Bundeslöschtage
Der Begriff Bundeslöschtage oder auch Aktion Löschtaste[1] bezeichnet das umstrittene Verschwinden von Akten und Computerdaten des deutschen Bundeskanzleramts am Ende der Regierungszeit von Helmut Kohl (CDU) im September/Oktober 1998, unmittelbar vor der Übernahme des Amts durch Gerhard Schröder (SPD). Die Vorgänge wurden Gegenstand eines Parlamentarischen Untersuchungsausschusses des Deutschen Bundestages. Die Arbeit des Ausschusses unter Burkhard Hirsch (FDP) führte zu heftigen innenpolitischen Kontroversen. Es kam auch zu staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen gegen Beamte des Bundeskanzleramts. Der Bericht des Untersuchungsausschusses wurde der Öffentlichkeit zunächst nicht zugänglich gemacht, wurde später aber über einzelne Medien bekannt.
Im Rahmen eines Vergleichs wurde im Fall eines der zunächst beschuldigten Beamten später vom Bundeskanzleramt unter Angela Merkel (CDU) festgestellt, dass der „Vorwurf der rechtswidrigen zentralen Datenlöschung […] unbegründet“ gewesen sei.[2] Die Staatsanwaltschaft Bonn stellte das Verfahren ein.[3] Später stellte sich heraus, dass die sechs Leuna-Ordner sowie Akten zu weiteren Privatisierungen als Kopien in mehreren Ministerien vorhanden waren.[4] Laut den Ermittlungsbehörden blieben die Originale unauffindbar, ebenso wie weitere politisch sensible Originalakten zu anderen Privatisierungen. Auch von ihnen fanden die Ermittlungsbehörden noch Kopien an anderer Stelle.[4] Es gab eine Kontroverse zu der Frage, ob zumindest Teile der als verschwunden gemeldeten Akten nicht doch im Kanzleramt vorgefunden wurden. Hierbei widersprachen verschiedene Akteure aus Untersuchungsausschuss, interner Ermittlungskommission und Staatsanwaltschaft einander.[5] Ein Gutachten der Fraunhofer-Gesellschaft aus dem Jahr 2002 kam zu dem Ergebnis, dass sich eine systematische Löschung von Daten im Zusammenhang mit dem Regierungswechsel 1998 nicht belegen lasse.[6]
Vermisste Akten
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Der Bericht des Untersuchungsausschusses, der unter der Leitung von Burkhard Hirsch (FDP) arbeitete, konstatiert, dass Akten zu folgenden Themen unvollständig seien oder geheime Akten möglicherweise vollständig vernichtet worden seien:[7]
- Akten zum Verkauf des Spürpanzers Fuchs an Saudi-Arabien 1991
- Akten zur Privatisierung von Leuna und Minol
- Akten zu Airbuslieferungen
- Akten zu MBB-Hubschraubern an Kanada in den 1980er Jahren
- Akten zur Privatisierung der Eisenbahn-Wohnungsgesellschaften an die WCM unter Karl Ehlerding
- Akten zum Wirtschaftsgipfel Halifax
- Akten zum Schriftwechsel des Bundeskanzleramtes mit dem Rüstungslobbyisten Karlheinz Schreiber
Der ehemalige Chef des Bundeskanzleramts, Friedrich Bohl, gab vor dem Ausschuss an, keine Weisung an Mitarbeiter zur Löschung und Vernichtung von Daten ausgegeben zu haben.
Der durch Hirsch maßgeblich geprägte Bericht konnte die behauptete Aktenvernichtung nicht nachweisen – dass Akten verschwunden waren, stand außer Frage. Trotz politischer Gegenwehr der damaligen Bundesregierung (rot/grün) wurden die verbundenen Ermittlungsverfahren der Staatsanwaltschaft schließlich eingestellt. Gegen Hirsch wurden, vor allem von Seiten der CDU und der Frankfurter Allgemeinen Zeitung,[8] schwere Vorwürfe der einseitigen, politisch motivierten Ermittlungsführung erhoben.
Am 1. Dezember 2006 stellte das zuständige Bundeskanzleramt fest, dass ein seinerzeit zuständiger Abteilungsleiter „voll rehabilitiert“ sei: „Alle Vorwürfe waren und sind unbegründet“. Das Bundeskanzleramt übernahm die dem Beamten entstandenen Anwaltskosten (FAZ, 29. Dezember 2006).
Unauffindbar waren einzelne Dokumente über Rüstungs- und Flugzeuggeschäfte und den Verkauf von bundeseigenen Eisenbahnerwohnungen. Mehrere der verschwundenen Akten standen in Zusammenhang mit der CDU-Spendenaffäre. Die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft ergaben keinen ausreichenden Tatverdacht, um Hauptverfahren gegen einzelne Personen zu erheben, weshalb die Ermittlungen schließlich eingestellt wurden. Der zuständige Staatsanwalt Georg Linden wies später ausdrücklich darauf hin, dass diese juristische Einschätzung nicht bedeute, dass die Vorgänge auch politisch gesehen einwandfrei waren:[9] „Dass bei manchen in der Politik und auch in Teilen der Öffentlichkeit ein flaues Gefühl zurückbleibt, mag sein. Aber wir müssen hier die Ebenen genau trennen. Wenn wir als Staatsanwälte keinen hinreichenden Tatverdacht für eine Straftat sehen, heißt das nicht, dass ein Vorgang politisch in Ordnung ist. Aber darüber hat die Staatsanwaltschaft nicht zu befinden.“
Gelöschte Daten
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Laut Aussage des ermittelnden Staatsanwalts Georg Linden[9] ergaben die Ermittlungen, dass im Zuge des Regierungswechsels 1998 tatsächlich Datenbestände gelöscht wurden.
Die Fraunhofer-Gesellschaft erklärte gegenüber der Staatsanwaltschaft in ihrem Gutachten vom 29. Juli, für Datenlöschungen im Zeitraum September/Oktober 1998 gebe es keine direkten Anhaltspunkte aus den Festplatten des zentralen Servers im Bundeskanzleramt.[10]
Unerörtert blieb bei dem gesamten Vorgang, ob die Löschung von Daten zwar strafrechtlich irrelevant ist, jedoch gegen die Bestimmungen des Bundesarchivgesetzes verstieß, gemäß dem allen Behörden und Stellen des Bundes die Anbietung aller ihrer Unterlagen an das Bundesarchiv zur gesetzlichen Pflicht gemacht wird. Nach diesem Gesetz darf allein das Bundesarchiv darüber entscheiden, ob Daten und Unterlagen gelöscht oder aber dauerhaft aufbewahrt werden.[11]
Literatur
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]- Günter Buchstab: „Bundeslöschtage?“ Wie Kanzleramt und Medien einen Skandal inszenierten. (PDF; 154 kB) In: Bernhard Löffler, Karsten Ruppert (Hrsg.): Religiöse Prägung und politische Ordnung in der Neuzeit. Köln / Weimar / Wien 2006, ISBN 978-3-412-05306-2, S. 633; kas.de (PDF; 154 kB) abgerufen am 23. Oktober 2018
- Martin Klingst: Daten gelöscht, Verfahren eingestellt. In: Die Zeit, Nr. 9/2004; Interview mit dem Kölner Generalstaatsanwalt Georg Linden.
Weblinks
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]- Offizieller Bericht von Burkhard Hirsch (als PDF-Dokumente im Internet-Archiv, jeweils 1,5 MB): Teil 1 (Seiten 1–20) ( vom 22. Juli 2004 im Internet Archive) (PDF; 1,6 MB), Teil 2 (Seiten 21–40) ( vom 21. August 2004 im Internet Archive) (PDF; 1,6 MB), Teil 3 (Seiten 41–61) ( vom 21. August 2004 im Internet Archive) (PDF; 1,6 MB)
- Rainer Blasius: „Blamage“ Kommentar in der FAZ vom 13. Februar 2004, wonach es sich um eine Kampagne gegen Kohl und seine Mitarbeiter gehandelt habe. Der Artikel enthält den unzutreffenden[9] Vorwurf, dass der ermittelnde Staatsanwalt Georg Linden ein „SPD-Mitglied und politischer Beamter“ gewesen sei.
- AFP-Meldung: Fraunhofer-Gutachten: Es gab keine Bundeslöschtage (via FAZ vom 24. August 2002)
- Günter Buchstab: „Bundeslöschtage“? Wie Kanzleramt und Medien einen Skandal inszenierten.
Einzelnachweise
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]- ↑ Ansgar Graw: Die Kanzlerin und ihr Vize: Merkel und Steinmeier haben sich entzweit. In: DIE WELT. 10. Januar 2008 (welt.de [abgerufen am 30. Juli 2022]).
- ↑ Rechtsstreit Bundesrepublik Deutschland und Dr. Roll beendet ( vom 10. Februar 2013 im Webarchiv archive.today). Pressemitteilung vom 4. Dezember 2006
- ↑ Heribert Prantl: Aktenzeichen 50 Js 816/00 ungelöst. In: Süddeutsche Zeitung. 10. Mai 2010, abgerufen am 3. April 2016 (müsste aktualisiert werden).
- ↑ a b „Bundeslöschtage“ sind eine Legende. Berliner Morgenpost, 4. Oktober 2003, abgerufen am 25. Januar 2013.
- ↑ „Bundeslöschtage“? Akten des Kanzleramts doch nicht vernichtet. In: Die Welt, 15. April 2002
- ↑ Gutachten: Es gab keine „Bundeslöschtage“. In: Die Welt, 25. August 2002
- ↑ Der Hirsch-Bericht im Internet: Jetzt wird erst recht interessant, was "Sonderermittler" Burkhard Hirsch den Staatsanwälten in Bonn zu sagen hatte. In: Die Zeit, Nr. 19/2001 – Burkhard Hirsch: Bericht über Ermittlungen des Bundeskanzleramts zu ausgewählten Sachbereichen. ( vom 22. Juli 2004 im Internet Archive) S. 5–10, Berlin, 21. Juli 2000
- ↑ Rainer Blasius: Blamage. In: FAZ, 14. Februar 2004, S. 1
- ↑ a b c Daten gelöscht, Verfahren eingestellt. In: Die Zeit, Nr. 9/2004
- ↑ Welt am Sonntag, 25. August 2002
- ↑ Hartmut Weber, Präsident des Bundesarchivs: Kohl und der Aktenschwund. In: Die Zeit, Nr. 46/2001