stoffen, Berlin.
  27. Hommel: Handbuch der gefährlichen Güter. Springer-Verlag.