Benutzer:Martin Wolfangel
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Calvins weltgeschichtliche Bedeutung
Luther hatte durch seine reformatorische Entdeckung – sola scriptura, sola gratia, sola fide, solus Christus - und ihre Anwendung auf alle Gebiete der Theologie und der Kirche das mehr als tausend Jahre lang geltende katholische Deutungsmonopol der Bibel und der gesamten Weltwirklichkeit gebrochen und – ebenso wichtig - ein umfassendes Gegenmodell geschaffen (7). Denn Protestanten verstehen sich nicht als Neinsager. Das lateinische Wort "protestare" bedeutet etymologisch nicht "ablehnen, widersprechen, nein sagen", sondern "für etwas Zeugnis ablegen". Protestanten sind nach ihrem Selbstverständnis Menschen, die für ihren auf das Evangelium gegründeten Glauben Zeugnis ablegen. Durch das Entstehen protestantischer Staaten fiel auch das katholische Machtmonopol im westlichen Teil des Abendlands. Die "Protestation", der zu dem Begriff Protestantismus führte, war ein Instrument des Reichsrechts, das die evangelischen Städte und Stände 1529 auf dem Reichstag in Speyer benutzten, um für ihr Bekenntnis Anerkennung durch die katholische Mehrheit zu fordern (8).
Luthers Rückgriff auf die Bibel wurde von Millionen von Menschen als elementare Befreiung empfunden. Seine Botschaft war für sie umso überzeugender, als er sich nicht auf nicht nachprüfbare, angeblich "göttliche" Eingebungen berief, sondern auf eine sorgfältige Interpretation der biblischen Bücher, vor allem der Briefe des Apostels Paulus, die der Analyse durch andere Sachkundige standhielt. Deshalb löste die Reformation in kürzester Zeit in einer ganzen Reihe von Ländern eine Volksbewegung aus. Sie erfasste alle Schichten der Bevölkerung, vom Tagelöhner und der Stallmagd bis zu Fürsten und Königen. Luther vollzog für das Abendland den "Abschied vom Mittelalter" (DER SPIEGEL), den Beginn der Neuzeit.
Die katholische Kirche blieb fest im Hochmittelalter verankert. Das Konzil von Trient (1545-63) grenzte sich scharf von der Reformation ab. Das Erste Vatikanische Konzil (1869-70) und die Enzyklika Aeterni patris (1891) erklärten das System des Thomas von Aquin (1225-74) zur Norm in allen theologischen und philosophischen Fragen, die Ethik eingeschlossen (9).
Calvin war als Reformator der zweiten Generation von Luther, aber auch von Melanchthon, Zwingli und Bucer abhängig. Jedoch setzte er auch kräftige eigene Akzente. Er war tief religiös, in seinen Anschauungen strenger als Luther und ungemein willensstark. Mit scharfem Intellekt schuf er mit seiner "Institutio Christianae religionis" das geschlossenste systematische Werk der Reformation. Als sein Wirkungsfeld sah Calvin ganz Europa. Er unterhielt eine ausgedehnte Korrespondenz und unterrichtete Tausende von Theologiestudenten, die von überall her an die 1559 gegründete theologische Akademie in Genf strömten. Calvins Anschauungen verdrängten nach und nach in den reformierten Gebieten der Schweiz weitgehend die Zwinglis, und durch Calvins Einfluss entstanden reformierte Kirchen in Frankreich (Hugenotten), den Niederlanden, am Niederrhein, in Schottland (Presbyterianer), Polen, Ungarn, Spanien und Italien, wo sich die wenigen kleinen, der Verfolgung entgangenen Waldensergemeinden der Reformation anschlossen (10). In stärkerem oder schwächerem Maße wurden durch Calvin auch andere Kirchen geprägt: Kongregationalisten, Taufgesinnte (Baptisten, Mennoniten), die Böhmisch-Mährische Brüderunität und die Methodisten. Die meisten dieser Kirchen übernahmen Calvins urchristlich-presbyterial-synodale Kirchenverfassung, milderten aber insbesondere seine Prädestinationslehre ab. Die Bekenntnisgrundlage der anglikanischen Kirche, die Neununddreißig Artikel, ist gemäßigt reformatorisch, beeinflusst vor allem von Zwingli und Calvin. Die Quäker entstammen ebenfalls dem reformatorischen Umfeld (11).
Nach 1533 stieg der Calvinismus durch seine Festsetzung in ganz Westeuropa "zu einer Weltmacht" auf (Karl Heussi). Insbesondere die angloamerikanische Welt ist ohne Calvin nicht vorstellbar. Aufgrund der Kolonisierung Nordamerikas durch England ab dem Beginn des 17. Jahrhunderts sicherte sich der Protestantismus "ein neues, ungeheures Ländergebiet, das ihm zwei Jahrhunderte später zur Behauptung seiner Weltgeltung hervorragende Dienste leisten sollte" (12). Zur angloamerikanischen Welt gehören Großbritannien und seine über die ganze Welt verstreuten ehemaligen Kolonien: die Vereinigten Staaten von Amerika, Kanada, Australien und Neuseeland, deren Bevölkerung mehrheitlich aus eingewanderten Europäern und ihren Nachfahren besteht. Insgesamt 53 Staaten gehören dem Commonwealth of Nations an, darunter auf dem afrikanischen Kontinent die Republik Südafrika, Namibia, Tansania, Kenia, Nigeria und Ghana, in Asien Singapur, Bangladesh und vor allem Indien mit seinen 1,1 Milliarden Einwohnern, wo trotz einer nur kleinen protestantischen Minderheit die frühere Kolonialmacht außerordentlich tiefe, positive Spuren hinterlassen hat, zum Beispiel eine funktionierende Verwaltung und ein solides Rechtssystem. Die "größte Demokratie der Welt" ist britisches Erbe ebenso wie Englisch als lingua franca.
Der Reformierte Weltbund vereinigt 215 Kirchen mit weltweit 75 Millionen Mitgliedern. Er wird sich im Juni 2010 mit dem Reformierten Oekumenischen Rat (12 Millionen Mitglieder in 25 Kirchen) zusammenschließen. Wie andere Kirchen auch verlieren die von Calvin geprägten oder beeinflussten Kirchen ständig Mitglieder. Aber sie gewinnen auch neue hinzu, insbesondere in Lateinamerika, Afrika und Südkorea. In China sind Christen die am schnellsten wachsende religiöse Gruppe. Man schätzt ihre Zahl auf 50 bis 130 Millionen, etwa zwei Drittel bis drei Viertel von ihnen sind Protestanten. Sie haben den Vorteil, dass sie nicht von einer geistlichen Autorität im Ausland wie etwa dem Papst abhängig sind, vielmehr gestalten sie ihr gottesdienstliches Leben und ihre anderen Angelegenheiten selbständig (13).
Im 19. und 20. Jahrhundert schlossen sich in mehrerern Ländern und Territorien reformierte und lutherische Kirchen zu Unionskirchen zusammen (z.B. in der Pfalz und in Preußen (14)). In den Vereinigten Staaten gründeten Reformierte und Lutheraner die United Church of Christ, der so international renommierte Theologen wie Reinhold Niebuhr und Paul Tillich angehörten. Heute zählen zu ihren Mitglieder Präsident Obama und seine Familie, der Unternehmer Bill Gates und die Fernseh-Moderatorin Oprah Winfrey (15).
Der Calvinismus brachte eine Reihe herausragender Theologen hervor, beispielsweise im 20. Jahrhundert den Schweizer Karl Barth, der mit seiner monumentalen "Kirchlichen Dogmatik" Generationen von Theologen weit über die reformierten Kirchen hinaus tief beeinflusste und während des Dritten Reiches von seinem Heimatland aus den Mitgliedern der Bekennenden Kirche den Rücken stärkte. Zu nennen sind auch Emil Brunner sowie der Barth-Schüler Otto Weber. Ihnen gemeinsam ist, dass sie etwa in der Prädestinationslehre Korrekturen an Calvins Position vornehmen. Sie betonen, dass nach dem neutestamentlichen Zeugnis in Christus Gottes Ruf an alle Menschen ergeht. Dass es dennoch Menschen gibt, die das Heilsangebot ausschlagen, sei ein Geheimnis, das logisch nicht durch eine Vorherbestimmung zur Verdammnis aufgelöst werden dürfe. Calvin habe an dieser Stelle seiner eigenen Warnung vor Spekulationen über den Willen Gottes nicht hinreichend Gehör geschenkt (16).
Der Einfluss Luthers und Calvins beschränkte sich keineswegs auf das Religiös-Kirchliche. Ihre Theologie hatte stärkste Auswirkungen auf sämtliche Gebiete des menschlichen Lebens: Ehe und Familie, Schule und Hochschule, Staat und Wirtschaft, Kunst, Wissenschaft und Technik (17).
Der von Calvin geprägte Protestantismus brachte bedeutende Schriftsteller und Maler hervor. Ein Teil von ihnen behandelt religiöse Themen, andere sind auf die eine oder andere Weise vom Geist des Calvinismus beeinflusst. Eine kleine Auswahl: J. Gotthelf, C.F. Meyer, G. Keller, F. Dürrenmatt, M. Frisch; J. Bunyan, Ben Jonson, W. Shakespeare, J. Milton, J. Donne, D. Defoe, J. Austen, S. Coleridge, T.S. Eliot, N. Hawthorne, W. Whitman, Mark Twain, W. Faulkner; Rembrandt, F. Hals, A. van Dyck, V. van Gogh. In der Musik war der Calvinismus weniger fruchtbar: H. Purcell, G.F. Händel in seiner Londoner Zeit.
Die Neuzeit und die Moderne verdanken ihr Entstehen, ihre Eigenart und ihre Entwicklung der engen Verflechtung von im Wesentlichen folgenden gestaltenden Kräften: Demokratie und Menschenrechte, Leistungsbereitschaft des Einzelnen und soziale Verantwortung, Wirtschaft und Handel, Naturwissenschaft und Technik. Auf allen diesen Feldern leisteten Luther, Calvin und der von ihnen geschaffene Protestantismus Bahnbrechendes.
Demokratie
Voraussetzung für Demokratie ist die Gleichheit der Bürger hinsichtlich ihrer Teilnahme an der politischen Willensbildung und der Führung ihres Gemeinwesens, verwirklicht durch die Wahl von Mandatsträgern, die ihr Amt auf Zeit ausüben und gegebenenfalls abgewählt werden können. Die staatsbürgerliche Gleichheit schließt Rechtsgleichheit ein. Bürger- und Menschenrechte bedingen sich gegenseitig. Das deutsche Grundgesetz fasst beide Rechtsgruppen in dem Begriff Grundrechte zusammen (18).
Die altgriechische Demokratie war Demokratie nur in eingeschränktem Maße, da sich lediglich freie Männer an den politischen Willensbildungsprozessen beteiligen durften. Frauen und Sklaven, also die Mehrheit der Bevölkerung, waren ausgeschlossen. Zudem war die attische Demokratie nur von relativ kurzer Dauer. Die Stadtstaaten wurden bald größeren Reichen eingegliedert (Alexander der Große, Diadochen, Rom, Byzanz, Osmanisches Reich).
Entscheidend für das Entstehen der Demokratie im westlichen Teil des Abendlands war nicht das antike Griechenland, sondern die jüdisch-christliche Tradition. Das Neue Testament ist ein Dokument der Friedfertigkeit. Trotz der Dringlichkeit, mit der die christliche Botschaft vorgetragen wurde, respektierte das Urchristentum die Freiheit der Menschen, die Botschaft anzunehmen oder abzulehnen. Nirgends wird Gewaltmaßnahmen das Wort geredet. (Die apokalyptischen Geschehnisse, die insbesondere in der Johannes-Apokalypse dargestellt werden, sind eine Sache Gottes. Sie bedürfen keiner menschlichen Mithilfe. Jesus, Paulus und die meisten anderen neutestamentlichen Autoren waren keine Apokalyptiker.) Die Ausbreitung des Christentums im römischen Reich vollzog sich trotz mehrerer furchtbarer Verfolgungswellen rasch und auf friedliche Weise. Doch als im Jahr 380 das Christentum Staatsreligion wurde, änderte sich die Situation grundlegend. Schon 391 wurden die ersten nicht christlichen Tempel zerstört und "Heiden“ verfolgt (19). Im westlichen Europa bildete sich Rom als religiöses Zentrum heraus. Trotz gewisser Rivalitäten, zum Beispiel im Investiturstreit, stützten sich Kirche und weltliche Obrigkeiten gegenseitig. Die Kirche verlieh der weltlichen Macht sakrale Würde. Im Gegenzug gewährten die Feudalmächte der Kirche Schutz und halfen bei der Erweiterung ihres Einflusses. Besonders eng war das Zusammenwirken bei der Bekämpfung von Glaubensabweichlern. Häresie war auch ein weltliches Verbrechen. Folter sollte die von der Kirche Abtrünnigen zum Widerruf zwingen. Wer sich weigerte zu widerrufen, wurde getötet, meist durch öffentliches Verbrennen. Wer widerrief, wurde oft nicht freigelassen, sondern mindestens drei Jahre lang eingekerkert (20).
Es besteht eine Ähnlichkeit zwischen der katholischen Kirche und weltlichen Feudalmächten, da die Kirche streng hierarchisch gegliedert ist. Man denkt und handelt "von oben nach unten": Der Papst setzt Bischöfe ein und ernennt einige von ihnen zu Kardinälen. Die Bischöfe ihrerseits weihen Priester, die die Sakramente verwalten und somit die Verbindung zwischen Gott und Mensch herstellen. Wo Papst, Bischöfe und Priester sind, dort - und nur dort - ist Kirche. Ihre Struktur ist monarchisch. Nur wenn ein Papst gestorben ist, tritt für kurze Zeit eine Oligarchie an die Spitze der Kirche: das Kardinalskollegium, das aus seiner Mitte den neuen Papst wählt.
Die Reformation brachte einen radikalen Einschnitt und Wandel. Da Papsttum, katholisch verstandenes Bischofs- und Priesteramt nach ihrer Auffassung im Neuen Testament nicht bezeugt sind, wurden sie von Luther, Calvin und den anderen Reformatoren verworfen. An ihre Stelle trat das "allgemeine Priestertum aller Gläubigen". Kirche ist dort, wo das Evangelium gepredigt und geglaubt wird, entsprechend dem Wort Jesu: "Wo zwei oder drei versammelt sind in meinem Namen, da bin ich mitten unter ihnen" (Matthäus 18, 20). Das bedeutet eine Gleichstellung der Gemeindeglieder. Man denkt und handelt "von unten nach oben". Der Pfarrer hat keinen geistlichen Sonderstatus. Seine Aufgabe, die örtliche Kirchengemeinde zu leiten, wird ihm von den Gemeindegliedern übertragen aufgrund seiner theologischen Ausbildung und anderer Fähigkeiten, beispielsweise in der Seelsorge. Er wird, so Luther, von der Gemeinde "gewählt und berufen" (21). Der niedrige Bildungsstand und die Unselbständigkeit der evangelisch gewordenen Menschen in kirchlichen Angelegenheiten machten die rasche Umsetzung dieses Konzepts jedoch unmöglich. Außerdem bestand die akute Gefahr, dass die katholischen Mächte unter Führung von Kaiser Karl V. versuchen würden, die Reformation mit Waffengewalt rückgängig zu machen. (Die ersten dieser Angriffe erfolgten im Klevischen Krieg 1543 und im Schmalkaldischen Krieg 1546/47.) Deshalb bat Luther die evangelischen Landesherren, als temporären Notbehelf die "Visitation" der Kirchengemeinden in ihren Territorien zu übernehmen. Visitation bedeutete die Vereinheitlichung der Lehre in den Gemeinden, Verwaltung ihrer Finanzen, Ausbildung von Pfarrern und Ähnliches. Luther konnte nicht ahnen, dass die Landesherren diesen Machtzuwachs nicht mehr aufgeben würden, so dass das "landesherrliche Kirchenregiment" in Deutschland erst 1918 endete (22). In den skandinavischen Ländern entstanden im 16. Jahrhundert lutherische Staatskirchen (23). In beiden Fällen war die Kirche eng mit Feudalmächten liiert. Hier konnte im weltlichen Bereich keine Demokratie entstehen.
Anders verlief die Entwicklung in den reformierten Kirchen. Calvin führte neben drei weiteren kirchlichen Ämtern in seiner Kirchenordnung (1541) nach dem Vorbild der urchristlichen Gemeinden Älteste (anciens) ein. Diese waren zugleich Mitglieder des weltlichen Rates der Stadt Genf. Zusammen mit den Pastoren (ministres) bildeten sie das Konsistorium (consistoire), also eine Synode, d.h. eine selbständige Vertretung der Kirche zur Leitung ihrer Angelegenheiten. Die französische Hugenottenkirche fügte dieser Kirchenordnung die reformierte Synodalverfassung und kirchliche Selbstregierung (Nationalsynode und Provinzialsynoden) hinzu, die von allen weltlichen Institutionen unabhängig ist. Diese Kirchenverfassung übernahmen die Reformierten am Niederrhein, in den Niederlanden, in Schottland und anderen Ländern. Die Mitglieder dieser Gremien und die Pfarrer wurden von den Ortsgemeinden durch Wahl bestimmt. Das entsprach Luthers ursprünglicher Intention (24).
Im Jahr 1560 wurde in Schottland die Reformation eingeführt. Der Führer der neuen Kirche war John Knox, ein Schüler Calvins. Die presbyterianische Kirche hat ihren Namen von dem griechischen Wort für Ältester (presbýteros). Für sie ist dieses Amt von konstitutiver Bedeutung (25).
In England gab es ab etwa Mitte des 16. Jahrhunderts eine starke Minderheit von calvinisch beeinflussten Christen, die sich Independents oder Congregationalists nannten, da für sie die Einzelgemeinde (congregation) das Zentrum der Kirche ist. Die Bezeichnung "Puritaner" war anfangs ein Spottname, den die Gegner der Independents für diese (und die Presbyterianer) verwendeten. Deren Bestreben, die Kirche von allen katholischen Strukturen zu "reinigen" (to purify), wurde von den Anglikanern verhöhnt und abgelehnt. Die Kirche von England war 1534 entstanden. Die protestantischen, absolutistisch regierenden Könige, insbesondere Elisabeth I. und Jakob I., wollten alle ihre nicht katholischen Untertanen zwingen, der Church of England beizutreten (Act of Uniformity). Die Kongregationalisten weigerten sich, weil ihnen die Reformation der anglikanischen Kirche nicht weit genug ging. Insbesondere lehnten sie das Bischofsamt ab (26). Um der Verfolgung zu entgehen, wanderten viele von ihnen in die nordamerikanischen Kolonien aus. Im Jahr 1620 wurde eine dieser Gruppen mit ihrem Schiff "Mayflower" durch einen Sturm zu weit nach Norden getrieben, an eine Stelle, für die sie keine königliche Charter hatten. Vor der Landung bei Cape Cod schlossen die "Pilgerväter" (Pilgrim Fathers) einen Vertrag, in dem sie schriftlich festhielten, alles, was für ihr künftiges Zusammenleben notwendig sein würde, im Konsens selbst zu regeln. Der "Mayflower Compact" symbolisierte nicht nur den Beginn der amerikanischen Demokratie, sondern der neuzeitlichen Demokratie überhaupt (27). Er war, wie Abraham Lincoln später formulierte, "Government of the people, by the people, for the people" ("Regierung des Volkes, durch das Volk, für das Volk"). Die Amerikaner feiern diesen Vorgang und die damit zusammenhängenden geschichtlichen Ereignisse alljährlich am Thanksgiving Day. Die englische Bill of Rights von 1689 war zweifellos ebenfalls eine äußerst wichtige Etappe auf dem Weg zur neuzeitlichen Demokratie. Das Unterhaus musste sich aber weiterhin die politische Macht mit dem König und dem nicht gewählten Oberhaus teilen. Erst Mitte des 20. Jahrhunderts gingen in Großbritannien sämtliche politischen Befugnisse auf das vom Volk gewählte Unterhaus über. Bezeichnend und von größter weltgeschichtlicher Tragweite war, dass sowohl in England als auch in seinen nordamerikanischen Kolonien die demokratischen Strukturen aus derselben calvinisch-puritanischen Geisteshaltung erwuchsen (28).
Mit dem Untergang der spanischen Armada (1588) scheiterte der Versuch einer auswärtigen Macht, England und Schottland (in Personalunion seit Jakob I. 1603, Realunion seit 1707) gegen den Willen der überwältigenden Mehrheit des Volkes wieder katholisch zu machen. (Das Debakel der Armada bedeutete das Ende der Vision eines spanischen Weltreichs und war gleichzeitig der Anfang des englischen Empires.) Die Anstrengungen einiger Monarchen - Maria Stuart, Maria Tudor, Karl I., Karl II., Jakob II. -, das Land von innen heraus zu rekatholisieren, scheiterten, endgültig 1689 mit der Glorious Revolution. (Maria Tudor, "die Blutige", ließ 300 Protestanten hinrichten (29).) Eine der wichtigsten Folgen war die Einführung der Pressefreiheit (1694), eines für die Demokratie unabdingbaren Grundrechts, im Mutterland und in den Kolonien (30).
Als die Siedlungen der Kolonisten wuchsen und neben den Kongregationalisten auch Presbyterianer nach Nordamerika kamen, übertrugen sie die presbyteriale Verwaltungsstruktur ihrer Kirchengemeinden auf die bürgerlichen Kommunen: Sie beauftragten lebenserfahrene ältere Männer mit gutem Ruf mit der Leitung der Siedlungen. Oft waren es dieselben, die sowohl in der Kirchengemeinde als auch in der bürgerlichen Gemeinde Leitungsfunktionen innehatten. Diese kommunale Selbstverwaltung beschrieb Alexis de Tocqueville in seinem Werk "De la Démocratie en Amérique" (1835/40) zu Recht als die Wurzel der amerikanischen Demokratie. Tocqueville schrieb, dass "das Prinzip der Volkssouveränität von Anfang an das schöpferische Prinzip für die Entstehung der meisten englischen Kolonien in Amerika gewesen ist". Die Demokratie sei den Amerikanern eine "Gewohnheit des Herzens" geworden. In allen Bereichen der amerikanischen Gesellschaft sei dieser Geist zu spüren: im religiösen Leben, im Bildungswesen, im Verhältnis von Männern und Frauen, in den Umgangsformen, im Wirtschaftsleben und in der Einstellung zu Kunst und Wissenschaft. "Die Gesellschaftsordnung der Anglo-Amerikaner (...) ist zutiefst demokratisch. Sie ist demokratisch seit Gründung der Kolonien bis auf unsere Tage" (31).
Nach dem Vorbild der kirchlichen Synodalverfassung wurden im weltlichen Bereich nach und nach größere Verwaltungseinheiten geschaffen (County - Colony (später: State) - Union). Da die meisten Siedler schon in England in schroffer Opposition zum Königtum gestanden hatten, war es nur eine Frage der Zeit, bis sich die Kolonien für unabhängig erklären und eine demokratische Republik schaffen würden.
Menschenrechte
Hand in Hand mit der Entwicklung einer demokratischen Gesellschaft entstanden in den nordamerikanischen Kolonien die Menschenrechte. Dreh- und Angelpunkt und nahezu unüberwindliches Hindernis war die Frage der Religionsfreiheit, des "Urgrundrechts" (Verfassungsrichterin G. Lübbe-Wolff). Da die religiöse Überzeugung so gut wie allen Menschen jener Zeit das Wichtigste im Leben war, fiel es ihnen besonders schwer, Andersgläubige zu dulden. Ausgangspunkt für religiöse Toleranz waren grundsätzliche Erkenntnisse über das Wesen des christlichen Glaubens, wie sie Luther und Calvin aus dem Neuen Testament gewonnen hatten. Nach Luther muss das Evangelium frei gepredigt werden, in Glaubensdingen darf kein Zwang ausgeübt werden, schon gar nicht von der weltlichen Obrigkeit. "Es ist ein frei Werk um den Glauben, dazu man niemand kann zwingen." Eine anders geartete Glaubensüberzeugung könne man "nicht mit Eisen hauen, nicht mit Feuer verbrennen, nicht in Wasser ertränken". Man dürfe sie "niemals mit Gewalt abwehren". Nur mit der Predigt des Evangeliums könne und solle man versuchen, den Andersgläubigen zu überzeugen. "Die unerzwingbare Freiheit des Glaubens, die Natur des Gotteswortes und die Trennung des Geistlichen vom Weltlichen machen bei ihm (scil. Luther) dem kirchlichen Inquisitionsverfahren und der staatlichen Verfolgung ketzerischer Lehre ein Ende" (Heinrich Bornkamm (32)). Dagegen sah Luther in der Ablehnung der obrigkeitlichen Ämter, des Eides und des Kriegsdiensts durch die Täufer eine sehr große politische Gefahr, die zu einem allgemeinen Chaos führen könnte, wenn ihr nicht von Seiten der Obrigkeit Einhalt geboten würde. Einige Täufergruppen waren militant (z.B. "das Reich Christi" in Münster 1534-35). So kam es in lutherischen Territorien zur Hinrichtung von Täufern (durch das Schwert, nicht durch Verbrennen). Ihre Zahl war nur ein kleiner Bruchteil der zwischen 18.000 und 40.000 Menschen, die stark 200 Jahre später im Zeitalter der Aufklärung während der Französischen Revolution hingerichtet wurden. In katholischen Gebieten wurden Täufer verbrannt. Der württembergische Reformator Johannes Brenz, ein Lutheraner, lehnte wie Calvin die Todesstrafe für Täufer ab. "Mit den prinzipiellen Ansätzen zur Glaubensfreiheit verbindet sich die historische Tatsache, daß Luther eine Bewegung ins Leben rief, die wie das frühe Christentum die Kraft besaß, sich gegen eine intolerante, sakrale Staatsidee zu behaupten" (H. Bornkamm (33)).
Da Luther zunächst hoffte, die Juden würden sich der Reformation anschließen, warb er um sie. Als sich diese Hoffnung nicht erfüllte, wandte er sich gegen sie (34). Die amerikanischen Protestanten folgten Luther an dieser Stelle nicht. Im 19. und 20. Jahrhundert emigrierten Hunderttausende Juden in die Vereinigten Staaten, oft auf der Flucht vor schwerer Diskriminierung oder Verfolgung in Europa. Sie wurden ohne Vorbehalte aufgenommen, rasch integriert und leisteten einen nicht unerheblichen Beitrag zum kulturellen, wissenschaftlichen und wirtschaftlichen Erstarken des Landes. Heute lebt rund ein Drittel der weltweiten Judenheit in den USA.
Die reformatorische Ethik, aus der die Menschenrechte hervorgingen, hat ihre Quelle im Alten und Neuen Testament. Als Gottes Geschöpf empfängt der Mensch seine unverlierbare Würde und das Recht auf Leben und Freiheit (Gottesebenbildlichkeit, Imago Dei (35)). Mann und Frau sind gleichberechtigte Partner (1. Mose 1, 27). Luthers Übersetzung "Gehilfin" in 1. Mose 2, 18 ist ungenau. Gemeint ist im Urtext eine gleichgestellte Hilfe. Auch hier ist die Frau dem Mann demnach nicht untergeordnet (36) .
Der Dekalog (Zehn Gebote) gründet in der durch Gott gewirkten Befreiung des Volkes aus ägyptischer Sklaverei (2. Mose 20). Weil Gott dem Volk und dem einzelnen Israeliten die Freiheit geschenkt hat, wird der Mensch nicht nur als Arbeitkraft gesehen. Er hat – damals eine kulturgeschichtliche Großtat – Anspruch auf einen wöchentlichen Ruhetag. Wo Gott regiert, dürfen alte Menschen nicht im Stich gelassen werden, ein höchst humanes sozial- und familienpolitisches Gebot. Das Leben des Einzelnen, seine Ehe, Familie und sein Eigentum stehen unter göttlichem Schutz. Diese apodiktischen Gebote ergänzt eine kasuistische Gesetzgebung. Manche dieser Gebote erscheinen aus heutiger Sicht barbarisch. "Wer Vater oder Mutter schlägt, der soll des Todes sterben" (2. Mose 21, 15). Aber verglichen mit den entsprechenden Gesetzen in der damaligen religiösen Umwelt, ist die große Mehrzahl dieser Gebote menschenfreundlich und freiheitlich. Beispielsweise fehlen im Alten Testament bis auf eine einzige Ausnahme (5. Mose 25, 11 f) Verstümmelungsstrafen, die im Alten Orient außerordentlich häufig waren. In Ägypten etwa wurde jemand, der einen Tempel bestahl oder ein Grab ausraubte, mit dem Abschneiden der Nase bestraft. Andere Gesetze in der hebräischen Bibel sind ausgesprochen human. "Fremdlinge" (Ausländer, Asylanten) dürfen "nicht bedrängt und bedrückt" werden (2. Mose 22, 20). Das Sabbatjahr ist sowohl sozial als auch ökologisch bedeutsam: Jedes siebte Jahr müssen die Felder brach liegen, damit sich die Armen und die Wildtiere von den Überbleibseln der Ernte ernähren können (2. Mose 23, 10 f). In Israel gab es Tierschutz (5. Mose 22, 6 f) und den Schutz vor Pfändung (5. Mose 24, 10 ff). Der König besaß keine Sonderrechte. Er durfte einen seiner Untertanen nicht nach Gutdünken töten oder töten lassen (2. Samuel 11 f). Die Propheten, insbesondere Amos, geißelten die Ausbeutung der Armen und Schwachen und kündigten Gottes Strafgericht für diese Untaten an (z. B. Amos 8, 4-6). Das Vergeltungsrecht ("Auge um Auge, Zahn um Zahn") war keineswegs Ausdruck eines generellen Rachegedankens, vielmehr ein humaner Fortschritt, weil es der Blutrache entgegenwirkte und das Strafmaß bei einer geringen Anzahl von Körperverletzungsdelikten einengte. Die lebensfördernde und lebenserhaltende Gesamtintention des alttestamentlichen Gesetzes wird im Neuen Testament fortgesetzt und intensiviert (37). Das Doppelgebot der Liebe (Matthäus 22, 37-39) und die Bergpredigt mit ihren Antithesen (Matthäus 5-7) bedeuten eine Zuspitzung der biblischen Ethik, die den Reformatoren und den von ihnen gegründeten oder beeinflussten Kirchen wohlvertraut war. Es war dieser Boden, auf dem die Menschenrechte wuchsen (38).
In den meisten Siedlungen in Nordamerika herrschte strenge Kirchenzucht, und es wurden anfangs nur Angehörige derselben Kirche (denomination) geduldet. Aber schon 1636 entstand unter Führung des Baptisten Roger Williams auf Rhode Island die erste von Protestanten gegründete Kolonie, die ihren Bewohnern völlige Religionsfreiheit gewährte. Williams war der Auffassung, dass sich die weltliche Obrigkeit nicht in Glaubensfragen einmischen dürfe. Der Quäker William Penn gründete 1682 die Kolonie Pennsylvania, die rein demokratisch verwaltet wurde und in der alle Christen ihr Bekenntnis frei ausüben durften, auch Katholiken.
Das wirtschaftliche Motiv, möglichst viele neue Siedler zu gewinnen, hatte den katholischen Lord Baltimore bewogen, in der von ihm 1632 gegründeten Kolonie Maryland den Menschen ebenfalls Glaubensfreiheit zu gestatten (39). Immer mehr Protestanten der verschiedensten Richtungen vor allem aus Nord- und Mitteleuropa wanderten in Nordamerika ein. Außer Kongregationalisten und Presbyterianern kamen Taufgesinnte (Baptisten und Mennoniten), Anglikaner (Episkopalisten), Lutheraner, Quäker, Böhmische Brüder und andere, ab etwa 1750 auch Methodisten, deren Gemeinden rasch wuchsen. Sie bilden heute nach den Baptisten die zweitgrößte reformatorische Denomination in den Vereinigten Staaten. (Hillary Clinton ist tief in der Spiritualität der Methodistenkirche verwurzelt. Ex-Präsident Jimmy Carter unterrichtete viele Jahre lang in der Sonntagsschule seiner Baptistengemeinde Kinder und Jugendliche im christlichen Glauben. Martin Luther King war Baptistenpastor.) Diese Kirchen übernahmen die urchristlich-presbyterial-synodale Kirchenverfassung, sofern sie sie nicht schon in ihrer Heimat gekannt hatten. Katholiken, vor allem aus Süd- und Osteuropa, immigrierten in größerer Zahl erst ab etwa 1880 (40). Da sie stets eine Minderheit bildeten, waren sie nicht imstande, die Protestanten militärisch anzugreifen und mit Gewalt zum Übertritt in die katholische Kirche zu zwingen. (Auch die englischen Könige verzichteten darauf, die Uniformitätsakte in den Kolonien anzuwenden. Es war ihnen wichtiger, dass ihre Untertanen das Land für die Krone in Besitz nahmen und kolonisierten.) Zwar übten in einigen Kolonien (z. B. Massachusetts) Puritaner Druck auf die katholische Minderheit aus. Doch die Katholiken wurden nicht gezwungen, ihren Glauben aufzugeben.
Ganz anders war die Situation in Europa. Dort verfolgten die katholischen Mächte vom 16. bis teilweise ins 18. Jahrhundert (Frankreich) hinein das Ziel, durch Kriege und andere Gewaltmaßnahmen die Protestanten zur Rückkehr in die Kirche Roms zu zwingen. Die Religionskriege kamen erst zu einem Ende, als die katholische Seite einsehen musste, dass dieses Ziel, abgesehen von einigen begrenzten Erfolgen, nicht zu erreichen war, auch nicht mit militärischen Mitteln. Im Deutschen Reich kam diese Einsicht 1648 im Westfälischen Frieden, in England 1689 durch die Glorious Revolution (41). Es war von größter weltgeschichtlicher Bedeutung, dass den Protestanten in Nordamerika Konfessionskriege erspart blieben. Denn so konnten sie ihre biblisch-reformatorischen Vorstellungen von Freiheit, Menschen- und Bürgerrechten ungehindert entwickeln und umsetzen. Im 18. Jahrhundert führten die Kämpfe gegen englische Heere im Zusammenhang mit der Unabhängigkeitserklärung Protestanten und Katholiken in einem gemeinsamen Unternehmen weiter zusammen.
Auf katholischer Seite gab es zwei größere Anläufe in Richtung Menschenrechte, die aber geschichtlich unwirksam blieben. Der Dominikaner Bartolomé de las Casa setzte 1542 bei Kaiser Karl V. durch, dass die unmenschliche Behandlung der Indiosklaven in Lateinamerika gemildert wurde. Doch diese Schutzgesetze wurden bereits 1545 wieder aufgehoben (42). Der "Jesuitenstaat" in Paraguay (1610 bis 1767) kannte weder Zwangsmissionierung noch Sklaverei. Diesem Projekt setzte die Kurie ein Ende, und Paraguay wurde dem Königreich Portugal zugeschlagen (43). Die katholische Kirche akzeptierte erst im Zweiten Vatikanischen Konzil (1962-65) die Religionsfreiheit und den demokratischen, weltanschaulich neutralen Staat (44). Die Priestersbruderschaft St. Pius X., die Anfang 2009 wieder in die Kirche aufgenommen wurde, lehnt die Religionsfreiheit ab und fordert die Rückkehr zum "katholischen Staat" . Alles andere sei Häresie (45). (Zu Friedrich von Spee siehe unten.)
Der Wortlaut der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung (1776) atmet zwar den Geist der Aufklärung. Aber sie bringt zum Ausdruck, dass sowohl der Freiheitswille des amerikanischen Volkes als auch die Menschenrechte ("life, liberty, and the pursuit of happiness") religiösen Ursprungs sind. Ein deistisch verstandener "Schöpfer" hat die Menschen "gleich geschaffen" und ihnen "unveräußerliche Rechte" verliehen, einschließlich des Rechts, selbständig über ihr politisches Schicksal zu bestimmen. Diese ethischen Prinzipien waren nichts Neues. Sie stammten aus der jüdisch-christlichen Tradition und hatten das religiöse und politische Leben der protestantischen Kolonisten schon seit Anfang des 17. Jahrhunderts bestimmt.
Einige Monate vor der Unabhängigkeitserklärung wurde die "Erklärung der Rechte von Virginia" veröffentlicht, die wie die Französische Revolution 13 Jahre später die Menschenrechte nicht mehr theologisch, sondern aus dem profanen Naturrecht begründete (46).
Exkurs
Das Konzept des Naturrechts wirft Probleme auf (47). Denn aus der "Natur" des Menschen lassen sich nicht zwingend inhaltlich klar definierte Rechte ableiten. Der Mensch ist zu höchst edelmütigen Taten fähig, aber auch zu entsetzlichster Barbarei, sowohl als Einzelner als auch in einer Gruppe. Zudem unterscheiden sich die Menschen auf die vielfältigste Weise nach Geschlecht, Alter, Hautfarbe, Körperkraft, Intelligenz, anderen Begabungen, religiösen und politischen Überzeugungen usw. Um trotzdem jedem einzelnen Mann und jeder einzelnen Frau, jedem Kind und jedem Jugendlichen dieselben Rechte zuzugestehen, bedarf es letzten Endes einer Glaubensentscheidung. Im jüdisch-christlichen Kulturkreis wurde diese Entscheidung getroffen und Schritt für Schritt umgesetzt, ausgehend und hauptsächlich getragen von Kirchen der Reformation und ihren Mitgliedern.
Der "Natur" kann man als "Naturrecht" nur das entnehmen, was man als angebliche Seinsordnung zuerst in sie hineingelesen hat. (Das gilt auch für die katholische Naturrechtslehre. Beispielsweise rechtfertigte Thomas von Aquin die Sklaverei unter Berufung auf Aristoteles mit dem Naturrecht (48).) Deshalb fielen die Ergebnisse der naturrechtlichen Betrachtungsweise sehr verschieden aus. Nach Aristoteles ist nur ein Teil der Menschen von Natur aus zu Freien bestimmt, ein anderer Teil aber zu Sklaven (49). John Locke war ein starker Verfechter der Toleranz, aber Katholiken und Atheisten billigte er sie nicht zu (50). Kant und Hegel hielten die Todesstrafe für unabdingbar für das staatliche Handeln (51). Der Französischen Revolution galten Gleichheit, Freiheit und Brüderlichkeit nur Männern, nicht aber Frauen (52).
Ohne die Reformation hätte die Aufklärung nicht entstehen und sich durchsetzen können. Darauf weist schon die Tatsache hin, dass die anderen Weltreligionen keine religiöse und geistige Bewegung kannten, die mit der Reformation vergleichbar gewesen wäre. Offensichtlich konnte es dort deshalb nicht zur Aufklärung kommen. (Die Juden lebten als kleine Minderheit in einer christlichen Umwelt und partizipierten teilweise an deren geistigen Strömungen. Ein Beispiel war der jüdische Philosoph Moses Mendelssohn, ein Freund Lessings. Er verknüpfte aufklärerische Ideen mit jüdischen Traditionen.)
Reformation und Protestantismus waren für das Entstehen und den Erfolg der Aufklärung in mindestens dreifacher Hinsicht unentbehrlich.
Erstens. Einer der Hauptgründe für das Entstehen der Aufklärung waren die furchtbaren Erfahrungen der Religionskriege im 16. und 17. Jahrhundert (53). Philosophen wie die englischen Deisten John Toland (1670-1722) und Matthews Tindal (1656-1733) dachten, kriegerische Auseinandersetzungen dieser Art in Zukunft unmöglich machen zu können, indem sie die Glaubenssätze aller Religionen und Konfessionen auf, wie sie meinten, ihren gemeinsamen Kern reduzierten, nämlich den Glauben an Gott den Schöpfer, die Willensfreiheit und die Unsterblichkeit der Seele. Dieser Glaube sei mit der menschlichen Vernunft vereinbar. Der Philosoph Christan Wolff (1679-1754) übernahm die deistische Lehre und machte sie im Deutschland des 18. Jahrhunderts sehr populär (54).
Zentral für das aufklärerische Denken ist die Konzentration auf den Einzelnen. Er ist Träger der Menschenrechte. Auch in dieser Hinsicht hatten bereits die Reformatoren die grundlegende Weichenstellung vorgenommen. Allerdings ist nach biblisch-reformatorischem Verständnis der Einzelne eingebettet in die Gemeinde. Er steht von Anfang an nicht nur in Beziehung zu Gott, sondern auch zu seinem Nächsten und zur außermenschlichen Schöpfung. Nach der aufklärerischen Anthropologie steht der Mensch dagegen für sich allein (Solipsismus). Die Beziehung zum Mitmenschen und zur Natur muss auf wenig überzeugende Weise erst nachträglich hergestellt werden. Am Endpunkt dieser philosophischen Linie heißt es: "Die Hölle, das sind die anderen" (Sartre), da sie meine Freiheit einengen und somit in Frage stellen (55).
Wie alle Denker vor und nach ihnen waren die Philosophen der Aufklärung Kinder ihrer Zeit. Sie standen auf den Schultern ihrer geistigen Väter und Großväter. Sie griffen die Themen auf, die im 18. Jahrhundert gewissermaßen in der Luft lagen und vielerorts diskutiert wurden.
Die Menschenrechte sind keine Erfindung der Aufklärung. Vielmehr übernahmen ihre Philosophen das, was im protestantischen Nordamerika und in den reformierten Niederlanden seit dem frühen 17. Jahrhundert nicht nur theoretisches Postulat, sondern gelebte Wirklichkeit war, und verstärkten es. Die Mehrheit der einflussreichsten Philosophen der Aufklärungszeit stammte aus dem protestantischen Bürgertum und war von ihm geprägt: Hobbes, Locke, Leibniz, Tindal, Toland, Wolff, Hume, Rousseau und Kant. Die Philosophen der französischen Aufklärung lebten zwar in einer mehrheitlich katholischen Umwelt, aber sie griffen den Klerikalismus und die Intoleranz der Kirche scharf an, allen voran Voltaire ("Écrasez l'infâme!" (56)).
Zweitens. Der Protestantismus lieferte den Denkern der Aufklärung nicht nur gedankliche Voraussetzungen, er stellte ihnen auch den Freiraum zur Verfügung, in dem sie ihre Ideen ohne Gefahr für Leib und Leben entwickeln und veröffentlichen konnten. Dass ihre Kritik an Religion und Christentum auch von konservativen protestantischen Theologen zurückgewiesen wurde, mussten sie in Kauf nehmen. Eine freie Gesellschaft ist ohne geistige Auseinandersetzung, auch wenn sie pointiert ist, nicht denkbar. Das ist etwas völlig anderes als Kerker, Folter und Scheiterhaufen für Andersdenkende.
Nach der Losreißung der Niederlande von Spanien (1579) nahmen unter Führung der Calvinisten Kultur und Wirtschaft in diesem Land einen glänzenden Aufschwung. Schon frühzeitig entstand eine kirchliche Toleranz. Dem wissenschaftlichen Denken wurde mehr Freiheit zugestanden als anderswo. Trotz zeitweiser Gefängnishaft konnte Hugo Grotius (1583-1645) seine Gedanken über natürliche Theologie, Naturrecht und historisch-grammatische Exegese veröffentlichen. Das Land bot freien Geistern wie René Descartes (1596-1650) , Baruch Spinoza (1632-77) und Pierre Bayle (1647-1706) Asyl. Ihre philosophischen Systeme waren die ersten der Neuzeit und bereiteten der Aufklärung den Weg. In Kenntnis des Galilei-Prozesses ging Descartes der katholischen Kirche bewusst aus dem Weg. Er lebte ab 1628 zurückgezogen in den Niederlanden und starb am Hof der schwedischen Königin Christine. Auch dort konnte ihm die Inquisition nichts anhaben (57). Spinoza entstammte einer portugiesisch-jüdischen Familie, die in den Niederlanden Zuflucht gefunden hatte. Das Land war in Europa das Zentrum des Verlagswesens, auch für umstrittene Schriften. Galilei stellte heimlich in seinem von der Inquisition verfügten Hausarrest eine Abschrift seiner "Discorsi" her und ließ sie in das niederländische Leiden schmuggeln, wo das eminent wichtige Werk, die theoretische Grundlegung der neuzeitlichen Physik, erscheinen konnte (58). Von dort aus entfaltete es seine Wirkung. Das Original wurde in einer Bibliothek des Vatikans weggeschlossen. Noch im 18. Jahrhundert verbrachte Voltaire vorsichtshalber die letzten Jahrzehnte seines Lebens auf seinem Landgut am Genfer See. Bei einer drohenden Verhaftung hätte er nur wenige Kilometer bis zur rettenden reformierten Schweiz fliehen müssen (59).
Die Aufklärung nahm in den Niederlanden und England, den Ländern mit dem freiheitlichsten Geist, ihren Anfang, wurde dann in Deutschland aufgegriffen und sprang schließlich auf Frankreich über. Dort war ihre Kritik an Religion und Christentum radikal, insbesondere weil das Ancien Régime außergewöhnlich stark mit der katholischen Kirche verwoben war. Dagegen war die kritische Einstellung der englischen und deutschen Aufklärungsphilosophen Kirche und Religion gegenüber moderat (60).
Hätte es ab dem 16. Jahrhundert im westlichen Europa und auf dem amerikanischen Doppelkontinent lediglich die katholische Kirche gegeben, hätte diese keinerlei Grund gehabt, die Kompetenzen der Inquisition einzuschränken oder sie gar abzuschaffen. Denn aus kirchlicher Sicht arbeitete sie sehr effektiv. Sie hätte die Denker, die es gewagt hätten, auch nur halb so weit von der Kirchenlehre abzuweichen, wie es Descartes, Spinoza, Bayle und die Aufklärungsphilosophen taten, rasch zum Schweigen gebracht.
Drittens. Es war in erster Linie das protestantische Bürgertum, das die Gedanken der Aufklärung aufgriff und umsetzte. Ohne diese Menschen wäre diese geistige Bewegung wirkungslos verpufft (61). Die katholische Kirche lehnte die aufklärerischen Ideen strikt ab (62). Trotzdem strahlte das freiheitliche Denken in unterschiedlicher Intensität auch in Regionen und Länder mit überwiegend katholischer Bevölkerung aus. Besonders intensiv war der kulturelle Austausch mit den Ländern, die an Deutschland angrenzen.
In seiner Schrift "Was ist Aufklärung?" bekannte sich Kant uneingeschränkt zum Ideal dieser Epoche. Zugleich war er einer ihrer Überwinder insofern, als er die Schulmetaphysik, die die englischen Deisten und Christian Wolff von der Scholastik übernommen hatten, zertrümmerte. Kant widerlegte die so genannten Gottesbeweise. Der "Alleszermalmende" wollte damit nicht das Metaphysische, den transzendenten, theistisch verstandenen Gott, bestreiten, sondern die dogmatische Methode, zum Metaphysischen hinzuführen. "Ich musste das Wissen zerstören, um Platz für den Glauben zu schaffen." Kants Beweisführung macht klar, dass das Denken, sei es Philosophie, sei es Naturwissenschaft, das Dasein Gottes und den Wahrheitsanspruch der Religion weder beweisen noch widerlegen kann (63). Damit erwies er der reformatorischen Theologie einen guten Dienst. Denn Luther hatte die scholastische Metaphysik entschieden abgelehnt.
Schon seit dem 12. und 13. Jahrhundert lösten sich einzelne Kuturbereiche nach und nach aus dem Einflussbereich der Kirche (z.B. Troubadourdichtung, Minnesang). In der Renaissance verstärkte sich dieser Vorgang, wurde durch Reformation und Gegenreformation gehemmt, beschleunigte sich im 17. Jahrhundert wieder und verband sich mit der aufkommenden Naturwissenschaft und der historisch-philologischen Kritik. Aus dieser Gemengelage entwickelte sich die Aufklärung, die eine weitere Schwächung des religiösen Bewusstseins zur Folge hatte. Wie zuvor die katholische Mystik konnten spirituelle Bewegungen im Protestantismus wie Pietismus und Methodismus diesem Säkularisationsprozess nur teilweise entgegenwirken (64). Nach anfänglichen Schwierigkeiten stellte sich die evangelische Theologie auf die veränderte Geisteslage ein. Nahezu in allen mitgliederstarken Kirchen der Reformation entstanden liberale Gruppierungen, die das Gespräch mit den Geistes- und Naturwissenschaften aufnahmen und beispielsweise die historisch-kritische Methode auf die Erforschung der Bibel und ihrer Bücher anwandten (65). In diesen Kirchen werden Frauen zum geistlichen Amt zugelassen, auch in höchste Führungspositionen. Weder in der katholische Kirche noch in den orthodoxen Kirchen haben Frauen Zugang zum Priesteramt.
Luther leistete einen wesentlichen Beitrag zur Entwicklung der Hermeneutik, die für das sachgemäße Verstehen von Texten und Kunstwerken unerlässlich ist. Er lehnte bei der Interpretation der Bibel die im Mittelalter übliche Lehre vom vierfachen Schriftsinn ab und ließ nur den Literalsinn gelten. Denn nur so ist ein Text gegen Um- und Fehldeutungen geschützt. Außerdem benutzte Luther den hermeneutischen Zirkel. Er gewann aus der Exegese einzelner Bibelstellen und biblischer Bücher ihre Kernaussage, wandte diese dann auf die Bibel als Ganze an und gelangte von dort wieder zu ihren Teilen und einzelnen Bibelstellen, anhand derer er den exegetischen Befund überprüfen konnte. Auf diese Weise erkannte Luther als Zentrum der biblischen Botschaft die Erlösung durch Jesus Christus, die dem Menschen "ohn' sein Verdienst und Würdigkeit" im Glauben zugeeignet wird. Von dieser Position aus stellte Luther die Zugehörigkeit des Jakobus-, Judas- und Hebräerbriefs sowie der Johannes-Apokalyse zum Kanon der biblischen Bücher in Frage (66). Damit war für ihn auch die Lehre der Verbalinspiration der Bibel unmöglich geworden. Dies wiederum erlaubte das Entstehen einer liberalen reformatorischen Theologie. Durch die Reformation "vollzog sich (...) hinsichtlich der Verstehensbedingungen ein Umbruch von größtem kirchen- und geistesgeschichlichem Ausmaß" (Gerhard Ebeling (67)).
Bei aller Hochachtung vor den Leistungen der Aufklärung darf man dennoch ihre Grenzen und Schwächen sowie ihre offenkundigen sehr dunklen Stellen nicht übersehen.
Eine Grenze war, dass es der Aufklärung nicht gelang, die Religion zu verdrängen, vor allem deshalb nicht, weil die Philosophen der Aufklärung auf elementare Fragen nach dem Woher und Wohin der menschlichen Existenz nicht oder nicht in überzeugender Weise antworten konnten. Auch die ontologische Grundfrage blieb offen: Warum ist etwas, warum ist nicht nichts? Da zudem die Ethik der Aufklärung, was die Inhalte angeht, sich mit der biblisch-reformatorischen Ethik deckte, konnten weite Teile des protestantischen Bürgertums zu Trägern und Verwirklichern der aufklärerischen Gedanken werden.
Zur dunklen Seite der Aufklärung. Der Vorwurf, die Religion habe Kriege nicht verhindert, trifft auch die Aufklärung. Friedrich der Große, aufgeklärter Monarch, Freund und Verehrer Voltaires, gewährte seinen Untertanen Religionsfreiheit (68). Aber er führte Kriege, Angriffskriege. Seine Motive waren, ganz archaisch und der aufklärerischen Ethik zum Trotz, Machterhalt und Machterweiterung. Diese Politik wurde in Europa bis zu den beiden Weltkriegen beibehalten. Dass die Aufklärung nicht dagegen gefeit ist, in Irrationalität und Barbarei umzuschlagen, war schon in den Gräueltaten der Französischen Revolution zutage getreten. Karl Marx sah sich als legitimen Erben der Aufklärung. Die Marxisten Lenin und Stalin opferten durch ihre Politik Millionen Menschenleben und beraubten unzählige andere der Freiheit und körperlichen Unversehrtheit, um, wie sie meinten, der Verwirklichung des Ideals der "klassenlosen Gesellschaft" näherzukommen. Der Nationalsozialismus benützte den Sozialdarwinismus - mit seinem naturwissenschaftlichen Anspruch ein Produkt aufklärerischen Denkens -, um nicht nur die "Notwendigkeit" des Zweiten Weltkriegs ("Recht des Stärkeren"; "Recht ist, was dem Volke nützt"), sondern auch die systematische Tötung von Juden, Sinti, Roma und des angeblich "lebensunwerten Lebens" zu begründen (69), in summa etwa 26 Millionen Tote. Manche Historiker sprechen sogar von 50 Millionen. Unzählige andere Menschen verloren Angehörige, Heimat oder Gesundheit oder alles zusammen. Unermessliche Vermögenswerte wurden vernichtet. "Die vollends aufgeklärte Erde strahlt im Zeichen triumphalen Unheils", schrieben Max Horkheimer und Theodor W. Adorno im Exil in den Vereinigten Staaten, wohin sie mit Tausenden anderen Verfolgten des Naziregimes geflohen waren (70).
Dass es zu diesen Kriegen kommen konnte, war nicht nur dem Versagen des aufgeklärten Menschen geschuldet, sondern auch dem der Kirchen in Europa. Fels in der Brandung waren in beiden Weltkriegen die Vereinigten Staaten, die ihnen unter großen eigenen Opfern ein Ende bereiteten. (Im Zweiten Weltkrieg widersetzten sich Großbritannien, die Sowjetunion und andere Staaten ebenfalls der militärischen Aggression Deutschlands und seiner Verbündeten.) Durch ihre enorme Wirtschaftskraft zwangen die USA später auch die Sowjetunion und die Länder des Warschauer Pakts in die Knie und ermöglichten dadurch die Aufhebung der Spaltung Europas und die Verwirklichung der Demokratie in Osteuropa.
Unbestechliche intellektuelle Redlichkeit war das Credo der Aufklärung. Nichts widerspricht ihrem Selbstverständnis so sehr, wie der Versuch, sie und ihre Wirkungsgeschichte ideologisch zu überhöhen, nur ihre positiven Aspekte herauszustreichen ("Das verdanken wir der Aufklärung"; "Seit der Französischen Revolution ...") und das Negative zu übergehen.
Ohne Zweifel hat die Aufklärung, obwohl sie durch den Deutschen Idealismus und die gesamteuropäische Bewegung der Romantik abgelöst wurde, ihre außerordentlich großen und bleibenden Verdienste: die Stärkung der Menschenrechte im allgemeinen und der des Toleranzgedankens im besonderen sowie der unvoreingenommenen Erforschung der Wirklichkeit, die schon mit der Reformation im frühen 16. Jahrhundert beziehungsweise im naturwissenschaftlichen Bereich um etwa 1600 begonnen hatte.
Die Aufklärung war eine, wenn auch sehr wichtige Epoche der abendländischen Geistesgeschichte, die bis heute zutiefst von der jüdisch-christlichen Überlieferung bestimmt ist. "Der egalitäre Universalismus, aus dem die Ideen von Freiheit und solidarischem Zusammenleben, von autonomer Lebensführung und Emanzipation, von individueller Gewissensmoral, Menschenrechten und Demokratie entsprungen sind, ist unmittelbar ein Erbe der jüdischen Gerechtigkeits- und der christlichen Liebesethik" (Jürgen Habermas (71)).
Die Menschenrechte entstanden nicht alle auf einen Schlag. Das ist nicht verwunderlich, da jahrtausendealte, tief verwurzelte Überzeugungen verändert werden mussten. Die Bereiche, die sich Neuerungen gegenüber als besonders resistent erwiesen, waren so verschieden wie die Gleichstellung der Frau (z.B. im Wahlrecht), die Todesstrafe (bis heute umstritten), die Sklaverei und der Hexenglaube. Letzterer wurde durch die Reformatoren nicht beseitigt. Immerhin ging jedoch der Impuls dazu vom Protestantismus aus. Der Erste, der sich öffentlich gegen die Hexenprozesse aussprach, war der evangelische Arzt Johannes Weyer (1515-88). Auch dieser Protest ging demnach zeitlich der Aufklärung weit voraus. Im 17. Jahrhundert griff der Jesuit Friedrich von Spee (1591-1635) dieses Thema wieder auf, ein wichtiger katholischer Beitrag zur Entstehung der Menschenrechte. Allerdings waren in der katholischen Welt besonders viele vermeintliche Hexen und Zauberer hingerichtet worden. Der letzte Hexenbrand auf dem Boden des Deutschen Reiches war 1775 in Kempten, einem geistlichen Territorium. Der preußische Jurist Christian Thomasius (1655-1728) kämpfte gegen die Folter. Sie wurde 1740 in Preußen verboten, die anderen deutschen Länder folgten (72).
Die Abschaffung der Sklaverei war ein weiterer Schritt in der Ausgestaltung der Menschenrechte. Aufklärerische Ideen spielten dabei zwar eine gewisse Rolle in Teilen der geistigen Eliten der USA und Europas. Ausschlaggebend war aber, dass im Pietismus und in der evangelischen Mission im 18. und 19. Jahrhundert sich die Erkenntnis durchsetzte, dass das Verständnis des Menschen als Kind Gottes nicht mit der Sklaverei vereinbar ist. Auf Druck baptistischer Missionare wurde die Sklaverei 1834 in Großbritannien verboten, der Handel mit Sklaven war 1807 untersagt worden. Der eigentliche Durchbruch vollzog sich in den Vereinigten Staaten. Schon der Quäker William Penn (1644-1718) kämpfte gegen die Sklavenhaltung. Die amerikanischen Methodisten erließen 1786 ein entsprechendes kirchliches Verbot, größere Gruppen von Baptisten folgten 1789. Etwa 1820 begann das Abolionist Movement ("Sklavenhaltung ist Sünde") (73). Eine außerordentlich wichtige Rolle in diesem Prozess spielte der Roman "Uncle Tom's Cabin" (1852) von Harriet Beecher-Stowe, einer frommen Frau, Tochter eines presbyterianischen Pfarrers und Ehefrau eines Theologieprofessors (74). Nach Ende des Bürgerkriegs (1862-65) erhielten auch die Sklaven in den Südstaaten die Freiheit. Wie bei der Unabhängigkeit von den früheren Kolonialmächten folgten die Staaten Lateinamerikas auch bei der Sklavenbefreiung dem nordamerikanischen Beispiel mit mehreren Jahrzehnten Verzögerung. Haiti war zwar bereits 1804 unabhängig geworden und hatte die Sklaverei abgeschafft. Trotzdem hatte sich die soziale und wirtschaftliche Lage der schwarzen Bevölkerungsmehrheit allenfalls geringfügig verbessert. Unter anderem ließ sich Frankreich die Unabhängigkeit seiner bisherigen Kolonie teuer bezahlen. Papst Leo XIII. verurteilte 1888 die Sklaverei und rief zu ihrer Bekämpfung auf (75).
An dieser Stelle muss auf einige Thesen eingegangen werden, die immer wieder in der Öffentlichkeit vertreten werden.
Neben Calvins Prädestinationslehre wird oft die strenge Kirchenzucht im Genf seiner Zeit kritisiert. In Calvin aber den Vorläufer moderner totalitärer Staaten sehen zu wollen ist abwegig. Es gab weder in Calvins Genf noch irgendwo sonst im Protestantismus massenhafte Einkerkerung, Folter oder Hinrichtungen Andersdenkender. Der Protestantismus kannte nie etwas, was mit der Inquisition vergleichbar gewesen wäre. Beispielsweise betrachtete das deutsche Luthertum Katholiken nicht als Ketzer. In lutherischen Territorien wurden sie geduldet, sofern sie sich ruhig verhielten. Es gab keine Hinrichtungen. Zwar wurden in der Frühzeit des Protestantismus Andersgläubige nicht selten diskriminiert oder drangsaliert, gelegentlich auch zum Auswandern gezwungen, aber zu Hinrichtungen aus religiösen Gründen kam es, von Täufern abgesehen, nur in Einzelfällen, z.B. Thomas Morus. Die Erlaubnis zum Auswandern (privilegium emigrandi), heute ein Menschenrecht, wurde von den Betroffenen als Wohltat und Fortschritt empfunden. Sie ist eine der Wurzeln der Religionsfreiheit in der Neuzeit (76).
Ein Sonderfall ist Michael Servet (Servetus), unter dessen Todesurteil auch Calvins Unterschrift steht. Der spanische Arzt und Theologe war als Leugner der Trinitätslehre, aus dem Gefängnis in Vienne entkommen, wo er nachträglich in effigie verbrannt wurde, vor der Inquisition nach Genf geflohen. Die Ablehnung der altkirchlichen trinitarischen und christologischen Dogmen war im 16. Jahrhundert für Katholiken, Orthodoxe, Lutheraner, Reformierte und Anglikaner ein ungeheures Sakrileg, gleichbedeutend mit Atheismus (77). Die Schweizer Reformierten waren und sind sich der geschichtlichen Schuld bewusst, die Servets Hinrichtung bedeutet. Deshalb wurde zu seinen Ehren 1903 in Genf eine Gedenktafel enthüllt (78). Wollte man dasselbe für die namenlosen Opfer der Inquisition tun, müsste man allein in Südfrankreich einige tausend Denkmäler errichten. Dort war das Zentrum der Albigenser, Katharer, Waldenser und später der Hugenotten. In Spanien, wo die Inquisition eine staatliche Einrichtung war, in Portugal und ihren überseeischen Kolonien ging die Zahl der mit großem Pomp gefeierten Autodafés (portug. "Akte des Glaubens") in die Zehntausende. Die Opfer waren Juden, Muslime (Moriscos), "Lutheranos", Indios und indische Christen (portugiesische Kolonie Goa). In katholischen Ländern war die Inquisition bis ins 19. Jahrhundert tätig (Portugal 1820, Spanien 1834). Da nur ein Bruchteil der Prozessakten oder anderer Quellen erhalten blieb, kann es für die Zahl der Opfer der Inquisition mit ihrer rund 600 Jahre währenden Geschichte nur grobe Schätzungen geben. Wahrscheinlich war diese kirchliche Einrichtung für mehrere hunderttausend Todesopfer verantwortlich. Beispielsweise wurde die Zahl der allein von der Spanischen Inquisition zwischen 1481 und 1530 getöteten Menschen auf 1.500 bis 12.000 geschätzt. Viele andere, die widerriefen und ihre Kerkerhaft überlebten, waren körperlich und seelisch gebrochen. Sie mussten zudem in der Öffentlichkeit das stigmatisierende "Büßerhemd" tragen (79).
Nicht nur in der katholischen Kirche, sondern auch bei Protestanten wurde beträchtlicher Druck auf Gemeindeglieder ausgeübt, die sich mit der Kirchenlehre oder ethischen Vorschriften schwertaten. Wegweisend war aber, dass in Luthers und Calvins Theologie von Anfang an auch starke Elemente individueller Freiheit wirksam waren. Eine von Luthers Hauptschriften kreist um den Begriff "Freiheit" ("Von der Freiheit eines Christenmenschen", 1520). Für Calvin waren bestimmte Rechte des Einzelnen unantastbar: Leben, persönliche und Bekenntnisfreiheit, Eigentum. Und: "Es ist ein unschätzbares Geschenk, wenn Gott es erlaubt, dass ein Volk die Freiheit hat, Oberhäupter und Obrigkeiten zu wählen" (80). "Die Reformation hat auf nahe Sicht die Intoleranz, auf weite Sicht die Toleranz gefördert" (Karl Heussi (81)). Vielfältige Zwänge kennt auch die säkulare Welt (z.B. Konsum, Mode, Zeitgeist, Arbeitswelt).
Gegen die Reformatoren wird nicht selten der Vorwurf erhoben, sie hätten die "Einheit der Kirche" zerstört. Diese war aber nie geschichtliche Realität. Schon das Urchristentum war tief gespalten, was nur mühsam überbrückt werden konnte. Radikale Judenchristen, die den Aposteln Petrus, Johannes und Jakobus, einem leiblichen Bruder Jesu, nahestanden, forderten, auch Heidenchristen müssten die rituellen Vorschriften des Judentums einhalten, vor allem die Beschneidung sowie die Speisegebote und -verbote. Die Heidenchristen, angeführt von Paulus, lehnten dies vehement ab, da dadurch der Glaube an Christus an Vorbedingungen geknüpft würde, die den Glauben zu einem menschlichen Werk degradieren würden. Das war für Paulus der status confessionis. Leidenschaftlich vertrat er auf dem so genannten Apostelkonzil in Jerusalem seine theologische Auffassung - und setzte sich durch. Man einigte sich, dass er und seine Mitarbeiter unter den Heiden missionieren sollten, ohne ihnen rituelle Auflagen zu machen, die Judenchristen sollten dagegen das Evangelium den Juden predigen. Das waren zwei grundverschiedene Konfessionen, schon am Anfang der Kirchengeschichte. Das einzige, sehr dünne Band zwischen ihnen war das Versprechen des Paulus, in den von ihm gegründeten Gemeinden Geld zu sammeln und der armen judenchristlichen Gemeinde in Jeruslam zu schicken (Galater 2). An diese Zusage hielt er sich gewissenhaft. Hätten die Judenchristen in dieser Kontroverse die Oberhand gewonnen, wäre das junge Christentum eine unbedeutende jüdische Sekte geworden und genauso rasch von der Bildfläche verschwunden wie das Judenchristentum selbst. Paulus musste sich außerdem immer wieder mit gnostischen Weisheitslehrern auseinandersetzen, die in "seine" Gemeinden eindrangen, wenn er weitergereist war (82). Später, in der Alten Kirche, rangen eine fast unübersehbare Zahl größerer und kleinerer Gruppen sowie einzelne prominente Theologen um die richtigen theologischen Formulierungen. Sehr oft belegten sich die Kontrahenten gegenseitig mit formellen Verfluchungsworten (Anathema) und sprachen einander das Christsein ab. Die hauptsächlichsten Streitthemen waren die Christologie, die Trinitätslehre, der Gebrauch von Ikonen, die Kirchenverfassung und die Rechtfertigungslehre (83). Die Arianer waren lange Zeit ernsthafte Konkurrenten für die Kirchen in Rom und Byzanz (84). Nach jahrhundertelangen heftigen Streitigkeiten trennten sich Ost- und Westkirche im Jahr 1054 endgültig. Spätestens jetzt war offenkundig, dass es die "Einheit der Kirche" nicht gab. Einer der Hauptgründe für das Schisma war der Anspruch der Päpste, Oberhaupt der ganzen Christenheit zu sein. Das kam und kommt für die orthodoxen Christen nicht in Frage (85). Im Hochmittelalter spalteten sich Albigenser, Katharer und Waldenser von der römischen Kirche ab. Vom 12. bis 14. Jahrhundert wurden sie in mehreren Kriegen ("Kreuzzügen") vernichtet. Nur einige kleine Waldensergemeinden überlebten in abgelegenen Alpentälern (86). Auch andere Gruppierungen wurden verfolgt, z.B. der Templerorden, Beginen und Begarden. Johannes Hus wurde 1415 verbrannt, die Hussiten blutig verfogt (87). Soweit es im westlichen Europa die "Einheit der Kirche" gab, wurde sie durch Zustimmung einer großen Mehrheit der Gläubigen zur Kirchenlehre aufrechterhalten, aber auch durch Androhung und Anwendung psychischer und physischer Gewalt. Von 1378 bis 1409 war die Kirche in sich selbst gespalten: Päpste regierten in Rom, und Päpste regierten in Avignon (88).
Die These, Demokratie und Menschenrechte seien Errungenschaften der Renaissance, des Humanismus und der Aufklärung, lässt sich nicht halten. Die Künstler der Renaissance und die Gelehrten des Humanismus hatten sich zwar einen gewissen Freiraum innerhalb der Kirche geschaffen, aber sie hatten weder die Absicht noch die theologischen Mittel, um die katholische Kirche grundsätzlich in Frage zu stellen. Die Humanisten bildeten eine verhältnismäßig kleine Gruppe von Gelehrten, die einen begrenzten Einfluss auf das gebildete städtische Bürgertum und Teile des Adels hatten, nicht aber auf Bauern und Handwerker, die die bei weitem größten Bevölkerungsteile ausmachten. Zudem war den Humanisten das Schicksal von Johannes Hus und der Hussiten Warnung genug, sich in ihrer Kritik an der Kirche nicht über eine recht eng gezogene Grenze hinauszuwagen (z.B. sexuelle Laxheit in Teilen des Klerus). Die Inquisition hatte ihre Augen und Ohren überall. Den radikalen Bruch mit der Kirche konnte nur die Reformation vollziehen. Als sie begann, löste sich die Gruppe der Humanisten auf. Einige schlossen sich der neuen Bewegung an (Melanchthon, Bucer, Hutten, Zwingli, Calvin, Oekolampad, Beza, Castellio, William Tyndale u.a.), die anderen blieben katholisch, z.B. Reuchlin, Erasmus, Pirkheimer und Morus. Letzterer war für Toleranz eingetreten, aber als Lordkanzler Heinrichs VIII. befahl er in voller Überzeugung, das Richtige zu tun, die Verbrennung einer ganzen Anzahl von Protestanten (89). Eine eigenständige "humanistische Ethik", auf die in der Öffentlichkeit immer wieder Bezug genommen wird, gab es nie. Durch ihre Gelehrsamkeit halfen die Humanisten beiden Kirchen sehr (90).
Falsch ist die Behauptung, Frankreich sei "das Mutterland der Menschenrechte". Denn zur selben Zeit, als in Nordamerika Puritaner und andere Protestanten aus biblisch-reformatorischer Überzeugung der katholischen Minderheit die freie Ausübung ihrer Religion zubilligten und in England und Deutschland die bewaffneten konfessionellen Konflikte längst geendet hatten (1648 bzw. 1689), führten die katholischen Könige Frankreichs Kriege gegen die evangelische Minderheit in ihrem Land. Den Besiegten wurde auf königlichen Befehl die gefürchtete Dragonade aufgezwungen: In die Häuser der Hugenotten wurden Soldaten (Dragoner) einquartiert, die insbesondere Frauen und Mädchen so lange brutal terrorisierten, bis die Verzweifelten bereit waren, katholisch zu werden. Viele evangelische Männer wurden zum Sklavendienst auf Galeeren verurteilt. In den Jahren 1724 und 1743 bis 1752 ereigneten sich noch einmal furchtbare Verfolgungen. Besonders der Fall des Hugenotten Jean Calas, den Voltaire in ganz Europa bekannt gemacht hatte, empörte viele Menschen innerhalb und außerhalb Frankreichs. Auswandern war den Hugenotten bei Todes- oder Galeerenstrafe verboten. Nur etwa einer halben Million gelang die Flucht ins evangelische Ausland. Rechtssicherheit erhielten die zahlenmäßig stark geschrumpften Hugenotten erst 1787, zwei Jahre vor der Französischen Revolution (91). Diese verriet ihrerseits durch ihre Schreckensherrschaft die eigenen Ideale. Selbst die Revolutionärin Olympe de Gouges, die für Frauen ebenfalls Freiheit, Gleichheit und Geschwisterlichket forderte, starb auf der Guillotine. Pierre Vergniaud sagte vor seiner Hinrichtung: "Die Revolution, gleich Saturn, frisst ihre eigenen Kinder" (52). Das Mutterland der Menschenrechte ist nicht Frankreich, es sind die Vereinigten Staaten.
So weit der Exkurs und zurück zu den Vereinigten Staaten des 18. Jahrhunderts.
Dort begünstigten einige weitere Faktoren das Erstarken der demokratischen Strukturen, der Menschenrechte, von Wirtschaft, Wissenschaft und Technik.
Die Verfassung von 1787 legte die Grundsätze der amerikanischen Demokratie fest. Sie war die erste schriftlich fixierte Verfassung der Welt und diente später den Menschen in vielen Staaten als Vorbild, so auch den deutschen Revolutionären von 1848, den Autoren der Weimarer Verfassung und den Vätern und Müttern des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland. Grundlegend ist neben der föderalen Struktur des Staates und der Herrschaft des Rechts ein System, durch das sich Legislative, Exekutive und Judikative gegenseitig kontrollieren und ausbalancieren ("Checks and Balances") (92). Es greift auf das Prinzip der Gewaltenteilung zurück, das die Staatsrechtsgelehrten Locke und Montesquieu nicht aufgrund theoretischer Überlegungen entwickelt, sondern aus einer Analyse der nicht schriftlich festgelegten, aber funktionierenden britischen Staatsverfassung ihrer Tage abgeleitet hatten (93). Die ersten zehn Zusätze zur Verfassung ("Bill of Rights" (1791); nicht zu verwechseln mit der englischen Bill of Rights) enthalten fundamentale Menschen- und Bürgerrechte, unter anderem die strikte Trennung von Kirche und Staat. Die ehemaligen Sklaven dürfen seit 1870 an Wahlen teilnehmen. Frauen haben seit 1920 das aktive und passive Wahlrecht (94).
In der Geschichte und Gegenwart der Vereingten Staaten gibt es eine Reihe sehr dunkler Kapitel, etwa der Umgang mit der indianischen Urbevölkerung, die Sklaverei, der anhaltende Rassismus, der Vietnamkrieg, Abu Grebh und Guantánamo. Aber die seit Gründung der Kolonien in Neuengland entwickelten Menschen- und Bürgerrechte, die ihren Niederschlag in der Verfassung und ihren Ergänzungen fanden und nie durch eine Revolution in Frage gestellt wurden, dienen zusammen mit den Entscheidungen des Obersten Gerichtshofs (Supreme Court) als Richtschnur für das politische Handeln der Amerikaner. Beispielsweise verdankt die UN-Menschenrechtserklärung (1949) ihr Entstehen hauptsächlich dem unermüdlichen Engagement von Präsident Franklin D. Roosevelt und seiner Frau Eleanor Roosevelt (95).
Trotz der verfassungsmäßigen Trennung von Staat und Kirche spielt in den Vereinigten Staaten das Religiöse eine starke Rolle in der Öffentlichkeiut, weit mehr als in Europa. Der Präsident legt seinen Amtseid, der mit den Worten endet "So help me God", auf eine Bibel ab. Auf jeder Dollarnote steht "IN GOD WE TRUST". Der Kongress und die Streitktäfte haben vom Staat bezahlte Geistliche (chaplains). Die Sitzungen des Kongresses beginnen mit einem Gebet. Der Präsident schließt seine Reden vor dem Kongress tarditionell mit den Worten "God bless you and may God bless the United States of America". Diese Segensworte verwenden die Präsidenten und unzählige andere Redner im öffentlichen Raum auch bei anderen Anlässen (96). Wie dominierend der Protestantismus nach wie vor im amerikanischen Leben ist, zeigt sich etwa daran, dass von 44 Präsidenten nur einer katholisch war (J.F. Kennedy (97)).
In Europa verlief die Entwicklung hin zu Demokratie und Menschenrechten sehr viel komplizierter, langsamer und später. Während der Herrschaft Cromwells bestand in England für einige Jahre keine Monarchie, dasselbe war in Frankreich während der Revolution der Fall, die jedoch in einem Meer von Blut unterging und ihre ethischen Postulate Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit in ihr krasses Gegenteil verkehrte. Von dem Chaos in Frankreich profitierte Napoleon, der sich zum Kaiser krönte, eine eigene Dynastie gründete und fast ganz Europa mit Krieg überzog. Aus den Freiheitskriegen und dem Wiener Kongress gingen die feudalen Mächte gestärkt hervor. Sogar die Bourbonen kehrten zeitweise auf den französischen Thron zurück (98).
"Amerika, du hast es besser / als unser Kontinent, der alte", dichtete Goethe im Jahr 1827 (99). Seit in den Vereinigten Staaten eine demokratische Republik bestand, beschäftigte sie in Europa Dichter und Denker, aber auch einfache Menschen aus dem Volk, die sich nach Gleichberechtigung und gesellschaftlicher und politischer Freiheit sehnten. Männer wie Schiller und Hölderlin hatten den Beginn der Französischen Revolution enthusiastisch gefeiert, waren aber von ihrem Verlauf und Ende bitter enttäuscht. Auch in den anderen europäischen Ländern wandte man sich angewidert von der Revolution in Frankreich ab. Ähnlich erging es Beethoven einige Jahrzehnte später mit Napoleon. Die Revolution von 1848 wurde von den Kräften der Restauration niedergeschlagen. Erst in einem lange währenden, schmerzhaften Prozess übernahmen die Staaten des alten Kontinents nach und nach, was in den Vereinigten Staaten seit 1776 Wirklichkeit war. In England war zwar schon im 13. Jahrhundert die Macht des Königs bis zu einem gewissen Grad eingeschränkt worden, aber die Nutznießer waren fast ausschließlich die Angehörigen des Adels. Die Geschichte des britischen Parlamentarismus war lang und wechselvoll, doch erst zur Zeit von Königin Viktoria gingen schließlich alle politischen Rechte der Monarchie auf die beiden Häuser des Parlaments über (100). Die skandinavischen Länder, die Niederlande und Belgien wurden etwa zur selben Zeit ebenfalls konstitutionelle Monarchien. Trotz der Revolution von 1789 entstand in Frankreich erst nach mehreren Anläufen 1946 mit der Vierten Republik eine dauerhafte Demokratie. Deutschland, Österreich und Italien folgten ebenfalls nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Am spätesten setzte sich im westlichen Europa die demokratische Staatsform in Portugal (1976), Spanien und Griechenland (1978). Die Schweiz ist seit Jahrhunderten demokratisch. Jedoch diente sie den europäischen Staaten nicht als Vorbild, da man unter anderem das kantonale System und die Formen der direkten Demokratie nicht auf einen großen Flächenstaat übertragen zu können glaubte.
Die Charta und die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen sprechen der demokratischen Staatsform und den Menschenrechten universale Gültigkeit zu. Seit dem Ende der Kolonialzeit, der Sowjetunion und des Warschauer Pakts befinden sich viele Staaten in aller Welt in einem Prozess der Demokratisierung, der unterschiedlich weit fortgeschritten ist. Die früheren britischen Kolonien Kanada, Australien und Neuseeland, aber auch Indien und Japan sind gefestigte Demokratien. (Japan hatte sich 1854 westlichen, vor allem amerikanischen Einflüssen geöffnet (101).)
Arbeit, Wirtschaft und Handel
Von außerordentlicher Bedeutung für das Entstehen und die weitere Entwicklung von Neuzeit und Moderne war die Einstellung der Reformatoren zur Arbeit. Sie verstanden Arbeit als Dank des Menschen für die von Gott in Christus geschenkte Erlösung und als Dienst am Nächsten. Rein meditative Beschaulichkeit lehnten Luther und Calvin als nicht im Neuen Testament bezeugt ab. Sie verwarfen Müßiggang, Betteln, Zinsmissbrauch und Wucher, wobei Calvin dem Handel und der Wirtschaft eine größere Gestaltungsfreiheit einräumte als Luther. Das lag wohl zum Teil daran, dass in Genf diese Wirtschaftszweige stärker ausgebildet waren als in den vor allem agrarisch strukturierten Gebieten, die sich Luthers Reformation anschlossen (102).
Der Gedanke, wirtschaftlichen Erfolg als Zeichen göttlicher Erwählung zu verstehen, spielt bei Calvin nur am Rande eine Rolle. Er gewann erst in späteren, sich verweltlichenden Formen des Calvinismus wachsende Bedeutung und wurde so zum Ausgangspunkt für Max Webers Thesen zur Entstehung des Kapitalismus (103).
Die Wurzeln des Kapitalismus liegen im Hochmittelalter (z.B. Hanse) und in der Renaissance, vor allem in den großen Bankhäusern der oberitalienischen Städte. Aus dieser Zeit stammen viele noch heute gebräuchliche italienische Fachbegriffe des Bankwesens (Konto, Saldo, Giro, Skonto u.a.). Die Handelshäuser der Fugger und Welser finanzierten Unternehmungen von Päpsten, Kaisern und Königen.
Von größter Tragweite für die weitere Entwicklung des Wirtschaftsleben war, dass Calvin den überkommenen Zusammenhang zwischen dem aus wirtschaftlicher Tätigkeit erzielten finanziellen Gewinn und einem luxuriösen Lebensstil zerbrach. Für die Reformatoren folgt aus der durch Christus geschehenen Erlösung eine Lebensführung, die Gottes Willen entspricht: Ehrlichkeit, Fleiß, Sparsamkeit, Disziplin und, vor allem bei Calvin, Verzicht auf Vergnügungen und Luxus ("innerweltliche Askese" (Max Weber)). Dadurch wird es möglich, dass ständig 60 bis 80 Prozent des Gewinns eines Wirtschaftsunternehmens in die Produktionserweiterung und die jeweils neuesten und effektivsten Maschinen und Herstellungsmethoden investiert werden können. Auf diese Weise stärken sich Wirtschaft, Naturwissenschaft und Technik wechselseitig. Dies führt - zur größeren Ehre Gottes - zu einem weiteren Wachstum des Gewinns, also steigendem Wohlstand, nicht nur bei den Handwerksmeistern und Unternehmern, sondern auch bei ihren Arbeitern, die durch höhere Löhne in die Lage versetzt werden müssen, das immer größer werdende Angebot an Produkten und Dienstleistungen kaufen zu können. Andernfalls bricht der Wirtschaftskreislauf zusammen. Gleichzeitig ermöglichen es vermehrte Einnahmen aus Steuern und Abgaben dem Staat, das Bildungswesen und die Infrastruktur ständig zu verbessern (104). Das Grundrecht auf Koalitionsfreiheit führte ab dem 19. Jahrhundert zur Gründung von Gewerkschaften, die die Interessen der Arbeitnehmer vertreten.
Max Weber hat insofern recht, als die entscheidende Weiterentwicklung kapitailistischer Verhaltensweisen auf mehr oder weniger stark säkularisierte Ausgestaltungen des Calvinismus zurückgeht, hauptsächlich im angloamerikanischen Raum (Puritanismus). Dort verbanden sie sich mit den freiheitlichen, demokratischen Strukturen und der hohen Wertschätzung von Naturwissenschaft und Technik. Auch als das religiöse Bewusstsein schwächer wurde, blieb diese Einstellung gegenüber Arbeit und Wirtschaft erhalten (104). Die geschichtliche Erfahrung zeigt, dass der Kapitalismus oder die Marktwirtschaft, der weniger belastete Begriff für dieselbe Sache, das einzige Wirtschaftssystem ist, das auf Dauer das Masseneinkommen steigern kann. Andernfalls würde etwa die Kommunistische Partei Chinas nicht auf dieses System setzen, mit großem Erfolg. Allerdings bedarf der Kapitalismus einer starken sozialen Komponente, damit er von der Mehrheit der Menschen auf Dauer akzeptiert wird und sich nicht selbst zugrunde richtet. Luthers und Calvins Verbot von Wucherzinsen bedeutet für die Gegenwart, dass sich eine kleine Gruppe von Kapitaleignern nicht durch exzessive Habgier auf Kosten der Allgemeinheit bereichern darf. Die in Deutschland praktizierte Soziale Marktwirtschaft ist eine Spielart des Kapitalismus.
Naturwissenschaft, Technik und Ökologie
Luther und Calvin legten größten Wert darauf, dass alle Gemeindeglieder in die Lage versetzt wurden, die Bibel selbständig zu lesen. Deshalb förderten die Reformatoren und der Protestantismus das Bildungswesen, von der Volksschule über die Lateinschule bis zur Universität (105). Beipielsweise gründeten die Pilgerväter bereits 1636 Harvard College, gerade einmal 16 Jahre nach der Landung in Massachusetts (106). Die Kongregationalisten ließen 1701 Yale folgen.
Das Entstehen der neuzeitlichen Naturwissenschaft im westlichen Teil des Abendlands beruht auf einer religiös-weltanschaulichen Voraussetzung: Die durch den biblischen Glauben entmythisierte und von religiösen Tabus befreite empirische Welt ermöglicht es dem Menschen, diese unvoreingenommen zu erkunden und zu gestalten (107). Diese Entmythisierung wird exemplarisch deutlich im ersten Schöpfungsbericht (1. Mose 1): Sonne und Mond sind nicht wie in fast allen anderen Religionen Götter, sondern der jenseits der Welt stehende Schöpfer hat sie als "Lampen" erschaffen (V. 16-18), damit sie die Erde am Tag bzw. in der Nacht erleuchten (108). An diesem Punkt setzten ab dem 16. Jahrhundert die Forschungsarbeiten von Kopernikus, Galilei, Brahe, Kepler, Newton und anderer Naturwissenschaftler an. Sie schufen die Grundlagen der modernen Naturwissenschaft. Die Beeinflussung durch das philosophische Denken des antiken Griechenlands spielte dabei lediglich eine untergeordnete Rolle. Dieses war schon im Mittelalter aufgegriffen worden, da es die Welt in ähnlicher Weise entmythisiert wie der biblische Glaube. Die Ansätze zur Herausbildung einer naturwissenschaftlichen Sicht der Welt im antiken Griechenland waren jedochschon vor der Zeitenwende abgebrochen worden (109), vermutlich unter dem Einfluss der tiefgreifenden Remythisierung der Wirklichkeit im griechischen Kulturkreis (Gnosis, Mysterienkulte).
Das Verhältnis der reformatorischen Kirchen zur Naturwissenschaft ist weder durch einen Fall Giordano Bruno noch durch einen Fall Galilei belastet. Obwohl Luther wie fast alle seine Zeitgenossen das heliozentrische Weltbild ablehnte - Kopernikus konnte die Erdrotation nicht beweisen - und obwohl es im 19. Jahrhundert eine heftige Kontroverse über die Evolutionstheorie gab, war der Protestantismus unbefangen gegenüber naturwissenschaftlichen Erkenntnissen und technologischen Neuerungen. Deshalb nahmen in den protestantischen Ländern nicht nur die Geisteswissenschaften, sondern fast noch mehr die Naturwissenschaften einen großen Aufschwung, und in ihrem Gefolge entstand eine Flut von immer neuen technischen Errungenschaften. Der Schotte James Watt baute die erste leistungsfähige Dampfmaschine (1765), die die Industrialisierung ermöglichte. Die weitaus meisten bahnbrechenden naturwissenschaftlichen Entdeckungen und technischen Erfindungen wurden und werden im protestantischen Raum gemacht (Eisenbahn, Dampfschiff, Chemie, Pharmazie, Evolutionstheorie, Elektrotechnik, Telefon, Auto, Flugzeug, Kernphysik, Radio, Fernsehen, Halbleitertechnologie, Computer, Internet, Genetik u.v.a.m.). Von dort stammt die große Mehrzahl der Nobelpreisträger in Physik, Chemie, Medizin und der Wirtschaftswissenschaften. Bis 2009 gingen von den Preisen in den wissenschaflichen Fächern 248 in die USA, 79 nach Großbritannien, 80 nach Deutschland, 31 nach Frankreich und 13 nach Italien. Keine solchen Preise hatten neben vielen anderen Staaten Spanien, Portugal und die Länder Lateinamerikas (110). Die Nobelpreise, diese begehrtesten Auszeichnungen für herausragende Leistungen in den Naturwissenschaft, der Literatur und für das Engagement für den Frieden werden in Schweden und Norwegen, zwei lutherischen Ländern, vergeben.
Die Reformatoren nahmen den Schöpfungsauftrag ernst, demzufolge der Mensch als Gottes Mandatar sich "die Erde untertan machen" soll (1. Mose 1, 28). Dies bedeutet aber keinesfalls die Erlaubnis, Teile der Schöpfung zu zerstören. Es verstößt gegen die Intention dieses Textes, wenn man ihn so verstehen wollte, dass der Schöpfer zunächst höchst plan- und liebevoll die Welt Schritt für Schritt erschafft, dann aber einem Geschöpf den Auftrag gibt, Gottes gute Werke teilweise wieder zugrunde zu richten, zumal nach 1. Mose 2, 15 der Garten Eden "bebaut und bewahrt", also nachhaltig bewirtschaftet werden muss (111). Hinter der Formulierung, sich die Erde untertan zu machen, steht das antike Ideal vom gerechten König, der seine Machtfülle einzig und allein zum Wohlergehen seiner Untertanen einsetzt. Das Dominium Terrae gebietet Bewahrung der Schöpfung. Schädigung der Natur und Raubbau ihr können sich nicht auf die Bibel berufen.
Soziale Verantwortung
Luthers und Calvins Geist ist auch auf sozialem, humanitärem und diakonischem Gebiet kräftig zu spüren. Im 18. und 19. Jahrhundert engagierten sich insbesondere britische Methodisten, Baptisten und Angehörige anderer Freikirchen (Free Churches) stark in sozialen Fragen, z.B. Sklavenbefreiung und Bildung von Gewerkschaften. Gruppen wie etwa die Heilsarmee nahmen sich der Obdachlosen und Entwurzelten an. Überall im Bereich der reformatorischen Kirchen entstanden Krankenhäuser und diakonische Einrichtungen, die sich bis heute um Kranke und Behinderte kümmern. In Deutschland waren Gründerpersönlichkeiten wie Theodor Fliedner, Johann Hinrich Wichern und Friedrich von Bodelschwingh tätig. Das Genossenschaftswesen entstand in Großbritannien. In Deutschland gründeten der überzeugte reformierte Christ Friedrich Wilhelm Raiffeisen und der Preuße Hermann Schulze-Delitzsch ein Netz von Genossenschaften, die der verarmten ländlichen und städtischen Bevölkerung eine außerordentliche Hilfe waren (112). Heute sind Genossenschaften besonders in den Entwicklungs- und Schwellenländern unverzichtbar. Ein anderer evangelischer Preuße, Bismarck, war führend in der Schaffung der modernen Sozialversicherungsgesetzgebung. Das Rote Kreuz wurde von dem pietistisch frommen Reformierten Henri Dunant ins Leben gerufen. Er hatte als junger Mann in seiner Vaterstadt Genf eine Ortsgruppe des CVJM gegründet. Seiner Initiative verdankt auch die Genfer Konvention ihr Entstehen (113).
Insbesondere im angelsächsischen Raum blüht das Stiftungswesen. Die großen privaten Universitäten wie Harvard, Yale, Princeton oder Stanford verfügen jeweils über ein gewaltiges Stiftungsvermögen. Zum Beispiel stifteten J. Rockefeller sen., der ein aktives Mitglied seiner Baptistengemeinde war, und sein Sohn Milliarden für religiöse, gemeinnützige und wissenschaftliche Zwecke (114). Bill Gates und seine Frau überführten den größten Teil ihres Vermögens in eine Stiftung, die humanitäre Ziele verfolgt.
Zusammenfassung
Ohne Luther und Calvin, ohne die Puritaner und die anderen Protestanten wäre Nordamerika auf dieselbe oder doch eine sehr ähnlich Weise kolonisiert worden wie Lateinamerika. Spanier und Portugiesen etablierten in ihren Kolonien eine feudalistische Gesellschaftsordnung, deren Grundzüge bis in die Gegenwart Bestand haben. Die Folgen sind, verglichen etwa mit den Vereinigten Staaten, starke Defizite in politischer Stabilität, Achtung von Recht und Gesetz, sozialem Ausgleich, im Bildungswesen, in der Wirtschaftskraft und wissenschaftlich-technischen Kompetenz. Die wirtschaftlichen Unterschiede sind so gravierend, dass die USA gezwungen sind, ihre Grenze zu Mexiko und ihre Küstengewässer am Golf von Mexiko massiv zu schützen, um Millionen von Lateinamerikanern daran zu hindern, illegal einzuwandern. Die illegale Einwanderung ist eines der größten, ständig schwieriger werdenden innerpolitischen Probleme der USA.
Die durch Luther und Calvin geprägten Länder sind die skandinavischen Staaten, Großbritannien und seine früheren Kolonien Vereinigte Staaten, Kanada, Australien und Neuseeland. Hinzu kommen die Länder, deren Bevölkerung zwischen etwa einem Drittel und der Hälfte evangelisch ist: die Niederlande, die Schweiz, Deutschland. Sie alle zeichnen sich aus durch ein außerordentlich hohes Maß an Offenheit, freiheitlichem Geist, Achtung der Menschen- und Bürgerrechte, politischer Stabilität, sozialer Verantwortung sowie wirtschaftlicher Stärke und wissenschaftlich-technischer Innovationskraft. Diese Faktoren bedingen und verstärken sich gegenseitig durch positive Rückkopplung. Sie haben die Vereinigten Staaten zur Weltmacht aufsteigen lassen. Diese Stärken der protestantischen Welt kommen der ganzen Menschheit zugute. Politische und persönliche Freiheit, ständig neue technische und medizinische Errungenschaften, die das Leben der Menschen erleichtern und verlängern, sind nicht aus sich selbst heraus entstanden. Sie bedurften der großen geistigen Weichensteller und Gestalter.
Seit dem frühen 16. Jahrhundert übte niemand einen ähnlich umfassenden, tiefgreifenden und nachhaltigen Einfluss auf das Weltgeschehen aus wie Luther und Calvin. Sie waren unter anderem die geistigen Väter der neuzeitlichen Demokratie und der Menschenrechte.
Einzelnachweise
1. Calvin et Strasbourg (französisch) 2. Heribert Smolinsky: Kirchengeschichte der Neuzeit, Band 1, 2. Auflage, Patmos, Düsseldorf (2008), S. 85, ISBN 978-3-491-70420-6 3. Vgl. Samuelsson (1993); Tawney (1926) 4. Oskar Pfister: Calvins Eingreifen in die Hexer- und Hexenprozesse von Peney 1545 nach seiner Bedeutung für Geschichte und Gegenwart, Zürich (1947) 5. http://www.calvin09.org/ 6. http://www.calvin09.de/ 7. Ebeling: Luther, Sp. 506 ff. - Heussi, S. 312 ff. - Bizer, S. 154 ff 8. Ernst Wolf: Protestantismus, Sp. 649 9. Heussi, S. 343 f, 454 f, 458 10. Heussi, S. 325 f, 346 ff, 369 ff, 378 ff, 386 f, 422 ff. - Strasser, Sp. 1588-93. - Otto Weber: Calvin, Sp. 1593-99 11. Heussi, S. 327 ff, 333, 336, 378 ff 12. Heussi, S. 322, 386. - Calvins "theologisches Lebenswerk kann man als Zusammenfassung der Reformation überhaupt ansehen: Seine Geschichtsmächtigkeit beruht auf seiner Geschlossenheit, die wiederum durch die von der Bibel beherrschte Diszipliniertheit seines Denkens bewirkt ist. (...) Wie er die Überlieferung in das reformatorische Denken hereinnimmt und ihm gemäß umformt, so öffnet sich ihm auf der anderen Seite vermöge der europäischen Weite seines Gesichtsfeldes eine werdende moderne Welt, die er durch seine Theologie maßgebend mitgestaltet hat" (Otto Weber: Calvin, Sp. 1594). 13. Vgl. Bartsch. - Wikipedia: Protestantismus in China. - Wikipedia: Reformierter Weltbund 14. Heussi, S. 466 ff 15. Wikipedia: United Church of Christ 16. Otto Weber: Calvin, Sp. 1596 17. Heussi, S. 312 ff 18. Wertenbruch, Sp. 869 ff 19. Heussi, S. 97 f 20. Wikipedia: Inquisition 21. Luther (1523 a), S. 98 f 22. Heussi, S. 309, 315 f, 527 23. Heussi, S. 303, 527 24. Heussi, S. 330 f 25. Heussi, S. 325. - "Im Presbyterianismus ist die Verantwortung des einzelnen Kirchengliedes für die Kirche als ganze beispielhaft gestaltet. Damit hat das Laienelement und der soziale und politische Aktivismus sein großes Feld im evangelischen Christentum gefunden" (M. Schmidt: Presbyterianer, Sp. 544) 26. Heussi, S. 328, 348 f 27. Heussi, S. 349 f, 378 ff. - Schmidt: Kongregationalismus, Sp. 1768 ff 28. Heussi, S. 387. - Schmidt: Pilgerväter, Sp. 384 29. Heussi, S. 384. - Bromhead: Britain, pp. 15 ff, 53 ff 30. Heussi, S. 397 31. de Tocqueville, S. 31 f, 40 ff 32. Luther (1523 a), S. 27, 31. - Bornkamm, Sp. 937 33. Bornkamm, Sp. 938. - Heussi, S. 316, 335. - Wikipedia. English: French Revolution 34. Heussi, S. 309 35. von Rad, 1. Buch Mose, S. 44 ff 36. von Rad, 1. Buch Mose, S. 66 ff 37. Kliemann, S. 77 ff 38. "Menschenrechte kommen als politische Kampf- und weltliche Sicherungsmitel erst im 16. (sic!) Jh. auf. Ihre Entwicklung ist nicht abgeschlossen. Mannigfache Anlässe führen zur verfassungsrechtlichen Ausprägung einzelner Menschenrechte. Den Anstoß gibt das Christentum mit seinen Lehren von menschlicher Größe, Sünde und Erlösung, schlechthin von der Verantwortung jedes Menschen vor Gott" (Wertenbruch, Sp. 869). 39. Heussi, S. 387. - Schmidt: Williams, Sp. 1725 40. Bromhead: America, pp. 28 ff, 174 41. Heussi, S. 362 ff, 384 42. Heussi, S. 386.- Konetzke, Sp. 235 43. Heussi, S. 386, 429 44. Wikipedia: Zweites Vatikanisches Konzil. 45. Wikipedia: Priesterbruderschaft St. Pius X. 46. Erik Wolf/Ernst Wolf: Naturrecht, Sp. 1354-65 47. Vgl. Erik Wolf: "Im Laufe der neueren Zeit hat man den fürstlichen Absolutismus so gut wie die unmittelbare Demokratie, das jus majestatis so gut wie das jus revolutionis, das Recht auf Arbeit wie das Recht auf Zinsgenuß, den Individualismus wie den Kollektivismus, den Krieg wie den Frieden auf einen den Naturgesetzen entsprechenden Ur- oder Idealzustand begründet. So birgt die Naturrechtslehre in sich unvereinbare Widersprüche. Sie kann im guten Sinne gebraucht wie im bösen mißbraucht werden, je nachdem es der zugrunde gelegte, schillernde Begriff der 'Natur' erlaubt." Zitiert in: Thielicke, S. 657 48. Wendland, Sp. 103 49. Wendland, Sp. 101 50. Heussi, S. 105 51. Rendtorff, Sp. 927 52. Wikipedia: Olympe de Gouges. - Wikipedia: Französische Revolution 53. Vgl. Heussi, S. 390 ff 54. Heussi, S. 397-403. 55. Thielicke, S. 646 f 56. Heussi, S. 400 57. von Weizsäcker, Sp. 88. - Heussi, S. 396 f 58. Bert Brecht: Leben des Galilei, Bilder 14 und 15. - Stache, Sp. 1192 59. Stackelberg, Sp. 1489 60. Heussi, S. 400, 428 61. Vgl. Heussi, S. 409-415 62. Heussi, S. 444. - Vgl. auch den Antimodernisteneid (Heussi, S. 462 f) 63. Heussi, S. 418 f 64. Heussi, S. 392 ff, 403 ff, 421 ff 65. Vgl. Heussi, S. 412 ff, 469 ff, 480 ff 66. Heussi, S. 319 67. Ebeling: Hermeneutik, Sp. 251 ff 68. Heussi, S. 410 69. Buchheim, Sp. 1318 f 70. Horkheimer und Adorno, S. 7 71. Habermas, Zeit der Übergänge, S. 175 72. Heussi, S. 402 f 73. Heussi, S. 424 f. - Wendland, Sp. 103 74. Bromhead: America, p. 127 ("Few books ever published have had so great an influence.") 75. Wendland, Sp. 103 76. Heussi, S. 316 77. Heussi, S. 337 f 78. Wikipedia: Servetus 79: Wikipedia: Inquisition. - Heussi, S. 222 ff, 261 f, 332 f 80. Weerda, Sp. 209 f 81. Heussi, S. 316 82. Kümmel, Sp. 969 83. Heussi, S. 91 ff 84. Heussi, S. 99, 125 ff 85. Heussi, S. 190 86. Heussi, S. 221 ff 87. Heussi, S. 254 ff 88. Heussi, S. 251 ff 89. Cf. Wikipedia. English: Thomas More 90. Heussi, S. 270 ff, 290, 298. - Stupperich, Sp. 479 91. Heussi, S. 327, 346 f, 373, 428. - Otto Weber/Kurt Galling, Sp. 468-470 92. Bromhead: America, pp. 44 ff, 55 93. Nürnberger, Sp. 1121 94. Bromhead: America, pp. 52 ff, 120 f 95. Wikipedia: Eleanor Roosevelt 96. Heussi, S. 426.- Adrian Zielcke: Die Rede hat eine lange Geschichte. In: Stuttgarter Zeitung, 29.1.2010, S. 2 97. Bromhead: America, pp. 82, 174 98. Heussi, S. 432-435, 437 f 99. Johann Wolfgang Goethe: Xenien, 9. Buch 100. Bromhead: Britain, pp. 15 ff, 55 ff. - Wertenbruch, Sp. 869 101. Heussi, S. 515 102. Bienert, Sp. 543-545 103. Heussi, S. 318, 326. - Weerda, Sp. 211 104. Heimann, Sp. 1136 ff 105. Heussi, S. 317 106. Heussi, S. 505 107. "Der entscheidende Durchbruch zur methodenbewußten mathematisch-experimentellen Naturwissenschaft gelang im 17. Jht. Es ist kaum Zufall, daß dies in einer christanisierten Kultur geschah, in der die Natur durch den Glauben entgöttert und entdämonisiert worden war. Unsere Naturwissenschaft ist eine charakteristisch europäisch-neuzeitliche Erscheinung" (G. Süßmann, Sp. 1377). 108. v. Rad: 1. Buch Mose S. 42 f 109. Süßmann, Sp. 1377 110. Wikipedia: Namen der Nobelpreisträger 111. v. Rad: 1. Buch Mose, S. 44 ff; 64. - v. Rad: Theologie; S. 144 ff 112. Back, Sp. 1387 f 113. Pfister, Sp. 1614 f 114. Piepkorn, Sp. 1134 f
Literatur
- B. Bartsch: Haftstrafen für Untergrundchristen. In: Stuttgarter Zeitung, 2.1.2010
- Ernst Bizer: Fides ex auditu (1958)
- Peter Bromhead: Life in modern Britain. 5. Aufl. (1983)
- Peter Bromhead: Life in modern America. 5. Aufl. (1981)
- Jürgen Habermas: Zeit der Übergänge
- Karl Heussi: Kompendium der Kirchengeschichte. 11. Aufl. (1957)
- Max Horkheimer und Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung (1947). Fischer-Taschenbuch 6144
- Peter Kliemann: Glauben ist menschlich (1989)
- Martin Luther: Daß eine christliche Versammlung oder Gemeine Recht und Kraft habe, alle Lehre zuz beurteilen und Lehrer zu berufen, ein- und abzusetzen (1523 a). In: Martin Luther. Ausgewählte Werke. Hrsg. von H.H. Borcherdt und G. Merz. 3. Aufl. (1950), Bd. 3, S. 93-100
- Martin Luther: Von weltlicher Obrigkeit, wie weit man ihr Gehorsam schuldig sei (1523 b). A.a.O., Bd. 3, S. 27 ff
- Gerhard von Rad: Das erste Buch Mose. 5. Aufl. (1958)
- Gerhard von Rad: Theologie des Alten Testaments. 2. Aufl. (1958)
- Helmut Thielicke: Ethik. Bd. 1 (1958)
- Alexis de Tocqueville: De la démocratie en Amérique (1835/40). Deutsch: Über die Demokratie in Amerika (1956). Fischer Bücherei Bd. 138
- Jan Weerda: Calvin. In: Evangelisches Soziallexikon (1954)
Artikel in Die Religion in Geschichte und Gegenwart (RGG), 3. Aufl., Band I bis VI (1957-62)
- J.M. Back: Genossenschaften im Wirtschaftsleben. Bd. II, Sp. 1386-1389
- W. Bienert: Arbeit - theologisch. Bd. I, Sp. 539-545
- Heinrich Bornkamm: Toleranz. Bd. VI, Sp. 933-946
- H. Buchheim: Nationalsozialismus. Bd. IV, Sp. 1318-1321
- Gerhard Ebeling: Hermeneutik. Bd. III, Sp. 242-262
- Gerhard Ebeling: Luther - Theologie. Bd. IV, Sp. 495-516
- E. Heimann: Kapitalismus. Bd. III, Sp. 1136-1141
- R. Konetzke: Las Casas. Bd. IV, Sp. 235
- W.G. Kümmel: Jufdenchristentum. Bd. III, Sp. 967-972
- R. Nürnberger: Montesquieu. Bd. IV, Sp. 1121
- A.C. Piepkorn: Rockefeller. Bd. V, Sp. 1134 f
- R. Pfister: Schweiz - seit der Reformation. Bd. Sp. 1610-1618
- Trutz Rendtorff: Todesstrafe - theologisch. Bd. VI, Sp. 926-929
- M. Schmidt: Kongregationalismus. Bd. III, Sp. 1768 ff
- M. Schmidt: Pilgerväter. Bd. V., Sp. 384
- M. Schmidt: Presbyterianer. Bd. V, Sp. 541-544
- W. Stache: Galilei. Bd. II, Sp. 1191-92
(Wird demnächst fortgesetzt)
--Martin Wolfangel 17:09, 24. Feb. 2010 (CET)
Hallo, HOPflaume, wie du sicher weißt, schreibe ich seit Längerem kleinere oder größere Textspenden für Wikipedia. Einige wurden anstandslos akzeptiert, bei anderen stoße ich auf Widerstand, den ich nicht verstehe. Beispielsweise wurde mein Artikel "Plymouth Colony" nicht angenommen. Ich hätte gerne einen festen Ansprechpartner. Wenn du das sein möchtest, wäre es mir recht. Martin Wolfangel