Benutzerin:Andrea014/Betrug
Es ist, was mir durch den Sinn geht, wenn ich sehe, was der Betrug in unserer Welt und in der WP anrichtet.
Weil der Betrug schwerer wiegende Folgen hat, als dass jemand einen Vermögensschaden erleidet, hatte ich mich auf den Weg gemacht, Zahlen zusammenzutragen, die belegen, dass, seit wann und in welchem Ausmass dieser Straftatbestand zugenommen hat. Diese Zahlen hatte ich mit Zustimmung des den Artikel Betrug überarbeitenden Hauptautoren eingefügt. Ein Kollege hat es konsequent und mehrfach entfernt, weil er es, anders als Andere für Theorienfindung hielt. Er hat sich durch Beharrlichkeit gegen die Überzeugung Andersdenkender durchgesetzt. Deswegen werde ich hier nun erklärtermassen Theorienfindung betreiben, indem ich meine damaligen Zahlen wieder ans Tageslicht hole und sie durch Überlegungen zur Psychodynamik des Betruges, zu der es keinerlei Literatur gibt, anreichere. Diese TF muss für sich überzeugen. Oder eben auch nicht. Auf der Disk darf gern darüber diskutiert werden.
Bemerkungen über den Betrug in Deutschland
Zur Psychodynamik des Betruges
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Lügen und Betrügen aus psychoanalytischer Sicht
Der Untertitel stimmt nicht ganz, aber ein bisschen. Ich lege hier nicht nur eine psychoanalytische, sondern auch eine kriminologische Sicht der Dinge vor. Deshalb werde ich u.a. auch den Straftatbestand des Betruges berücksichtigen. Das aber soll zu Niemandes Schaden sein.
Der § 263 StGB, der Betrugsdelikte unter Strafe stellt und sie zugleich trennscharf vom legalen Lügen und Betrügen unterscheidet, kann uns helfen, etwas mehr über Alltagsphänomene zur Kenntnis zu nehmen, mit denen wir oft zu tun haben, uns gleichwohl selten damit in der Absicht befassen, sie zu verstehen. Sigmund Freud, den ich für einen der ersten Kriminologen halte, hat sich mit Betrügern nicht befasst. Auch über Straftäter allgemein hat er explizit nicht viel geschrieben. Der ein oder andere kennt vielleicht seine kleine Schrift über die Verbrecher aus Schuldbewusstsein, die er 1916 verfasste (GW X, S. 389 – 391). Und dann werden die Straftäter noch erwähnt – ausgerechnet – in seinem Aufsatz über den Humor, in der er den zum Tode Verurteilten zitiert, der am Montagmorgen zum Galgen geführt wird und sagt: „Die Woche fängt ja gut an“ (GW XIV, S. 383). Schließlich schreibt er unter dem Titel Die Zukunft einer Illusion: „Unendlich viele Kulturmenschen, die vor Mord oder Inzest zurückschrecken würden, versagen sich nicht die Befriedigung ihrer Habgier, ihrer Aggressionslust, ihrer sexuellen Gelüste, unterlassen es nicht, den anderen durch Lüge, Betrug, Verleumdung zu schädigen, wenn sie dabei straflos bleiben können, und das war wohl seit vielen kulturellen Zeitaltern immer ebenso“ (GW XIV, S. 333). Soweit Sigmund Freud. Was ich zum Thema Lug und Betrug mitteilen werde, ist eine Fülle von Positionen, die nicht gerade üblich sind. Bestenfalls wird man an meinen Mitteilungen Vergnügen finden, schlimmstenfalls wird man sich von mir betrogen fühlen und enttäuscht sein.
Das ist zugleich auch der Spannungsbogen der Gefühle, in dem wir uns mit diesem Thema bewegen: Lug und Betrug findet zwischen Vergnügen und Enttäuschung statt. Ent-täuscht kann nur sein, wer sich vorher ge-täuscht hat. Wer enttäuscht ist, wird wütend, aber davor liegt das Spiel mit der Täuschung und das hält für alle Beteiligten viel zu viel Vergnügen bereit, als dass wir darauf verzichten wollten. Man denke nur daran, wie viele Spiele erfunden wurden, die dem Vergnügen, andere zu täuschen, Raum geben sollen: Schummel-Lieschen für die Kleinen, Poker für die Großen, der Fasching für alle Altersgruppen und Doping für die Sportler. Aber wir lassen uns auch gern täuschen. Man denke nur an unseren Lügenbaron Münchhausen oder an unsere Zauberer. Ihre Welt hält nichts als Täuschung bereit und gerade deshalb suchen wir ihre Nähe. Je besser es ihnen gelingt, uns zu täuschen, umso mehr bewundern wir sie. Was uns wütend macht, ist nicht die Täuschung – ihr erliegen wir gern –, sondern die Enttäuschung. Erst, wenn wir merken, dass wir betrogen wurden, werden wir wütend – auf den anderen, dass er uns täuschte und auf uns, dass wir uns täuschen ließen.
Ich möchte weitere Beispiele geben, ebenfalls soziale Phänomene, wie die bereits erwähnten, aber diesmal nicht der Freizeit, sondern dem Alltag entnommen. Eine der charmantesten Arten des Betruges ist das Schminken. Die Meinungen darüber mögen auseinandergehen, ohne Zweifel wird damit jedoch eine Verschönerung angestrebt – und wenn sie gelingt, wer wollte etwas dagegen einzuwenden haben? Abends aber, wenn das Makeup entfernt wird, dann kommt die Ernüchterung. Dann wird sichtbar, was wir zu verbergen suchten. Abschminken ist ein klassisches Beispiel für eine Ent-täuschung. Zu den charmanten Arten des Betruges gehören auch die Komplimente und man muss schon zu den Hardlinern unter den Realisten gehören, um daran keinen Gefallen zu finden, denn im Allgemeinen hellen sie das Gemüt auf und zwar auf beiden Seiten. Nicht minder alltäglich, aber als weniger charmant wird der Seitensprung erlebt – ein Betrug, der insbesondere in monogamen Kulturen eine große Rolle spielt.
All diese Beispiele helfen uns zu erkennen, wie Lug und Betrug zwischen Vergnügen und Enttäuschung stattfindet und sich mal eher am einen oder eher am anderen Pol bewegt. Sie zeigen mal alle Beteiligten vergnügt oder alle enttäuscht oder die einen vergnügt und die anderen enttäuscht oder aber sie sind erst vergnügt und dann enttäuscht. Es sind Mehrpersonenstücke und alle, die darin vorkommen, hoffen auf Vergnügen und fürchten Enttäuschung und das macht die Spannung im Betrugsgeschehen aus. Nüchtern betrachtet könnte man sagen, es ist mit dem Betrug wie im wirklichen Leben: es gibt Vor- und Nachteile.
Natürlich ist das Vergnügen nicht der einzige Vorteil und Enttäuschung nicht der einzige Nachteil, den das Spiel um Lug und Betrug mit sich bringen kann. Daneben gibt es zahlreiche andere, z.B. materielle, die beim Straftatbestand des Betruges eine zentrale Rolle spielen.
Zunächst möchte ich noch einige Schlaglichter auf die Vorteile werfen, um die Phantasie anzuregen, nach weiteren zu suchen, denn insbesondere die Vorteile helfen uns, zu verstehen, warum Menschen betrügen und sich betrügen lassen. Einige Vorteile waren uns schon begegnet: das Vergnügen, die Bewunderung, die Verschönerung, die Freude an der Welt der Illusionen und die sexuelle Begierde. All das sind kraftvolle und häufige Motive für Täuschungsversuche verschiedenster Art. Vertraut wird auch das Motiv der Notlüge sein. Ihr Vorteil besteht darin, uns z.B. eine kleine Peinlichkeit zu ersparen und manchmal helfen wir dem anderen damit, nicht schlecht über uns denken zu müssen. So klein können die Vorteile sein, mitunter aber sind sie auch ganz groß. Manchmal geht es gar um die Existenz. Aus den Medien sind uns Fälle bekannt, in denen Menschen sich das Leben nahmen, nachdem ihr Täuschungsversuch gescheitert war. In diesen Fällen hatte die Täuschung eine existenzsichernde Funktion. Das ist gar nicht so selten. Selbst die Natur hat das Mittel der Täuschung zur Sicherung der eigenen Existenz vorgesehen. Sie alle kennen die Fähigkeit mancher Tiere, sich ihrer Umgebung so sehr anzupassen, dass sie gar nicht mehr zu sehen sind. Mimikry nennen wir es, wenn Tiere vortäuschen, z.B. nicht da zu sein, wie es das Chamäleon macht. Sein Vorteil liegt auf der Hand und manche von ihnen werden sehr alt.
Schwieriger scheint es, die Vorteile zusammenzutragen, die es hat, wenn wir uns betrügen lassen. Mit einer guten Portion an Bemühen um Wahrhaftigkeit werden wir aber auch hier einiges zutage fördern können. Da wären zunächst die materiellen Vorteile. Die strebt jeder an, nicht nur der Betrüger. Was immer wir kaufen möchten, wollen wir so viel wie möglich bekommen und so wenig wie möglich dafür geben müssen. Allein die Freude an der Schnäppchenjagd – wie es heute heißt –, macht uns anfällig dafür, betrogen zu werden. Wenn wir wenig Geld für gute Ware ausgeben wollen, sind wir geneigt zu glauben, was wir besser überprüfen sollten. Aber auch, wenn wir bereit sind, viel Geld auszugeben, könnten wir uns irren, wenn wir meinen, allein das wäre ein Garant, der Wachsamkeit überflüssig machen würde.
Neben den materiellen gibt es zahlreiche ideelle Vorteile, die wir anstreben. Vielleicht möchten wir uns für erfahrene Menschenkenner halten, die es nicht nötig haben, zu prüfen und sich abzusichern. Oder wir glauben dem anderen, weil wir ihm nichts Böses unterstellen wollen. Und es gibt Menschen, die sowieso immer alles glauben, was man ihnen erzählt, weil sie ein unerschütterliches Vertrauen in die Welt haben und das nicht aufgeben möchten. Nicht immer merken wir die Vorteile und manchmal wollen wir sie gar nicht wahrhaben, z.B. weil sie uns peinlich sind. Vielleicht könnten wir den Vorwurf, misstrauisch zu sein, nicht ertragen. Und wer will schon ein Bürokrat sein, der alles schriftlich haben will. Wir könnten bereit sein, uns zu irren, weil wir einen Streit fürchten. Peinlich könnte auch sein, wenn wir anerkennen müssten, dass unsere eigene Wahrheitsliebe engere Grenzen hat, als uns lieb ist. Sich täuschen lassen hat viel mit Selbstbetrug zu tun und auch der hat zahlreiche Motive. Alle kennen den Selbstbetrug, jeder von uns hat es schon mal getan, manche tun es täglich – aber: wir geben es nicht gern zu. So bitter es ist, müssen wir anerkennen, dass, von wenigen Ausnahmen abgesehen, ein Betrug nur erfolgreich sein kann, wenn beide Seiten einen irgendwie gearteten Vorteil anstreben. So ist es wohl auch kein Zufall, dass das Wort täuschen denselben Wortstamm hat wie das Wort tauschen. Das Wort Lügen, übrigens, ist in seiner Sprachwurzel verwandt mit dem Wort Locken.
All das hat mit dem Straftatbestand des Betruges scheinbar noch nichts zu tun. Es hilft mir aber, einzustimmen auf eine Sicht der Dinge, die vielleicht ungewöhnlich ist, die ich aber gern nahe bringen würde, weil sie dazu beitragen kann, zu verstehen und einen anderen Umgang mit Menschen, die lügen und betrügen, zu ermöglichen als den, der uns wütend und ärgerlich macht. Wut und Ärger sind keine guten Ratgeber, wenn wir uns mit Anderen oder gar den uns anvertrauten Menschen auf eine Beziehung einlassen wollen, die helfen soll, Entwicklung auf den Weg zu bringen. Man wird mir auch entgegenhalten wollen, dass wir für all diese Phänomene verschiedene Begriffe verwenden und sie eben gerade nicht z.B. Betrug nennen. Ich bin damit ganz einverstanden. Wo kämen wir hin, wenn wir Naturphänomene, soziale Phänomene, die uns z.T. sogar Freude bereiten und kriminologische Phänomene in einen Topf werfen und sie als Betrug bezeichnen würden. Die Laune wäre uns verdorben. Freude bereiten Täuschungsmanöver nämlich nur, solange sie als solche nicht erkannt sind und damit unvollständig und nicht abgeschlossen sind. Sind wir ent-täuscht und die Wahrheit liegt auf dem Tisch, ist es mit dem Vergnügen vorbei. Betrug findet zwischen Irrtum und Wahrheit statt und auf dem Weg zur Wahrheit geht nicht nur der Irrtum, sondern auch das Vergnügen verloren. Betrug ist ein Wort, das ein vollständiges Täuschungsmanöver beschreibt, also eines, das nicht nur den vergnüglichen oder sonst wie vorteilhaften Vorgang der Täuschung, sondern auch den höchst unangenehmen Vorgang der Ent-täuschung umfasst. Deswegen ist an dem Wort Betrug nichts Erfreuliches mehr wahrzunehmen. Betrug ist, wenn mit dem Mittel der Täuschung ein Nachteil zugefügt und ein Vorteil angestrebt oder errungen wird und die Illusion der Wirklichkeit gewichen ist.
Wenn ich probeweise doch alles in einen Topf werfe, was wir im Alltag unterscheiden möchten, so hat das den Vorteil, dass wir dadurch die Chance haben, mehr zu verstehen. Mimikry als Naturphänomen, nicht strafbarer Lug und Betrug als soziales Phänomen und die strafbewehrten Betrugsdelikte als kriminologisches Phänomen haben nämlich diesen gemeinsamen Kern: Irgendwer soll sich irren, dafür wird er getäuscht und das Ganze hat einen Vorteil. Strafbar wird es nach unseren Gesetzen nur dann – und das ist der einzige Unterschied der kriminologischen Phänomene gegenüber den sozialen oder den Naturphänomenen –, wenn es sich um einen Vermögensvorteil handelt und der zugleich rechtswidrig ist. Nicht die Täuschung – also Vorspiegelung falscher Tatsachen oder Entstellung oder Unterdrückung wahrer Tatsachen, wie es im § 263 StGB formuliert ist – entscheidet über die Strafbarkeit, sondern allein die Art des Vorteiles, der erzielt wird: Ist es ein Vermögensvorteil und ist der zugleich rechtswidrig, dann und nur dann, wird das Täuschen nach § 263 StGB als Betrug strafbar.
So. Nun wissen wir, was Betrug ist, was seine Vor- und Nachteile sind, wo überall und in welchem Gewand er in der Natur, unter den Menschen und im Strafgesetzbuch vorkommt, wie er heißen kann und wodurch sich der eine vom anderen Betrug unterscheidet. Nun muss ich um der Vollständigkeit willen wenigstens einige Sätze auch über Zahlen verlieren, damit wir als nächstes auch wissen, wie oft er vorkommt. Ich weiß nicht, wie oft Mimikry in der Natur vorkommt. Hierfür habe ich die Zahlen nicht recherchiert und hoffe, dass man mir das nachsieht. Für die sozialen Phänomene will ich es bei einer Behauptung belassen und hoffe, dass man mir glauben kann. Nachdem man weiß, was alles ich unter Lug und Betrug im zwischenmenschlichen Bereich verstehe, will ich nämlich behaupten, dass kein Tag vergeht, an dem wir nicht von irgendjemandem getäuscht werden oder aber einen anderen täuschen. Was ich damit sagen will ist: Lug und Betrug ist immer und überall. Es ist nichts Besonderes, wenn Menschen zusammenkommen, dass sie einander belügen und betrügen und auch, wenn sie allein sind, ist der Betrug nicht aus der Welt. Lug und Betrug gehören zum Leben dazu und sie sind in der Welt und nicht aus der Welt zu schaffen. Es sind die Gegenspieler von Wahrheit und Redlichkeit und eines ist ohne das andere nicht denkbar.
Für den Straftatbestand des Betruges schließlich habe ich mit dem Statistischen Jahrbuch natürlich eine ordentliche Quelle herangezogen. Und doch sind die Zahlen kaum zu glauben: Kein anderes Delikt hat in den 20 Jahren zwischen 1981 und 2001 so zugenommen, wie der Straftatbestand des Betruges. 2001 wurden in Berlin knapp 10.000 Betrüger verurteilt (9.795) und das waren fast 7-mal so viele wie 1981, als knapp 1.500 Betrüger (1.467) verurteilt wurden. Alle anderen Verurteilungen haben eine deutlich geringere Steigerungsrate. Im Gesamt ist die Zahl der Verurteilungen in Berlin nur um das 1,7-fache gestiegen – man bedenke dabei übrigens die Wende! – und in den einzelnen Deliktbereichen ist die Zahl der Verurteilungen entweder gleich geblieben oder aber gestiegen um höchstens das 3-fache. Anders beim Betrug. 7-mal so viele verurteilte Betrüger liefen 2001 durch Berlin als 1981. Und weil 2001 in Berlin knapp 53.000 (52.868) Personen verurteilt wurden, ist etwa jeder fünfte Verurteilte ein Betrüger. Und weil wir etwa 3,5 Mill. Einwohner haben, bedeutet das, dass jeder 350. Berliner ein verurteilter Betrüger ist. Wenn wir also morgens mit der U-Bahn zur Arbeit fahren, dürfen wir fast sicher sein, dass mindestens ein verurteilter Betrüger uns begleitet. Die aktivste Altersgruppe wird von den 30- bis 40-jährigen gestellt, obwohl alle anderen natürlich auch beteiligt sind. 75 % der verurteilten Betrüger sind Männer und 25 % sind Frauen. Und weil wir wissen, dass Frauen im Gesamt der Straftäter 2001 nur zu etwa 12 % vertreten waren, können wir daran erkennen, dass der Betrug zu einem von den vergleichsweise wenigen straffälligen Frauen bevorzugten Delikt gehört.
Nun möchte ich mich einigen zentralen Fragen widmen, wie sie oft gestellt werden. Eine lautet: Wie wird man zum Betrüger? Meine Antwort darauf ist schlicht. Ich bin überzeugt, dass wir im Spiel zum Betrüger werden. Von klein auf lernen wir, wie das Spiel um Lug und Betrug funktioniert. Wir lernen dabei beide Rollen kennen, die Rolle des Betrügers und jene des Betrogenen und wir wissen deshalb sehr genau, wie beides sich anfühlt. Wir kennen das Hochgefühl, wenn wir gewinnen und wissen, wie gemein es ist, zu verlieren. Was wir lernen sollen in diesem Spiel ist, wie wir es anstellen müssen, einen Vorteil zu erringen, denn das ist in unserer Kultur ein hohes Gut. Wir sollen die Grenzen zur Täuschung kennen und unterscheiden lernen, welche Vorteile für uns leicht, schwer oder gar nicht zu erringen sind und auf welche wir verzichten sollten oder auch, weil verboten, verzichten müssen. Das Spiel soll helfen, die eigenen und die Grenzen der anderen kennen zu lernen, Phantasie und Wirklichkeit zu unterscheiden und die Wirklichkeit anzuerkennen.
Im Spiel erwerben wir die Fähigkeiten, einen Vorteil zu erringen und es sind dieselben, die wir benötigen, um zu betrügen. Ob und in welchem Ausmaß wir diese Fähigkeiten dann aber einsetzen und ob wir sie zu illegalen Zwecken verwenden oder nicht, das ist eine ganz andere Frage. Sie zu beantworten bringt mich zum Kern meiner theoretischen Überlegungen, aus denen wir später versuchen können, Anregungen für den Kontakt oder auch ggf. die soziale Arbeit mit Menschen abzuleiten, die lügen und betrügen.
Warum betrügen Betrüger und warum fallen die anderen auf sie herein? Der Vorteil allein kann es nicht sein, denn Vorteile lassen sich auf vielfältige Weise erringen. Vielleicht hilft es, wenn wir uns die verurteilten Betrüger anschauen und uns fragen, was sie von den anderen unterscheidet. Wer Erfahrung mit diesen Tätern hat, weiß, dass die Bandbreite der Täter, die nach § 263 StGB verurteilt werden, vom Schwarzfahrer bis zum Millionenbetrüger sehr groß ist. Sie reicht von einem bisher unvorbestraften, gesunden, sozial und psychisch integrierten Betrüger, der aufgrund einer unvorhersehbaren Konstellation einmalig der Verführung erlegen und seiner Selbstkontrolle entglitten ist, das Geschehen zutiefst bedauert, sich zurecht bestraft sieht und dankbar ist, wenn ihm eine Möglichkeit eingeräumt wird, das begangene Unrecht wiedergutzumachen – bis zu einem erheblich und unterschiedlich vorbestraften, gefährlichen, weder sozial noch psychisch integrierten Betrüger, dessen Impulskontrolle ständig zu versagen droht, der sich nicht vorstellen kann, was er anderen Menschen zufügt, sich selbst aber zu Unrecht verurteilt erlebt. Zwischen beiden Extremen stehen verschiedene Persönlichkeiten und darunter einerseits Betrüger, deren Straftat Ausdruck einer Neurose ist und andererseits Kriminelle, die mit ihren Straftaten rücksichtslos Profitinteressen und nichts anderes verfolgen.
Mir scheint, nun haben wir ein Problem, denn es sieht so aus, als wären Betrüger sehr verschieden. Zwar sind sie alle wegen Betruges verurteilt, aber das scheint auch die einzige Gemeinsamkeit zu sein und das allein macht sie noch nicht zu einer Gruppe von einander ähnlichen Menschen. Und mehr als die Verurteilung unterscheidet sie auch nicht von allen anderen, denn die sind auch sehr verschieden.
Nicht einmal die Straftat macht den Unterschied aus, denn wir wissen, dass die auch von Menschen begangen wird, die nie vor einem Richter stehen. Das liegt daran, dass längst nicht alle Straftaten angezeigt werden, nicht alles Angezeigte wird aufgeklärt, nicht alles Aufgeklärte wird angeklagt und nicht alles Angeklagte wird verurteilt. Deswegen gibt es Betrüger, die zwar eine Straftat begangen haben, aber nicht zur Gruppe der verurteilten Betrüger gehören. Und verurteilte Betrüger gehören fast immer zugleich auch zur Gruppe der Betrogenen. Kaum einer von ihnen wäre noch nicht betrogen worden, oft rechtfertigen sie damit sogar den eigenen Betrug. So kommt es, dass der Vergleich der verurteilten Betrüger mit Unvorbestraften uns nicht wirklich weiterhilft, denn beide Gruppen sind in sich sehr verschieden und unterscheiden sich voneinander kaum. Es ist ja auch so, dass wir Menschen, die lügen und betrügen nicht an ihrer Straftat erkennen können, denn von verurteilten Betrügern können wir es zwar erwarten, aber die anderen tun es auch.
Wenn Kriminologen in ein solches Dilemma geraten, pflegen sie Typologien zu entwickeln. Ich habe keine mitgebracht. Zum einen kenne ich keine Typologie von Betrügern, die wissenschaftlich halbwegs abgesichert wäre und zum anderen komme ich mit solchen Typologien nicht zurecht. Man muss sich immer so viele Daten merken und das kann ich nicht. Und wenn es dann, wie es üblich ist, für jeden Straftatbestand auch noch eine eigene Typologie gibt, dann wird es für mich ganz unüberschaubar. Ich habe nur eine Typologie, die ist selbst gemacht, sie gilt für alle Straftäter und sie ist ganz einfach und auch ganz leicht zu merken. Ich werde sie hier mal verraten.
Für mich gibt es vier Gruppen von Straftätern und damit eben auch vier Gruppen von Betrügern. Die erste und größte Gruppe ist die Gruppe der nicht Vorbestraften. Sie besteht aus mir und den Leserinnen & Lesern und mit uns all jenen, die nie bestraft wurden für das, was sie getan haben, weil sie entweder nicht entdeckt wurden oder aber auf kluge Menschen stießen, die Milde walten ließen. In dieser Gruppe findet sich für die Kriminalitätsbelastung vom Schwarzfahrer bis zum Millionenbetrüger alles und was die seelische Gesundheit angeht, entspricht sie der Durchschnittsbevölkerung: es gibt Gesundheit, Neurose und schwere psychische Erkrankung in Normalverteilung. Bei der zweiten Gruppe handelt es sich um gesunde Kriminelle. Sie wurden verurteilt für das, was sie getan haben, aber sie haben es nicht getan, weil sie krank oder nicht sozialisiert worden wären. Ihre Motive sind vielfältig und reichen vom erklärten Willen bis zu an einer Notlage Verzweifelnden. Bei der dritten Gruppe handelt es sich um neurotische Betrüger. Ihr Betrug stellt ein Symptom unter mehreren im Rahmen einer Neurose dar und zeigt, wie Freud es nannte, die Wiederkehr des Verdrängten an. Dazu später mehr. In der vierten Gruppe finden wir schwere Krankheitsbilder aus der Psychopathologie, von der schweren Verwahrlosung über die Borderlinestörung bis zur Schizophrenie. Unter ihren Straftaten ist der Betrug oft nur eine von vielen und meist im unteren Schadensbereich angesiedelt, denn um einen Betrug mit großem Schaden zu begehen, scheint mir Gesundheit fast Voraussetzung. So kurz und so einfach ist meine Typologie von Betrügern und dieselbe würde ich vortragen, wenn es hier um eine andere Straftat ginge.
Diese Typologie hat einen Mangel und zwar denselben, den jede andere Typologie auch hat. Sie hat keinerlei kausalen Aussagewert, d.h., sie erklärt nichts. Sie lässt uns mit unserer Frage allein, warum Betrüger betrügen und warum die anderen es entweder nicht tun oder sich nicht erwischen lassen und warum beide Gruppen, wie wir gesehen haben, einander so ähnlich sind. Hier kann nur noch helfen, was wir Psychodynamik nennen. Sie fragt immer nach einem Konflikt und danach, welche Rolle dieser Konflikt in der Vorgeschichte eines Menschen, in seinem weiteren Leben und im Augenblick spielt und wie dieser Konflikt bewältigt wird. Das hängt davon ab, wie er in Kindertagen und im späteren Leben bewältigt wurde und in welcher Lage man sich im Augenblick befindet.
Welchen Konflikt aber könnte der Betrüger haben, wenn er betrügt und welchen Konflikt könnte der Betrogene haben, wenn er auf ihn hereinfällt? Tragen wir zusammen, was wir wissen: wir wissen, dass die Beziehung zwischen Betrüger und Betrogenem durch eine Täuschung gestaltet wird, in der ein Irrtum über die Wirklichkeit entsteht und dabei zugleich die Wahrheit über die Wirklichkeit verschwindet. Wenn die Wahrheit wieder auftaucht, ist der Betrug vorbei. Das ist, was zwischen Betrüger und Betrogenem geschieht, egal, ob der Zauberer uns verzaubert, der Ehegatte fremd geht oder der rechtskräftig verurteilte Betrüger uns erneut das Geld aus der Tasche zieht: ein Irrtum über die Wirklichkeit entsteht und die Wahrheit über die Wirklichkeit verschwindet. Und damit ist unsere zentrale Frage eigentlich schon beantwortet.
Wenn es irgendeinen psychodynamischen Hintergrund geben könnte, der beim Betrug – egal ob alltäglich oder strafbar – eine Rolle spielen könnte, kann es eigentlich nur ein Konflikt mit der Anerkennung der Realität sein. Wer betrügt, will die Wirklichkeit nicht anerkennen und wer sich betrügen lässt, will es auch nicht. Die Täuschung des Betrügers und die Illusion des Betrogenen soll die Wirklichkeit zum eigenen Vorteil manipulieren, und zwar dann, wenn sie nicht gefällt und nicht hingenommen werden kann, dass es so ist, wie es ist.
Bevor wir uns der Frage zuwenden, warum es so schwer ist, die Wirklichkeit anzuerkennen, will ich mit dieser Idee noch einen kurzen Blick zurück auf unsere anfänglichen Beispiele werfen. Bei Schummel-Lieschen und Poker müssen wir die Wirklichkeit erraten, weil wir sie nicht kennen und was wir nicht kennen, können wir auch nicht anerkennen. Der Fasching soll uns für eine begrenzte Zeit aus der oft eben wenig vergnüglichen Wirklichkeit entlassen. Münchhausen erkennt nichts aus der Wirklichkeit an und den Zauberern erteilen wir geradezu den Auftrag, sie zu manipulieren. Wir schminken uns, wenn wir verdecken wollen, was uns nicht gefällt oder betonen möchten, was uns gefällt. In beiden Fällen wird die Wirklichkeit manipuliert. Mit den Komplimenten ist es so schwer, weil sie sich irgendwo zwischen Wahrheit und Illusion aufhalten müssen und weder dem einen, noch dem anderen zu nahe kommen dürfen, um zu gelingen. Wenn sie nichts als die Wirklichkeit abbilden, sind es keine Komplimente. Und mit dem Seitensprung wollen wir ja gerade auf die Seite springen, und uns etwas, wenn auch nicht zu weit von der aktuellen Wirklichkeit entfernen. Die Notlüge zeigt uns, dass die Wirklichkeit uns in Not bringen kann, aus der wir uns befreien wollen und die Tiere mit der Fähigkeit zu Mimikry können existenzielle Not nicht anders, als durch eine Täuschung abwenden. In all diesen Fällen wird eine Wirklichkeit durch Täuschung zum Vorteil manipuliert.
Weil der Betrug dazu dient, einer unschönen oder gar unerträglichen Realität zu entkommen, geht er nicht selten einher mit anderen Techniken, die denselben Zweck haben, nämlich helfen sollen, der Wirklichkeit zu entfliehen: Drogen, Alkohol, Spielen, Computer, Videos und vieles mehr (die WP?) soll ggf. vergessen machen, was wir glauben, nicht ertragen zu können. Ich vermute, dass besonders oft Betrug und Spielsucht miteinander kombiniert sind.
Die Frage, was es so schwer macht, die Wirklichkeit anzuerkennen, ist schwer zu beantworten. Vermutlich alle Geisteswissenschaften haben sich damit beschäftigt. Wir dürfen aber davon ausgehen, dass die Philosophen zu anderen Antworten gefunden haben als die Politikwissenschaftler, die Religionswissenschaftler es ganz anders sehen als die Soziologen und die Historiker eine wieder andere Auffassung darüber haben als die Psychologen. Die Realisten, die es in allen Berufsgruppen, auch jenseits der Wissenschaft gibt, können sowieso nicht verstehen, was es für ein Problem mit der Wirklichkeit geben soll, denn sie haben sich deren Anerkennung geradezu auf die Fahnen geschrieben. Sind sie Eltern, sieht die Sache ganz anders aus, denn die verzweifeln oft über diese Frage, wenn sie ihren Kindern erklären sollen, warum die Welt so ist, wie sie ist. Neben einigen allgemeinen Überlegungen möchte ich mitteilen, was ich darüber denke, denn man glaube nicht, dass sich irgendeine Berufsgruppe in dieser Frage einig wäre.
Einiges Allgemeine haben wir schon zusammengetragen. Die Wirklichkeit anzuerkennen könnte schwer fallen, weil z.B. Illusionen mehr Freude bereiten. Es könnte auch sein, dass wir uns für eine Wirklichkeit schämen. Oder wir wollen anderen nicht wehtun, oder uns eine Rüge ersparen. Es gibt auch Wirklichkeiten, die grundsätzlich schwer anzuerkennen, aber nicht zu ändern sind. Ich denke da an chronische Krankheiten oder die Tatsache, dass wir alle sterben werden – früher oder später. Die Wirklichkeit ist nicht immer erfreulich und es ist auch nicht so, dass sie schnelle und bequem zu erreichende Vorteile reichhaltig bereithalten würde. Das weiß eigentlich jeder. Aber schöner wäre es, wenn es anders wäre. Und manchmal ist es ja auch anders. Da kann man schnell und einfach einen großen Vorteil erringen – mit 5 € sind wir dabei. Wir haben uns daran gewöhnt, so etwas Glück zu nennen. Glück ist eine Instanz, die die Wirklichkeit zum eigenen Vorteil manipuliert und das bereitet, wie wir alle wissen, sehr viel Freude. Ich bin überzeugt, dass Lotterien erfunden wurden, weil es so schwer ist anzuerkennen, dass viele von uns nie eine Chance haben, reich zu werden und es doch so gerne wären. Für jene sind Lotterien eine echte Alternative zum Betrug, wenn sie den wirklich nicht wollen – oder nicht das Zeug dazu haben. All diese Beispiele zeigen uns, dass es so schwer ist, die Wirklichkeit anzuerkennen, weil das fast zwangsläufig mit einem Verzicht verbunden ist. Und wenn die Bereitschaft zum Verzicht abnimmt, darf man sich nicht wundern, wenn jene zum Betrug zunimmt.
Ich möchte nicht missverstanden werden. Nichtanerkennung der Realität hat unseren Fortschritt befördert. Und ich will auch nicht dem tatenlosen Zuschauen das Wort reden oder jenen zustimmen, die uns glauben machen wollen, alles sei Schicksal und sowieso vorherbestimmt. Was schrecklich ist, sollten wir versuchen, zu ändern, wenn wir die Möglichkeit dazu haben. Nur was wir nicht ändern können, gilt es, anzuerkennen und wir dürfen uns zu den Glücklichen zählen, wenn wir das eine vom anderen unterscheiden können. Zu welchen Mitteln wir greifen, wenn wir etwas ändern wollen, hängt von unseren Möglichkeiten ab. Wenn die ausreichen, ist alles in Butter. Schlimm wird es nur, wenn unsere Möglichkeiten so enge Grenzen haben, dass sie nicht genügen, zu ändern, was wir ändern wollen. Dann haben wir ein Problem. Nun heißt es nämlich: aufgeben und anerkennen oder uns und anderen was vormachen. Wenn einem großen Änderungswunsch bescheidene Möglichkeiten, etwas zu ändern, gegenüberstehen, rücken Lug und Betrug ins Blickfeld. Deshalb nehmen sie in Zeiten wirtschaftlicher Rezession ebenso zu, wie z.B. im Gefängnis. Wirtschaftliche Rezession beschneidet die Möglichkeiten und wer im Gefängnis sitzt, hat zwangsläufig wenig Möglichkeiten, seine Wirklichkeit zu gestalten, aber einen großen Wunsch, sie zu ändern. Wer hier nicht betrügt, ist entweder einer, der sich immer fügt oder überzeugt, dass er zu Recht dort ist. Mit diesen Inhaftierten gibt es kaum ein Problem, aber allzu viele davon gibt es nicht. Anzuerkennen, dass einem die persönliche Freiheit genommen ist, scheint mir ein hartes Stück Arbeit.
Soweit meine allgemeinen Mitteilungen zur Frage, was es so schwer macht, die Wirklichkeit anzuerkennen, nun zur Psychologie, in aller Kürze wenigstens das Wichtigste. Psychologie darf nicht nur über Krankheit reden, sie muss auch mitteilen, wie eine gesunde Entwicklung stattfindet. Insofern möchte ich an dieser Stelle noch nicht neurotische oder andere krankhafte Entwicklungen benennen, die natürlich auch betrügerisches Verhalten hervorbringen können. Erst einmal möchte ich mich damit befassen, dass wir auch im Rahmen einer gesunden Entwicklung mit der Schwierigkeit konfrontiert werden, die Wirklichkeit anzuerkennen.
Ich komme nun zu einem Schnellkurs in Entwicklungspsychologie und der muss unvollständig bleiben, weil sonst der Rahmen meiner Bemerkungen gesprengt würde. Das ist aber nicht schlimm, weil viele das alles sowieso schon kennen, nur dass der Focus, den ich wähle, vielleicht unvertraut ist. Wenn ein Baby geboren ist, muss es, wenn es heranwächst, viel lernen, bis es schließlich mit 6 Jahren in die Schule kommt. Kinder, die von dem Schulbesuch zurückgestellt werden, pflegt man als „noch zu verspielt“ zu bezeichnen, gemeint ist damit aber, dass sie wichtige Reifungsschritte noch nicht vollziehen konnten. Sie sind noch zu viel mit der Phantasie und zu wenig mit der Wirklichkeit beschäftigt und können beides noch nicht gut genug voneinander unterscheiden. Von der Geburt bis zur Einschulung muss ein Kind mindestens fünf Wirklichkeiten anerkennen lernen, die nahezu unerträglich sind. Sie werden gleich, wenn ich sie aufzähle, alle wieder erkannt und vielleicht können mir Manche zustimmen, dass wir unseren Kindern viel zumuten.
Das erste, was Kinder lernen müssen, anzuerkennen ist, dass Mutter und Baby nicht eins sind. Das ist eine schreckliche Wahrheit denn natürlich ist es viel schöner, wenn wir eins mit dem anderen sein können und am besten auch noch eins mit der Welt. Die meisten Menschen kennen dieses Gefühl und wer es kennt, weiß, wie schön es ist und wie schwer es ist, darauf zu verzichten. Wenn es uns nicht gelingt, diese erste Wahrheit anzuerkennen, werden wir uns ein Leben lang mit Trennungskonflikten herumplagen müssen, die, wie wir wissen, sehr verschieden aussehen können und auch einen sehr verschiedenen Umfang einnehmen können. Die zweite Wahrheit, die wir erkennen und anerkennen müssen ist, dass wir nicht alles bekommen. Auch das ist schrecklich, denn wir alle würden am liebsten immer alles haben wollen. Wenn es uns nicht gelingt, anzuerkennen, dass wir eben nicht immer alles bekommen, werden wir ein Leben lang Konflikte haben mit dem Haben-wollen und die können sich in falscher Bescheidenheit ebenso wie in der Gier äußern – zwei Seiten derselben Medaille. Das dritte, was wir anerkennen lernen müssen ist, dass wir nicht alles können. Auch das ist eine schreckliche Erkenntnis, denn um wie viel besser ginge es uns, wenn wir uns darauf verlassen könnten, dass wir doch alles können. Wenn wir nicht wahrhaben wollen, dass das ein Irrtum ist, werden wir ein Leben lang mit Rechthaberei, Machtkonflikten und der Schwierigkeit zu tun haben, uns wirkmächtig zu fühlen. Schließlich, schon kräftig auf die Einschulung zumarschierend wird uns zugemutet, erkennen und anerkennen zu müssen, dass wir anders als die anderen sind und vor allem auch unwiederbringlich anders als die Angehörigen des jeweils anderen Geschlechtes. Wenn uns das anzuerkennen nicht gelingt und wir es verleugnen müssen, werden wir in unserer Geschlechtsrolle nicht sicher sein können und ein Leben lang beispielsweise auch mit Konkurrenzkonflikten zu kämpfen haben. Schließlich gilt es anzuerkennen, dass Vater und Mutter das Paar sind und das Kind der ausgeschlossene Dritte. Das anzuerkennen, scheint besonders schwer zu sein und oft zu misslingen. Wem das widerfährt, wird nicht in 3-Personen-Gruppen arbeiten können – Vereinsvorstände bestehen bevorzugt aus 3 Personen und sind gern zerstritten –, wird sich ein Leben lang ausgeschlossen fühlen, keine Toleranz für verschlossene Türen haben und er wird viel investieren müssen, überall dazu zu gehören.
All das, was ich hier mitgeteilt habe, betrifft noch nicht die Frage, ob jemand krank ist. Die Frage der Krankheit entscheidet sich nicht an diesen Konflikten. Wir alle haben Trennungskonflikte, wir haben Konflikte mit unserer Gier und der Macht, wir fürchten uns vor Konkurrenz und sind nicht gern draußen vor der Tür. Was uns voneinander unterscheidet ist das jeweilige Mischungsverhältnis. Und was uns Gesunde von den Kranken unterscheidet ist die Quantität, mit der der ein oder andere Konflikt im Leben eines Menschen auftritt. Als Zeichen für Krankheit darf es erst angenommen werden, wenn dieser Konflikt in Intensität und Dauer eine bestimmte, kritische Grenze im Verhältnis zum auslösenden Anlass überschritten hat (zu oft, zu heftig, zu lange). Das zu beurteilen, will gelernt sein und muss den Profis vorbehalten bleiben. Und weil es auf allen Entwicklungsstufen um die Anerkennung der Realität geht und die Entwicklung an jeder Stellte gestört werden könnte, kann ich auch jenen Profis nicht zustimmen, die behaupten, der Betrug wäre, wenn er denn mit Krankheit zu tun hätte, Ausdruck einer ganz bestimmten Krankheit. Ich höre oft, Betrüger hätten wohl stets eine „narzisstische Neurose“ oder eine „Hysterie“. Das kann vorkommen, aber Gesundheit und jede andere Krankheit auch.
Der Psychotiker kann Phantasie und Wirklichkeit nicht unterscheiden und merkt deshalb nicht, wenn er betrügt und wir würden es so vielleicht auch gar nicht nennen. Der Schizoide hält sich für völlig unabhängig von allem und jedem, will nicht wahrhaben, dass er sich irrt und wenn er betrügt, denkt er, ihm kann keiner was. Narziss redet sich die Welt schön, glaubt daran und will auch alle anderen davon überzeugen. Wenn ihm das nicht gelingt und sein Bemühen als Manipulation oder gar Betrug gedeutet wird, versteht er die Welt nicht mehr. Mit einer Borderlinestörung kann man die Wirklichkeit nicht ertragen, weil sie in einer Weise wahrgenommen werden muss, in der sie stets und ständig als bedrohlich erscheint. Weil Gut und Böse nicht zusammenkommen dürfen, gibt es keinen Trost. Der Depressive will haben, wenn er betrügt, weil er sich vom Leben betrogen fühlt und darüber nicht hinwegkommt. Der Zwangsneurotiker braucht das Gefühl der Macht und Überlegenheit, wenn er den anderen betrügt. Für den Hysteriker ist der Betrug ein Spiel und er versteht nicht, warum man es Betrug nennen und sich damit die Laune verderben soll. Und der Gesunde schließlich macht eine Kosten-Nutzen-Rechnung und kommt zu dem Schluss, dass er im Betrug mit dem geringsten Aufwand den größten Nutzen erzielen kann. All das ist idealtypisch verkürzt und deshalb weniger geeignet, hinreichend zu erklären, als vielmehr dazu gedacht, die Phantasie anzuregen und dazu anzustiften, längst vorhandenes Wissen auch auf Phänomene anzuwenden, mit denen wir eine Begegnung gern scheuen.
Wie viele der verurteilten Betrüger krank sind und welche Krankheiten sie haben, darüber wissen wir fast nichts. Das hat damit zu tun, dass sich jene, die sich für Krankheiten interessieren, kaum mit Straftätern befassen und die, die sich mit Straftätern beschäftigen, sich noch wenig für Krankheiten interessieren, mindestens im Wissenschaftsbetrieb. Es gibt keine Verbindung zwischen Kriminalitätstheorien und Persönlichkeitstheorien oder Krankheitslehren. Ich bin überzeugt, dass Gesundheit, Neurose und schwere Krankheit auch unter Betrügern normal verteilt sind.
Nun zur Praxis: Wenn wir beruflich mit Betrügern zu tun haben und uns fragen, wie wir ihnen am besten begegnen und wie wir mit ihnen arbeiten können, geht es nicht nur darum, weitere Straftaten zu verhindern, sondern auch um die Frage, wie wir es anstellen müssen, um uns nicht so ohnmächtig zu fühlen und uns nicht so viel zu ärgern und so wütend zu werden, wenn sie uns wieder einmal über‘s Ohr gehauen haben. Das ist es nämlich, was uns im Alltag besonders plagt und unsere Möglichkeiten einschränkt, ihnen zu helfen, andere Wege zu gehen. Ich habe versprochen, dass meine theoretischen Überlegungen uns in der Praxis helfen können. Also möchte ich noch einmal meine zentrale theoretische Aussage in Erinnerung rufen, das, was ich die Psychodynamik des Betruges genannt habe. Sie lautet: Betrüger wollen die Wirklichkeit nicht anerkennen und wer sich betrügen lässt, will es auch nicht. Wenn wir also etwas ändern wollen, was dazu führen kann, dass Betrüger nicht mehr betrügen und wir uns nicht mehr betrügen lassen, müssen wir selbst die Wirklichkeit anerkennen und dann dem Betrüger dabei helfen. Damit ist eigentlich schon alles gesagt. Doch leichter gesagt als getan.
Beginnen wir mit uns. Die erste Wirklichkeit, die wir selbst anerkennen müssen ist, dass Lug und Betrug nicht aus der Welt zu schaffen sind. Wer glaubt, das wäre möglich, sitzt einer Illusion auf, die viele Enttäuschungen bereithält. Es wird uns nicht gelingen, dafür zu sorgen, dass keiner mehr betrügt und wir nie wieder auf Lug und Betrug hereinfallen. Wenn wir das anerkennen können, müssen wir nicht so oft enttäuscht sein und das erspart uns Ohnmacht, Ärger und Wut. Um es anzuerkennen, müssen wir allerdings Verzicht leisten. Zum Beispiel müssen wir auf die Vorstellung verzichten, wir könnten die Welt ändern. Wir müssen auch darauf verzichten anzunehmen, wir wären unseren Mitmenschen überlegen. Manchmal nämlich sind wir ihnen unterlegen, aber das anzuerkennen ist schwer. Schwer ist auch, darauf zu verzichten, sich die Welt als eine vertrauensvolle und verlässliche vorzustellen, denn mit Misstrauen und Furcht lässt es sich nicht gut leben. Es gilt, eine Balance zu finden und auch das bedeutet eine Anerkennung der Realität, denn die Welt ist weder voll von Lug und Betrug, noch wäre sie frei davon. Wenn wir mit Menschen, die lügen und betrügen, also mit Menschen, die uns anvertraut wurden, arbeiten möchten, gilt es, eine zweite Wirklichkeit anzuerkennen, nämlich die Tatsache, dass das Leben betrugsfördernde Zeiten und betrugsfördernde Umgebungen bereithält, die jeden von uns in Versuchung führen.
Zu den betrugsfördernden Zeiten rechne ich jene Lebensphasen, die wir Pubertät und Klimakterium bzw. Krise der Lebensmitte nennen. Ich vermute, dass in diesen Altersgruppen gelogen wird, dass sich die Balken biegen. Das hat damit zu tun, dass wir uns fremd geworden sind, weil sich in diesem Alter unsere Wirklichkeit von dem Bild, das wir uns von uns gemacht hatten, sehr entfernt hat. Bevor sich aber unser Selbstbild dieser veränderten Wirklichkeit angepasst hat, geraten wir oft in eine ohnmächtige Position, in der wir – um uns daraus zu befreien – geneigt sind, uns und anderen was vorzumachen. Das ist nicht schön, aber ganz normal. Zu den betrugsfördernden Umgebungen rechne ich die Welt von eBay und Katalogbestellungen ebenso wie eine U-Bahn, in der menschenbeseelte Verkaufshäuschen gegen Automaten ausgetauscht wurden. All das führt uns in Versuchung und stellt höhere Anforderungen an unser Gewissen als Verkäufer, denen wir früher mehr als heute die Regulierung wenigstens eines Teils unserer Begehrlichkeiten übertragen konnten. Besonders betrugsfördernd sind die Milieus von Polizei, Gefängnis und Bewährungshilfe, die zu Lug und Betrug geradezu animieren. Die Kollegen von der Polizei z.B. würden ein Lied davon singen können, was sich Polizisten alles für Lügengeschichten anhören müssen und zwar unabhängig davon, ob der Ertappte in Sack und Asche oder im feinen Zwirn daherkommt und auch unabhängig davon, ob er bei kleiner Verfehlung oder schwerer Straftat ertappt wurde. Der Beruf des Polizisten bringt es mit sich, täglich Bären zu begegnen, die einer ihm aufbinden will. Für Bewährungshilfe und Gefängnis gilt Vergleichbares und es ist vermutlich so, dass die meisten Bären, die uns aufgebunden werden sollen, wohl im Gefängnis herumlaufen. Das hat damit zu tun, dass es Menschen nach Veränderung drängt, wenn sie eingeengt und zum Verzicht gezwungen werden. Lug und Betrug werden immer dann auf den Plan gerufen, wenn einer unerträglichen Wirklichkeit bescheidene Möglichkeiten, sie zu ändern, gegenüberstehen. Betrug findet zwischen Macht und Ohnmacht statt und eine seiner zentralen Ursachen liegt in einem Mangel an Wirkmächtigkeit. Polizei, Bewährungshilfe und ganz besonders auch das Gefängnis repräsentieren eine einengende, mindestens unangenehme, wenn nicht unerträgliche Wirklichkeit, auf die Einfluss zu nehmen schon objektiv enge Grenzen hat. Systematisch erzeugt die Begegnung mit diesen Vertretern der Staatsmacht Gefühle von Unterlegenheit, Ohnmacht und Scham, und zwar bei fast allen Menschen. Aus dieser Not möchte jeder sich so schnell wie möglich befreien und wenn keine anderen Mittel zur Verfügung stehen, vermitteln Lug und Betrug mindestens den Eindruck, Einfluss zu haben und damit der Ohnmacht zu entkommen. Wer beruflich mit Straftätern arbeitet und anerkennen kann, dass er einen Beruf gewählt hat, in dem ihm häufiger als anderen und fast zwangsläufig Menschen begegnen, die ihn hinters Licht führen wollen, setzt voraus, dass sie es versuchen werden und muss nicht so oft enttäuscht sein, wenn es tatsächlich geschieht. Schließlich könnten wir darüber nachdenken, ob auch (die WP oder) eine helfende oder gar therapeutische Situation zu einem betrugsfördernden Milieu entgleisen kann. Ich vermute, dass wir dazu beitragen, wenn wir andere Menschen mit ihren Gefühlen von Abhängigkeit und Ohnmacht allein lassen und nicht anerkennen wollen, dass auch wir von ihnen abhängig sind und in eine ohnmächtige Position geraten, wenn sie die Rolle des Gesprächspartners verweigern. Dann nämlich können wir für sie kein Gegenüber sein.
Ausgestattet mit diesen beiden Wahrheiten – dass nämlich Lug und Betrug nicht aus der Welt zu schaffen sind und dass es jenseits innerer Neigungen auch äußere Bedingungen gibt, die zu Lug und Betrug anstiften können –, haben wir nicht die schlechtesten Voraussetzungen, erfolgreich mit Menschen, die lügen und betrügen, zu arbeiten. Aller guten Dinge sind drei und deshalb will ich noch ein Drittes ergänzen, das hilfreich ist und die Arbeit erleichtern kann. Wir sollten einige Kenntnis haben über uns selbst und das Maß der eigenen Wahrhaftigkeit und Wahrheitsliebe. Je weniger wir uns vormachen und je mutiger wir den eigenen Betrugstendenzen begegnen, umso leichter wird uns die Begegnung mit den anderen, die sich vielleicht in der Quantität, mit der sie lügen und betrügen, von uns unterscheiden, nicht aber grundsätzlich. Je weniger fremd sie uns erscheinen, umso eher können wir ihnen in einer Weise begegnen, die Einfluss möglich macht. Wer selbst ein Betrüger ist und davon nichts weiß, wird niemals erfolgreich mit Betrügern arbeiten können und sich stattdessen ständig in ein Betrugsgeschehen verwickelt sehen, in dem er mal gewinnt und mal verliert. Die Tatsache, dass wir uns von Betrügern nicht grundsätzlich unterscheiden, ist eine Wahrheit, die anzuerkennen sehr schwer ist. Wenn es aber gelingt, öffnet es Türen, die Zugang zu Menschen gewähren, die uns ansonsten als unzugänglich und unverbesserlich erscheinen.
Wenn wir diese Voraussetzungen geschaffen haben, ist die Arbeit mit Betrügern nicht schwerer als die mit anderen Menschen und sie unterscheidet sich auch nicht wesentlich, sodass alle auf die Kompetenz zurückgreifen können, die längst erworben wurden. Wir werden zunächst die Vorgeschichte zusammentragen und vielleicht feststellen, dass sich in der Genese verurteilter Betrüger tatsächlich fast immer Lebensumstände finden, die vermuten lassen oder gar zu erkennen geben, dass sich unser Klient betrogen fühlte – bewusst oder unbewusst. Da entpuppt sich dann unser Heiratsschwindler vielleicht als unerwünschter Nachzügler durchaus bemühter Eltern, die nicht müde wurden zu beteuern, wie sehr sie sich über gerade dieses Kind gefreut hätten. Und der Betrüger mit Millionenschaden erweist sich vielleicht als unaufgeklärtes Adoptivkind aus ärmlichen Verhältnissen, das nie einen Versuch unternahm, seine Geschichte ernsthaft zu recherchieren. Oder wir erkennen möglicherweise in unserem 60-jährigen, der für nicht mehr zählbare kleine Betrugsdelikte zusammengerechnet 30 Jahre seines Lebens im Gefängnis verbrachte, ein Kind aus einer Sektenfamilie, in der ein chronischer Mangel an Wahrhaftigkeit die Wirklichkeit bis zur Unkenntlichkeit entstellte. All das und mehr macht aus Kindern noch keine Betrüger, es ebnet aber einer Psychodynamik den Weg, die es erschweren kann, die Wirklichkeit anzuerkennen, weil sie gar nicht zu erkennen ist. Diese Kinder stehen in dem Risiko, innere Objekte herauszubilden, die richtig und falsch nicht unterscheiden können, Versteck spielen oder gar lügen und betrügen, und sich mit diesen inneren Objekten zu identifizieren. Wenn sie dann noch in betrugsfördernde Lebensphasen eintreten oder auf betrugsfördernde Milieus treffen, könnte es um sie geschehen sein.
Wenn uns die Vorgeschichte eine Idee vermittelt hat, welche Wirklichkeit es ist, die unser Gegenüber nicht anerkennen kann, gilt es im nächsten Schritt, Änderbares zu unterscheiden von Unabänderlichem. Und dann müssen wir herausfinden, warum zum Betrug gegriffen wird, um etwas zu ändern, das auch mit anderen Mitteln zu ändern wäre. Und wenn etwas nicht geändert werden kann, gilt es herauszufinden, was es so schwer macht, sich damit zu arrangieren. Ich könnte noch lange so weiter schreiben, aber vermutlich ist zu merken, dass es tatsächlich darum geht, mit dem Betrüger ins Gespräch zu kommen – in ein Gespräch, in dem Bedingungen herrschen, die nicht zum Lügen animieren. Einige Voraussetzungen haben wir durch die Arbeit an uns selbst schon geschaffen und wir wissen, dass Betrüger Gefühle von Unterlegenheit, Ohnmacht und Scham regulieren müssen – ob sie es merken oder nicht. Deshalb wird ein Gespräch keinen ändernden Einfluss haben können, wenn wir dazu beitragen, dass sie sich schämen, sich unterlegen oder ohnmächtig fühlen müssen. Respekt und Achtung ist die Medizin, die dagegen hilft, aber die werden wir nur aufbringen können, wenn wir anerkennen, dass sie zunächst nicht anders werden können, als uns zu belügen und zu betrügen und wenn wir ihnen das nicht übel nehmen müssen. Wir werden darauf verzichten müssen, Macht und Überlegenheit zu demonstrieren und auch darauf, besser als sie sein zu wollen. Wir werden ihnen milde und freundlich, aber unbestechlich begegnen müssen: milde und freundlich, weil sie anderenfalls nicht mit uns reden und unbestechlich, weil sich sonst nichts ändert. Milde und Freundlichkeit beziehen wir u.a. aus dem Wissen, dass der Betrüger – sofern nicht krank – immerhin um Redlichkeit weiß. Und auch wer lügt weiß, dass Wahrheit möglich ist.
Unbestechlichkeit beziehen wir u.a. aus dem Wissen, dass wir andernfalls unser Gegenüber nicht dabei unterstützen können, denn der erfolgreich Belogene hält die Lüge für die Wahrheit und wird so zum Partner der Lüge. Und dann? Dann kann es vielleicht gelingen, den uns anvertrauten Menschen dabei zu helfen, den Einfluss, den sie haben zu fördern und geltend zu machen – also wirkmächtig zu werden – und sich mit Unabänderlichkeiten zu versöhnen. Das müssen sie als erstes an uns üben können. In der Beziehung zu uns müssen sie merken, dass sie Einfluss auf uns haben und zugleich nichts daran ändern können, dass wir beschlossen haben, gegen Lug und Betrug anzutreten. Das bedeutet: wenn es uns gelingt, unser Gegenüber in eine Situation zu bringen, in der sie aufhören können, sich und uns ständig zu belügen, dann können wir mit ihnen arbeiten, wie mit allen anderen auch – und dann haben wir es noch schwer genug.
© Andrea014 2001
Zahlen 2015
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]In Deutschland wurden im Jahr 2015 knapp eine Million Betrugsdelikte angezeigt. Das sind gut vier Mal so viele wie in den Nachkriegsjahren.
Bei allen methodologischen Unsicherheiten, die den Zahlen zur Kriminalität innewohnen, müht sich die Kriminologie, dem berechtigten Interesse der Bevölkerung, etwas über Ausmaß und Entwicklung strafbaren Verhaltens zu erfahren, mit geeigneten Statistiken Rechnung zu tragen. Ein optimales Verfahren, die Zahlen zu ermitteln, gibt es nicht. Neben Opferbefragungen und der sogenannten Dunkelfeldforschung werden in der Regel die bei der Polizei angezeigten Delikte als Messgröße verwendet, die seit 1953 jährlich für das jeweils vergangene Jahr vom Bundeskriminalamt (BKA) zusammen getragen und in der Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) veröffentlicht werden.[1] Christoph Birkel, Soziologe und zeitweise wissenschaftlicher Mitarbeiter im BKA, befasste sich mit Fragen zu ihrer Qualität und möglichen Alternativen. Er beschrieb ihre „Messfehler“[2] und kam zu dem Schluss, dass es trotz allem „meist gute Gründe“ gibt, „der PKS das größere Vertrauen zu schenken“.[3] Es gebe „keine ernsthaften Alternativen“.[4]
Auf dem Hintergrund dieser Beurteilung ist der PKS für die 62 Jahre von ihren Anfängen bis 2015 zu entnehmen, dass die sogenannte Anzeigenziffer der Betrugsdelikte um gut das Dreifache zugenommen (337 %) und damit eine ähnliche Steigerungsrate erfahren hat, wie die Kriminalität insgesamt (324 %). Für die ersten 30 Jahre nach Herausgabe der PKS bleiben die polizeilich registrierten Betrugsdelikte mit einer Steigerungsrate von 46 % zunächst weit hinter der allgemeinen Kriminalitätsentwicklung zurück (188 %). Dieses Verhältnis kehrt sich für die folgenden drei Dekaden um. Während die angezeigten Straftaten insgesamt um 37 % steigen, ist für die Betrugsdelikte ein Zuwachs von 178 % zu verzeichnen und damit mehr, als für jeden anderen Straftatbestand in dieser Zeit.
Jahr | Straftaten gesamt | + | Betrug | + |
---|---|---|---|---|
1953 | 1.491.120 | 221.282 | ||
1962 | 2.106.469 | 41% | 183.705 | - 17% |
1963 | 1.678.840 | 180.914 | ||
1972 | 2.572.530 | 53% | 175.458 | - 3% |
1973 | 2.559.974 | 179.331 | ||
1982 | 4.291.975 | 68% | 323.675 | 80% |
1983 | 4.345.107 | 341.334 | ||
1992 | 6.291.519 | 45% | 407.492 | 19% |
1993 | 6.750.613 | 459.715 | ||
2002 | 6.507.394 | - 4% | 788.208 | 71% |
2003 | 6.572.135 | 876.032 | ||
2012 | 5.997.040 | - 9% | 958.515 | 9% |
2013 | 5.961.662 | 937.891 | ||
2015 | 6.330.649 | 6% | 966.326 | 3% |
1953 | 1.491.120 | 221.282 | ||
2015 | 6.330.649 | 324% | 966.326 | 337% |
1953 | 1.491.120 | 221.282 | ||
1982 | 4.291.975 | 188% | 323.675 | 46% |
1983 | 4.345.107 | 341.334 | ||
2013 | 5.961.662 | 37% | 937.891 | 178% |
Die PKS, die keineswegs seit ihren Anfängen, aber doch inzwischen auch statistische Gütekriterien wie Reliabilität und Validität kennt, zählte die angezeigten Straftaten in Deutschland bis 1990 nur für die Bundesrepublik und ab 1991 auch für die damals sogenannten neuen Bundesländer – wegen der Umstellung auf die neue Zählweise allerdings erst seit 1993 auch valide.[6]
Um sich der Frage anzunähern, was es mit der ungewöhnlichen Zunahme der Betrugsdelikte seit etwa Mitte der 1980iger Jahre auf sich haben könnte, mag man möglicherweise zunächst an die in diesen Zeitraum fallende Wende denken, die der Bundesrepublik 17 Millionen neue Bürger bescherte. Sie kann dieses Phänomen jedoch nicht einmal im Ansatz aufklären, weil der Anstieg Jahre vor der Deutschen Einheit begann und der mit der Wende verbundene Bevölkerungszuwachs auch auf alle anderen Straftatbestände Einfluss genommen hat. „Vergleichbare Kontextinformationen zur Entwicklung der registrierten Kriminalität fehlen in Deutschland bislang“, stellte Birkel 2014 mit der Aussicht auf Veränderung fest.[7]
In seiner Studie zur Entwicklung der Gewaltkriminalität, die in den Jahren zwischen 1960 und 2000 trotz zeitweise anderer Tendenzen ebenfalls deutlich zugenommen hat, stellt Birkel einen Zusammenhang zu Globalisierungsprozessen und der damit einhergehenden „Ökonomisierung der Gesellschaft“ her, die durch ihre „Betonung von monetärem Erfolg“ einen „exzessiven Individualismus“ begünstige. Dadurch würden Delikte wie Betrug, Bestechung und sonstige Wirtschaftskriminalität ebenso anwachsen wie die Gewaltdelinquenz. Obwohl sich beide Tätergruppen durchaus unterscheiden, stellt Birkel sie als Gegenspieler derselben gesellschaftlichen Veränderungen vor.[8] Bei den einen leisteten sie der Bereitschaft Vorschub, sich illegal mit Hilfe der erwähnten Delikte zu bereichern, bei den anderen, sich mit – wie Birkel es nennt – „kompensatorisch-expressiver Gewalt“ zu wehren.
Jahr | Betrug | + | Körperverletzung | + |
---|---|---|---|---|
1953 | 221.282 | 26.830 | ||
1962 | 183.705 | - 17% | 29.210 | 9% |
1963 | 180.914 | 30.239 | ||
1972 | 175.458 | - 3% | 39.218 | 30% |
1973 | 179.331 | 41.112 | ||
1982 | 323.675 | 80% | 67.474 | 64% |
1983 | 341.334 | 66.057 | ||
1992 | 407.492 | 19% | 77.160 | 17% |
1993 | 459.715 | 77.311 | ||
2002 | 788.208 | 71% | 126.932 | 64% |
2003 | 876.032 | 132.615 | ||
2012 | 958.515 | 9% | 136.077 | 3% |
2013 | 937.891 | 127.869 | ||
2015 | 966.326 | 3% | 127.395 | - 0,4% |
Die Finanzmetropole Frankfurt, die in der PKS regelmäßig den Spitzenplatz belegt,[9] hat sich, anders als es vielleicht zu erwarten wäre, nicht zu einer Hochburg des Betruges entwickelt, obwohl in Frankfurt „die mit dem Bankenplatz verbundenen Delikte“ als „spezifischer Kriminalitätsfaktor“ gelten.[10] Zwar wirft die PKS keine gesonderten Zahlen für Frankfurt aus, Hessen tritt aber im Ländervergleich hinter andere Bundesländer zurück.[11]
Betrug im Spiegel der PKS von 1953 bis 2015
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Andrea014 2016
Einzelnachweise
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]- ↑ a b c d e Polizeiliche Kriminalstatistik (PKS). Bundeskriminalamt, abgerufen am 25. November 2016.
- ↑ Christoph Birkel: Gefährdungen durch Kriminalität in „offiziellen“ Zahlen und subjektivem Erleben der Menschen: Polizeiliche Kriminalstatistik und Dunkelfeldbefragungen. Wie die Statistik belegt... Zur Messbarkeit von Kriminalitätsfurcht und (Un-)Sicherheit. In: Jasmin Röllgen (Hrsg.): 5. SIRA Conference Series. München 2014, ISBN 978-3-943207-05-7 (unibw.de [PDF; 2,2 MB; abgerufen am 24. November 2016]).
- ↑ Christoph Birkel: Die polizeiliche Kriminalstatistik und ihre Alternativen. Hrsg.: Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Institut für Soziologie. 2003, S. 75 (uni-bielefeld.de [PDF; 596 kB; abgerufen am 24. November 2016]).
- ↑ Christoph Birkel: Die polizeiliche Kriminalstatistik und ihre Alternativen. Hrsg.: Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Institut für Soziologie. 2003, S. 77 (uni-bielefeld.de [PDF; 596 kB; abgerufen am 24. November 2016]).
- ↑ a b c d e f g h PKS – Ältere Ausgaben bis 2011. Bundeskriminalamt, abgerufen am 25. November 2016.
- ↑ a b Polizeiliche Kriminalstatistik (PKS) 1993. Bundeskriminalamt, abgerufen am 25. November 2016: „Jahrbuch 1993 - Basisjahr für die Zeitreihen des gesamten Bundesgebiets nach der Wiedervereinigung: Wegen erheblicher Anlaufschwierigkeiten waren die PKS-Daten für die neuen Länder in den Berichtsjahren 1991 und 1992 viel zu niedrig ausgefallen, so dass sie keine brauchbare Basis für einen Vergleich mit den Daten der Folgejahre bilden. Ab 1993 hat sich die Erfassung in den neuen Ländern weitestgehend normalisiert. Nur in Mecklenburg-Vorpommern kam es 1994 durch umfangreiche Nacherfassungen zu einer Überhöhung der Fallzahlen.“
- ↑ Christoph Birkel: Gefährdungen durch Kriminalität in „offiziellen“ Zahlen und subjektivem Erleben der Menschen: Polizeiliche Kriminalstatistik und Dunkelfeldbefragungen. Wie die Statistik belegt... Zur Messbarkeit von Kriminalitätsfurcht und (Un-)Sicherheit. In: Jasmin Röllgen (Hrsg.): 5. SIRA Conference Series, 2014. 2014, ISBN 978-3-943207-05-7, S. 34 (unibw.de [PDF; 2,2 MB; abgerufen am 24. November 2016]).
- ↑ Christoph Birkel: Die Entwicklung der Gewaltkriminalität in Deutschland: Theoretische Erklärungsansätze im empirischen Vergleich. Dissertation Wiesbaden. Springer VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden 2015, ISBN 978-3-658-03042-1, S. 96: „Die fortschreitende Ökonomisierung und die Betonung von monetärem Erfolg als (positionalem) kulturellem Ziel (‚Kultur der Konkurrenz‘) in Verbindung mit einem immer ungleicheren Zugang zu legitimen Mitteln zur Erreichung dieses Ziels schaffen dauerhaft eine Situation, in der auf gesellschaftlicher Ebene Anomie und auf individueller Ebene Abweichungsdruck normal sind. Die Folge ist eine Zunahme instrumenteller Kriminalität bei denjenigen, die Zugang zu illegalen Mitteln zur Erreichung des monetären Erfolgsziels (Betrug, Bestechung, sonstige Wirtschaftskriminalität) haben und kompensatorisch-expressiver Gewalt (neben einer durch Deprivationsgefühle bedingten allgemeinen Delinquenzneigung (Thome und Birkel 2007, S. 309f.) bei Personen, denen der Zugang zu legitimen wie illegitimen Mitteln verwehrt ist.“
- ↑ Kriminalstatistik im Städtevergleich: Frankfurterinnen und Frankfurter leben sicher. (PDF; 149 KB) Statistik und Wahlen 2010. Bürgeramt, 2010, S. 1, abgerufen am 27. November 2016: „Ausgehend von dem bisherigen Procedere erhält Frankfurt mit hoher Wahrscheinlichkeit wieder den berüchtigten Titel der gefährlichsten Stadt Deutschlands. In den letzten 25 Jahren hat Frankfurt den Titel 22 Mal erhalten.“
- ↑ Kriminalstatistik im Städtevergleich: Frankfurterinnen und Frankfurter leben sicher. (PDF; 149 KB) Statistik und Wahlen 2010. Bürgeramt, 2010, S. 2, abgerufen am 27. November 2016: „Ein ebenfalls Frankfurt spezifischer Kriminalitätsfaktor sind die mit dem Bankenplatz verbundenen Delikte, wie z. B. Kreditkarten- und Kontobetrug.“
- ↑
Siehe beispielsweise
Polizeiliche Kriminalstatistik 2015. (PDF; 6 MB) Bundeskriminalamt, S. 282, abgerufen am 27. November 2016.
oder
Polizeiliche Kriminalstatistik 2001. (PDF; 3 MB) Bundeskriminalamt, S. 197, abgerufen am 27. November 2016.