Das Grüne Buch
Das Grüne Buch (arabisch الكتاب الأخضر al-Kitāb al-achdar, DMG al-kitāb al-aḫḍar) ist ein Werk Muammar al-Gaddafis, das ab 1975 in drei Teilen herausgegeben wurde. Es befasst sich mit der Regierungsform der Demokratie und der sozialen Ordnung, während es sich zugleich von den herrschenden Systemen der westlichen Länder und denen im damaligen Ostblock distanziert.
Inhalt
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Das Buch ist in drei Kapitel mit Zwischenüberschriften und Randbemerkungen auf grünem Grund gegliedert.
- Kapitel 1: Die Lösung des Demokratieproblems – „Die Macht des Volkes“. Die politische Grundlage der Dritten Universaltheorie.
- Abschnitte: Das Regierungsinstrument – Parlamente – Die Partei – Klasse – Volksentscheid – Volkskongresse und Volkskomitees – Das Gesetz der Gesellschaft – Wer kontrolliert das Verhalten der Gesellschaft? – Wie findet die Gesellschaft im Falle einer Abweichung von ihrem Gesetz ihre Richtung wieder? – Die Presse.
- Kapitel 2: Die Lösung des wirtschaftlichen Problems – „Der Sozialismus“. Der ökonomische Aspekt der Dritten Universaltheorie.
- Abschnitte: Bedürfnis – Beispiel von Lohnarbeit für die Gesellschaft, von Lohnarbeit für eine private Tätigkeit, und nicht gegen Lohn geleistete Arbeit – Schlußfolgerung – Andere Beispiele.
- Kapitel 3 (mit Zwischenüberschriften in grüner Schrift): Die soziale Basis der Dritten Universaltheorie.
- Abschnitte: Die Familie – Der Stamm – Vorteile des Stammes – Die Nation – (in schwarzer Schrift mit grün hervorgehobenen Sätzen im Fließtext:) Die Frau – (weiter mit grünen Zwischenüberschriften:) Minderheiten – Die Schwarzen werden sich in der Welt durchsetzen – Erziehung – Kultur und Kunst – Sport, Reitkunst und Veranstaltungen.
Da Libyen zuvor keine Verfassung besaß, wurde Das Grüne Buch als eine solche angesehen.[1]
Das Werk verurteilt die vorhandenen Systeme als nicht wahrhaft demokratisch, da die Menschen nur Repräsentanten bestimmen könnten, von deren Verhalten sie fortan abhängig seien, nicht aber selber direkten Einfluss im System hätten. Zitat: „Ein politischer Kampf, dessen Ergebnis der Sieg eines Kandidaten mit 51 % Stimmenanteil ist, führt zu einem als Demokratie bemäntelten diktatorischen Regierungskörper, da 49 % der Wählerschaft von einem Herrschaftsinstrument regiert werden, für das sie nicht gestimmt haben, sondern das ihnen auferlegt worden ist. Das ist Diktatur.“[2] Immerhin wird dem Volk das Recht zugestanden, „zu kämpfen, durch die Volksrevolution die Instrumente zu zerstören, die die Demokratien widerrechtlich in Besitz nehmen und sie dem Einfluss der Massen entziehen.“[3]
Es wird ein Vorschlag eines Systems präsentiert, das die Beteiligung des Volkes am politischen Prozess durch die Instrumente des Volkskongresses und der Volkskomitees sicherstellen soll.
Es äußert sich zudem zu den Herrschaftsordnungen auf den Ebenen von Familie, Stamm und Nation, die er jeweils als Verbände auffasst, die sich auf Grund verwandtschaftlicher Nähe aus den Einheiten der nächstniederen Ebene bilden und nach Auffassung Gaddafis die drei Ebenen der Gesellschaft bilden, welche maßgeblich die gesellschaftliche Ordnung prägen.
Gaddafi bezeichnete seine Theorien als „Dritte Universaltheorie“; das ist zu verstehen als Alternative zu den Systemen des Kapitalismus und des Kommunismus.
In einer Rede vor dem höchsten libyschen Gremium, dem „Allgemeinen Volkskongress“, erklärte Gaddafi im Jahr 2003 seine Politik der letzten drei Jahrzehnte, und damit auch die Dritte Universaltheorie als deren Grundlage, für gescheitert.[4][5]
Rolle der Frau
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]In markantem Gegensatz zu anderen arabischen Sozialisten[6] standen Gaddafis Ansichten zur Rolle der Frau. Im Grünen Buch führte er aus, dass Frauen und Männer in der ganzen Natur – und somit auch beim Menschen – verschiedene Eigenschaften hätten: Die Frau sei zart und schön geschaffen, der Mann hingegen stark und widerstandsfähig. Daraus ergäben sich verschiedene Aufgaben der beiden Geschlechter: Die Frau sei für Arbeit im Haus und Erziehung der Kinder geschaffen, für körperliche Arbeit hingegen ungeeignet. Die Frau solle Eigentümerin des Hauses sein, weil sie von der Natur zur Kindererziehung bestimmt sei; Kindertagesstätten verglich Gaddafi mit Geflügelfarmen. Auch Menstruation und Schwangerschaft seien Zustände von Schwäche, die eine Aufgabenteilung zwischen Mann und Frau notwendig machten. Die Natur habe Mutterschaft, Hausarbeit und Kindererziehung als natürliche Aufgabe für die Frauen vorgesehen, eine Frau, die körperlich arbeite, sei unfrei, auch wenn sie dies selbst nicht so empfinde. Die wahre Befreiung der Frau bestünde in der Anerkennung ihres natürlichen Wesens.
Die praktische Umsetzung der Theorie bestand darin, dass Frauen bei einer Scheidung das gemeinsame Haus oder die Wohnung behalten durften. Trotz Gaddafis Theorie gab es Kindertagesstätten für berufstätige Frauen sowie Frauen in klassischen „Männerberufen“ wie Polizistinnen oder Pilotinnen.[7] 1979 richtete Gaddafi eine Militärakademie für Frauen ein. Die meisten gebildeten Frauen waren aber im Gesundheitswesen und als Lehrerinnen tätig, und die Frauenerwerbsquote lag Mitte der 1990er Jahre unter 10 %. Die Vielehe blieb in Libyen, anders als im benachbarten Tunesien, erlaubt, der Mann musste für die Heirat einer Zweitfrau lediglich die Genehmigung der anderen Ehefrau einholen.[8]
Rezeption
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Aufgrund seiner Symbolik als grundlegendes Werk Gaddafis (unabhängig von seinem Inhalt) ist Das Grüne Buch bei seinen Gegnern verhasst. Nachdem im März 2011 während des Bürgerkrieges Exemplare von Protestierenden verbrannt worden waren, äußerte der Libyen-Experte Dirk Vandewalle vom Dartmouth College in einem Radio-Interview, die Ansicht sei weit verbreitet, das Buch stelle keine in sich geschlossene Philosophie, sondern eher eine Ansammlung von Aphorismen dar.[9] Das „Internationale Studien- und Forschungszentrum des Grünen Buches in Tripolis“ sorgte für eine ständige Präsenz des Buches nicht nur in Libyen, wo es in der Schule gelesen und öfters in Funk und Fernsehen zitiert wurde, sondern verbreitete es auch in zahlreichen Fremdsprachen. – In deutscher Sprache wurden mehrere Auflagen im Verlag Siegfried Bublies herausgegeben, der als extrem rechts gilt.[10]
Neben der libyschen Ausgabe auf Deutsch, in der kein Übersetzer genannt wird, gibt es eine Neuübersetzung aus dem Arabischen von dem Islamwissenschaftler und Soziologen Heiner Lohmann im Anhang zu seiner Dissertation (2006, siehe Literatur) sowie eine Übersetzung nach dem Englischen von Hans Schmid im Anhang zu Gaddafis Buch Vision – Gespräche und offener Meinungsaustausch mit Edmond Jouve, das 2009 im Münchner belleville-Verlag erschienen ist.
Auf die Frage „Herr Dr. Lohmann, was ist das ‚Grüne Buch‘?“ gab Lohmann die Antwort: „Ein Mythos. Man hat es oft als politische Theorie missverstanden, aber es hat keinen Argumentationszusammenhang. Es dient der Identitätsstiftung. Wenn man es liest, versteht man es eigentlich überhaupt nicht, weil es in sich sehr widersprüchlich ist.“[11]
Die Rezipienten und Propagandisten im Internationalen Studien- und Forschungszentrum in Tripolis sahen das anders (Rückseite der libyschen Ausgabe, goldene Schrift auf grünem Grund): „Was den Denker Muammar Al Qaddafi eigentlich auszeichnet, ist, daß er seine Ideen weder aus Überdruß noch aus Vergnügen darbietet, sie auch nicht aufgezeichnet hat zur Unterhaltung gedankenloser, am Rande des Lebens stehender Leute, für die das Denken lediglich ein Rätselspiel ist. […]“
Sonstiges
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]In der Saison 1987/1988 machte der Eishockeyverein ECD Iserlohn – finanziell schwer angeschlagen – ein Spiel lang Trikotwerbung für Das Grüne Buch, bevor das mediale Aufsehen in der Öffentlichkeit den Deutschen Eishockey-Bund veranlasste, dem Verein die Fortführung der Werbung zu untersagen.[12] Der Verein bestritt danach lediglich noch ein Spiel, bevor er in Konkurs ging. Ob tatsächlich ein Vertrag mit Gaddafi bestand und welchen finanziellen Umfang er eventuell gehabt hat, ist nicht bekannt. Der Vorsitzende des Vereins, Heinz Weifenbach, hatte tatsächlich einige Zeit vorher Libyen besucht.
Quellen
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]- ↑ Mustafa Fetouri: Libyen nach dem Ende der Gaddafi-Diktatur: Die erkauften Loyalitäten des „Bruder Oberst“. In: Qantara.de vom 24. Oktober 2011. Abgerufen am 24. Oktober 2011.
- ↑ Muammar Al Qaddafi: Das Grüne Buch. Hrsg.: Internationales Studien- und Forschungszentrum des Grünen Buches, Eigenverlag, Tripolis (ohne Jahresangabe, vielleicht 1988), S. 6.
- ↑ Muammar Al Qaddafi: Das Grüne Buch. Hrsg.: Internationales Studien- und Forschungszentrum des Grünen Buches, Eigenverlag, Tripolis (ohne Jahresangabe, vielleicht 1988), S. 9.
- ↑ Muhammad Ibrahim (Pseudonym): Libya: The Sons Also Rise. In: Foreign Policy, No. 139 (Nov.–Dec. 2003), S. 37–39.
- ↑ Andreas Vrabl: „Libyen: Eine Dritte Welt – Revolution in der Transition“, Diplomarbeit, Wien 2008, S. 128.
- ↑ Gerrit Hoekmann, Zwischen Ölzweig und Kalaschnikow, Geschichte und Politik der palästinensischen Linken, Münster 1999, ISBN 3-928300-88-1, S. 39.
- ↑ Karin El Minawi, Emanzipation über den Wolken, Süddeutsche Zeitung, 28. Oktober 2010.
- ↑ Andreas Vrabl: „Libyen: Eine Dritte Welt – Revolution in der Transition“, Diplomarbeit, Wien 2008, S. 68–71.
- ↑ What’s In Gadhafi’s Manifesto? In: National Public Radio vom 3. März 2011, zuletzt abgerufen am 21. Oktober 2011.
- ↑ Kleine Anfrage: Der Aufbau des „Preußischen Mediendienstes“ und der Verlag Siegfried Bublies. ( des vom 5. März 2016 im Internet Archive) Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis. auf dipbt.bundestag.de vom 12. Dezember 1997; (abgerufen am 1. November 2011).
- ↑ Florian Flade: Gaddafis Evangelium, Telepolis-Interview auf heise.online vom 27. Februar 2011; (zuletzt abgerufen am 21. Oktober 2011).
- ↑ Süddeutsche Zeitung: Eishockey-Cracks warben für Gaddafis „Grünes Buch“; ( vom 28. Februar 2011 im Internet Archive)
Literatur
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]- Muammar al-Gaddafi: Das Grüne Buch. Die dritte Universaltheorie. In deutscher Sprache. Herausgeber: Internationales Studien- und Forschungszentrum des Grünen Buches. Tripolis, Libyen etwa Mitte der 1970er Jahre. (Im Buch ohne Jahresangabe, 119 Seiten, auf jeder Seite etwa 200 Wörter, Postkartenformat). Viele Nachdrucke.
- Zuletzt: Muammar al-Gaddafi: Das Grüne Buch. Die dritte Universaltheorie. Verlag Siegfried Bublies, Koblenz 1988 bis 2000, ISBN 3-926584-02-5; neu aufgelegt 2014 in Beltheim-Schnellbach: ISBN 9783937820095.
- ders.: Vision. Gespräch und offener Meinungsaustausch mit Edmond Jouve, aus dem Englischen übersetzt von Hans Schmid, belleville Verlag Michael Farin, München 2009, ISBN 978-3-933510-51-8; darin: Anhang I, Muammar al-Gaddafi: Das Grüne Buch, S. 96–144.
- Senta Stillmark: Träumer und Erbauer – Gedanken über den Zukunftsstaat des Jakobiners Saint-Just und das Grüne Buch des Revolutionsführers Muammar al-Gaddafi. Internat. Progress Organization, Wien 1983, ISBN 3-900704-06-6.
- Heiner Lohmann: Strukturen mythischen Denkens im Grünen Buch Mu'ammar al-Qaddafis. Eine kommunikationstheoretische Untersuchung zur Rationalität eines soziozentrischen Weltbildes im Islam mit einer Neuübersetzung des Grünen Buches im Anhang. (Diss. Universität Münster) LIT Verlag, Münster, ISBN 978-3-8258-1680-3.
- Herta Müller: Grünes Buch, in: Historisch-kritisches Wörterbuch des Marxismus, Bd. 5, Argument-Verlag, Hamburg, 2001, Sp. 1071–1077.