Anna Hájková
Anna Hájková (geboren 27. September 1978 in Prag) ist eine tschechische und britische Historikerin mit dem Schwerpunkt europäische Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts. Sie forschte und publizierte zur jüdischen Alltagsgeschichte und zur queeren Geschichte des Holocaust. Seit 2013 lehrt sie an der britischen Universität Warwick.
Leben und Forschung
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Anna Hájková ist die Enkelin des tschechischen Historikers Miloš Hájek (1921–2016). Er war ein Unterzeichner der Charta 77 und ist ein Gerechter unter den Völkern.[1] Ihre Großmutter, Alena Hájková (1924–2012), Historikerin und Gerechte unter den Völkern, forschte speziell über tschechische Juden im Widerstand gegen den Nationalsozialismus.[2]
Von 1998 bis 2006 studierte Anna Hájková Neuere Geschichte mit den Nebenfächern Anglistik und Soziologie an der Humboldt-Universität zu Berlin und der Universität von Amsterdam. Mit der sozialhistorischen Studie Die Juden aus den Niederlanden im Ghetto Theresienstadt, 1943-1945 schloss sie ihr Magisterstudium bei Hartmut Kaelble ab. Sie erhielt mehrere Forschungsstipendien, darunter das Ben and Zelda Cohen Fellowship des Holocaust Memorial Museums.[3] und das Leo Baeck Fellowship der Studienstiftung des Deutschen Volkes. Im akademischen Jahr 2006/07 war sie Doktorandin an der University of Pittsburgh.[4] 2013 promovierte sie mit einem Stipendium der Fondation pour la Mémoire de la Shoah an der University of Toronto. Ihre Dissertation The Prisoner Society in Terezín Ghetto, 1941-1945, in der sie das Alltagsleben und die Selbstorganisation der inhaftierten Jüdinnen und Juden unterschiedlicher Nationalitäten im Ghetto Theresienstadt untersuchte, wurde mit dem Irma Rosenberg-Förderpreis für die Erforschung des Nationalsozialismus und 2014 dem Herbert-Steiner-Preis ausgezeichnet.[5][6]
Zwischen 2013 und 2018 war sie Assistant Professor für Neuere Geschichte Europas an der Universität Warwick, anschließend bis 2023 Associate Professor. 2015/16 forschte sie, gefördert durch die Alexander von Humboldt-Stiftung, als Gastwissenschaftlerin am Historischen Seminar der Universität Erfurt zum Aufbau des Sozialismus in Zentraleuropa zwischen 1930 und 1970.[7] Seit 2023 ist sie Direktorin des Centre for Global Jewish Studies der Universität Warwick.[8]
Hájková publizierte zur queeren Geschichte des Holocaust, darunter über Fredy Hirsch.[9] In ihrem 2021 erschienenen Buch Menschen ohne Geschichte sind Staub. Homophobie und Holocaust berichtet sie von vielen Beispielen queerer Beziehungen in der Lagergesellschaft.[10] Sie engagiert sich für das Gedenken an lesbische Frauen, die im Nationalsozialismus verfolgt wurden.[11]
Zu Hájkovás Verwendung des Begriffs »queer« schrieb die Historikerin Elissa Mailänder: „Um der vermeintlichen Binarität zwischen Homosexualität und Heterosexualität kritisch zu begegnen, aber auch, um gleichgeschlechtliche Sexualität nicht als Identität festzuschreiben, greift die Historikerin bewusst auf die Begrifflichkeiten »queere« Menschen und »gleichgeschlechtliches Verhalten« zurück. […] Die Begriffe »homosexuell«, »schwul« oder »lesbisch« lässt Hájková jedoch dort stehen, wo sie sich mit Selbstidentifikation verbinden.[12]“ Ihre Forschung sei konzeptionell wie theoretisch anspruchsvoll und habe konkrete gesellschaftspolitische Folgen: „Das Benennen von Homophobie innerhalb der historischen Lagergemeinschaften beziehungsweise nach 1945 in der Gemeinschaft der Überlebenden, aber auch innerhalb der historischen Zunft stößt auf massive Kritik und sorgt im Feuilleton immer wieder für Aufsehen.“[13]
2021 veröffentlichte sie das Buch The Last Ghetto: An Everyday History of Theresienstadt, in der sie die Alltagsgeschichte des Lagers analysierte und forderte, hergebrachte Narrative („Meistererzählungen“) kritisch zu hinterfragen.[14]
Sonstiges Wirken
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Von 2006 bis 2009 war Anna Hájková Mitherausgeberin der Jahrbücher Theresienstädter Studien und Dokumente. Sie ist die Vorsitzende des wissenschaftlichen Beirats der tschechischen Gesellschaft Společnost pro queer paměť (Gesellschaft für Queeres Gedächtnis)[15] und assoziiertes Mitglied des Zentrums für Holocaust Studien und Jüdische Literatur an der Karls-Universität Prag.
2018 gründete sie mit dem Historiker Martin Šmok die Marie-Schmolková-Gesellschaft (Společnost Marie Schmolkové), die sich für die Anerkennung von Sozialarbeiterinnen im Holocaust einsetzt.
Zusammen mit der Regisseurin und Dramaturgin Erika Hughes entwickelte Hájková das dokumentarische Theaterstück The Amazing Life of Margot Heuman auf der Grundlage ihrer Gespräche mit Heumann, das 2021 Premiere auf dem Brighton’s Fringe Festival in Großbritannien hatte[16] und 2022 im Jüdischen Museum Wien gezeigt wurde.[17] Im Zentrum steht dabei das Leben der 2022 verstorbenen Margot Heumann, die als Zeitzeugin und Holocaustüberlebende über ihre Erlebnisse als lesbische Frau während der Verfolgung im Nationalsozialismus berichtet.
Kontroverse
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Die Tochter einer Holocaust-Überlebenden (gestorben 2010) reichte 2019 Klage wegen Veröffentlichungen von Hájková ein, in denen diese behauptet hatte, dass die Mutter der Klägerin, eine tschechische Jüdin, im Konzentrationslager Neuengamme ein lesbisches Verhältnis mit der SS-Aufseherin Anneliese Kohlmann gehabt haben könnte. Das Landgericht Frankfurt befand die Klage der Tochter teilweise für begründet. Hájkovás wissenschaftlichen Aufsatz nahm es davon ausdrücklich aus, sah aber in ihren Vortragsankündigungen einen „entstellenden Eingriff in das Lebensbild der Mutter“. Vor nachträglicher namentlichen Offenbarung einer angeblichen homosexuellen Beziehung schütze das postmortale Persönlichkeitsrecht. Im November 2020 entschied das Landgericht, Hájková müsse ein Ordnungsgeld von 4000 Euro zahlen, die Klägerin den Großteil der Verfahrenskosten.[18][19][20]
Auszeichnungen
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]- 2013: Catharine Stimpson Prize for Outstanding Feminist Scholarship für ihr Essay Sexual Barter in Times of Genocide: Negotiating the Sexual Economy of the Theresienstadt Ghetto[21][22]
- 2014: Irma Rosenberg-Förderpreis
- 2014: Herbert-Steiner-Preis
- 2020: Orpheus Iris Preis[23]
Schriften (Auswahl)
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]- Monografien
- Die letzten Berliner Veit Simons. Holocaust, Geschlecht und das Ende des deutsch-jüdischen Bürgertums, mit Maria von der Heydt, Hentrich & Hentrich, Berlin 2019, ISBN 978-3-95565-301-9.[24]
- Menschen ohne Geschichte sind Staub. Homophobie und Holocaust, (Reihe: Hirschfeld-Lectures; Bd. 14), Wallstein-Verlag, Göttingen 2021, ISBN 978-3-8353-3769-5.
- The Last Ghetto. An Everyday History of Theresienstadt. Oxford University Press Inc 2021, ISBN 978-0-19-005177-8. (englisch)
- Buchbeiträge und Artikel
- Das Polizeiliche Durchgangslager Westerbork. In: Wolfgang Benz, Barbara Distel (Hrsg.): Terror im Westen. Nationalsozialistische Lager in den Niederlanden, Belgien und Luxemburg 1940–1945, Metropol Verlag, Berlin 2004, ISBN 978-3-936411-53-9, S. 217–248
- Strukturen weiblichen Verhaltens in Theresienstadt. In: Gisela Bock (Hrsg.): Genozid und Geschlecht. Jüdische Frauen im nationalsozialistischen Lagersystem. Campus-Verlag, Frankfurt a. M., New York 2005, ISBN 3-593-37730-6, S. 202–220
- Die fabelhaften Jungs aus Theresienstadt. Junge tschechische Männer als dominante soziale Elite im Theresienstädter Ghetto. In: Christoph Dieckmann, Babette Quinkert (Hrsg.): Im Ghetto 1939 - 1945. Neue Forschungen zu Alltag und Umfeld. Wallstein Verlag, Göttingen 2009, ISBN 978-3-8353-0510-6, S. 116–135
- Der Judenälteste und seine SS-Männer. Benjamin Murmelstein und seine Beziehung zu Adolf Eichmann und Karl Rahm. In: Ronny Loewy, Katharina Rauschenberger (Hrsg.): „Der Letzte der Ungerechten“. Der „Judenälteste“ Benjamin Murmelstein in Filmen 1942 -1975. Campus-Verlag, Frankfurt a. M., New York 2011, ISBN 978-3-593-39491-6, S. 75–101
- Ältere deutsche Jüdinnen und Juden im Ghetto Theresienstadt. In: Beate Meyer (Hrsg.): Deutsche Jüdinnen und Juden in Ghettos und Lagern (1941-1945): Łodź, Chełmno, Minsk, Riga, Auschwitz, Theresienstadt, Metropol Verlag, Berlin 2017, ISBN 978-3-86331-314-2, S. 201–221
- Den Holocaust queer erzählen, in: Jahrbuch Sexualitäten 2018, hrsg. im Auftrag der Initiative Queer Nations von Janin Afken u. a., Wallstein Verlag, Göttingen 2018, ISBN 978-3-8353-4307-8, S. 86–110
- Queere Geschichte und der Holocaust, Aus Politik und Zeitgeschichte, Jg. 68, Nr. 38/39 2018, S. 42–47.
- Medicine in Theresienstadt. In: Social History of Medicine, Band 33, Ausgabe 1, Februar 2020, S. 79–105, doi:10.1093/shm/hky066
- Aus Prag nach San Francisco: Die unglaubliche Geschichte der lesbischen Widerstandskämpferin Irene Miller. In: Sabine Arend, Petra Frank (Hrsg.): Ravensbrück denken. Gedenk- und Erinnerungskultur im Spannungsfeld von Gegenwart und Zukunft. Festschrift zum Abschied von Insa Eschebach als Leiterin der Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück, Metropol Verlag, Berlin 2020, ISBN 978-3-86331-539-9, S. 82–91.
- Herausgabe
- Alltag im Holocaust. Jüdisches Leben im Großdeutschen Reich 1941-1945. Hrsg. zus. mit Doris Bergen, Andrea Löw, Oldenbourg Verlag (=Schriftenreihe der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte Band. 106), München 2013, ISBN 978-3-486-70948-3.
Weblinks
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]- Literatur von und über Anna Hájková im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek
- Kurzbiografie und Rezensionen zu Werken von Anna Hájková bei Perlentaucher
- Anna Hájková, Universität Warwick
- Anna Hájková am Centrum pro studium holokaustu a židovské literatury, Prag
- »Die Jeunesse Dorée des Holocaust: Das Ghetto als Gesellschaft der Ungleichen«, Vortrag von Anna Hájková (YouTube), Symposium Kunst und Kultur im Ghetto Theresienstadt, Jüdisches Museum Berlin 2. März 2014
- Bibliografie von Anna Hájková zu Situation lesbischer und transgeschlechtlicher Frauen im Nationalsozialismus
Einzelnachweise
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]- ↑ Charter 77 spokesman Miloš Hájek dies at 94, Radia Praha, 26. Februar 2016
- ↑ „The autobiography The Memory of the Czech Left, written by my own grandfather—the resistance fighter, historian of the Third International, and dissident Miloš Hájek—is full of important men in his life: František Kriegel, Václav Havel, Jan Křen. But his first wife, my grandmother, Alena Hájková, who was with him in the resistance, an eminent historian herself—to this day the expert of the Czech Jews in the resistance—is mentioned only in passing.“ In: Anna Hájková: Israeli Historian Otto Dov Kulka Tells Auschwitz Story of a Czech Family That Never Existed, Tablet Magazine, 30. Oktober 2014
- ↑ Ben and Zelda Cohen Fellow Ms. Anna Hájková, United States Holocaust Memorial Museum
- ↑ University of Pittsburgh Calendar of Events, April 12-18 | University of Pittsburgh News. Abgerufen am 12. November 2017 (englisch).
- ↑ Verleihung der Irma Rosenberg-Preise 2014, Universität Wien
- ↑ Herbert-Steiner-Preis 2014, DÖW
- ↑ Dr. Anna Hajkova, Humboldt-Stiftung ( des vom 13. November 2017 im Internet Archive) Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis.
- ↑ Centre for Global Jewish Studies, Department of History, University of Warwick(abgerufen am 5. Dezember 2023)
- ↑ Jung, schwul – und von den Nazis ermordet. In: Der Tagesspiegel Online. 31. August 2018, ISSN 1865-2263 (tagesspiegel.de [abgerufen am 16. September 2018]).
- ↑ Jan Sternberg: Historikerin: Queere Beziehungen gehören zur Holocaustgeschichte, RND, 26. Januar 2023
- ↑ Hanno Hauenstein: Historikerin: „Gedenken an queere NS-Opfer muss raus aus der Nische“. In: www.berliner-zeitung.de. 26. Januar 2023, abgerufen am 4. Dezember 2023.
- ↑ Elissa Mailänder: Von Geschichten, die wir nicht hören wollen. NS-Forschung jenseits von Binarität. In: NS-Geschichte als Herausforderung. Neue und alte Fragen, hrsg. Redaktion der Beiträge zur Geschichte des Nationalsozialismus, Wallstein Verlag, Göttingen 2022, ISBN 978-3-8353-5027-4, S. 96/97
- ↑ Elissa Mailänder: Von Geschichten, die wir nicht hören wollen. NS-Forschung jenseits von Binarität, S. 97
- ↑ Historikerin: "Die queeren Holocaust-Opfer kommen nicht vor". In: Der Standard. Abgerufen am 29. April 2021.
- ↑ CENTRUM QUEER PAMĚTI
- ↑ Margot Heuman obituary, The Times, 7. Juni 2022
- ↑ Screening: "The Amazing Life of Margot Heuman", Museum Dorotheergasse, 29. Juni 2022
- ↑ Zu privat für die Holocaustforschung?: Wer Tabus thematisiert, wird von Nachfahren verklagt. In: Der Tagesspiegel Online. ISSN 1865-2263 (tagesspiegel.de [abgerufen am 21. Oktober 2023]).
- ↑ Solveig Grothe: Lesbische Beziehungen im KZ: Zu intim für die Forschung? In: Der Spiegel. 17. Dezember 2020, ISSN 2195-1349 (spiegel.de [abgerufen am 21. Oktober 2023]).
- ↑ David Batty: Holocaust survivor's daughter in legal battle with historian over claim of lesbian liaison with Nazi guard. In: The Guardian. 8. Oktober 2020, ISSN 0261-3077 (theguardian.com [abgerufen am 21. Oktober 2023]).
- ↑ Anna Hájková wins 2013 Stimpson Prize for Outstanding Feminist Scholarship, H-Soz-Kult, 5. April 2013
- ↑ Anna Hájková Wins Stimpson Prize for Outstanding Feminist Scholarship, University of Chicago Press ( des vom 15. Februar 2016 im Internet Archive) Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis.
- ↑ ORPHEUS IRIS 2020 AWARD. Abgerufen am 18. September 2020 (englisch).
- ↑ Review von Franziska Krah, in: German Historical Institute London Bulletin Vol. XLIII, No. 1 (May 2021), S. 150–153, pdf
Personendaten | |
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NAME | Hájková, Anna |
KURZBESCHREIBUNG | tschechische Historikerin |
GEBURTSDATUM | 27. September 1978 |
GEBURTSORT | Prag |