Der Winter ist vergangen
Der Winter ist vergangen ist der Titel eines bekannten deutschen Volksliedes, das der Volkliedforscher Franz Magnus Böhme Ende des 19. Jahrhunderts aus älteren Quellen aus den Niederlanden kompilierte.[1]
Herkunft
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Der früheste Nachweis des Liedes findet sich „erstmals in einer Liederhandschrift aus dem Jahr 1537 […] aus dem Gelderland“.[1] Der Verfasser des Liedtextes ist unbekannt geblieben. In einigen älteren Liederbüchern wird die Entstehung des Textes ohne Angabe von Quellen auf die Zeit um 1450 datiert.[2] Nachdem Hoffmann von Fallersleben Die winter is verganghen in der Mitte des 19. Jahrhunderts entdeckte,[3] wurde es von Franz Magnus Böhme 1877 ins Deutsche übersetzt.[4] Von Franz Magnus Böhme wurde es erstmals 1894 im Deutschen Liederhort[5] der heute verbreiteten Melodie unterlegt, die aus dem nach einem späteren Besitzer als Thysius’ luitboek (um 1600) bekannten handschriftlichen Lautenbuch stammt,[6] das ursprünglich von Adriaan Joriszoon Smout (um 1578/79–1646)[7] angelegt wurde.[8] Die Melodie weist Ähnlichkeiten mit der heutigen niederländischen Nationalhymne Wilhelmus van Nassouwe auf.[5]
Liedtext
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Deutsch |
Mittelniederländisch |
Neuniederländisch |
Der Text beginnt als Frühlingslied: die Blümlein prangen, die Vögel singen, und der Mai ist nah. Der Sänger holt eine junge Birke („ein Mai zu hauen“)[12] und stellt sie – wie damals üblich – als Maibaum vor das Fenster seiner Liebsten („Buhl“), die ihn daraufhin erhört und sich keusch auf die Wangen küssen lässt. Der junge Mann jedoch muss fort (der Grund wird nicht genannt), und der Torwächter warnt, dass die Tore gleich geschlossen werden. Voller „Herzeleid“ muss der Sänger Abschied nehmen; er ist voller Zuversicht, dass die Liebste ihm treu bleiben wird („bleibst du die Liebste mein“) und versichert ihr seine ewige Liebe („das Herz in meinem Leibe gehört ja allzeit dein“). So endet der Text als Liebeslied und als Abschiedslied.
Betrachtet man den unpolitischen Text, ist es nicht verwunderlich, dass das Volkslied in allen Kreisen und zu allen Zeiten gesungen wurde und wird – seien sie volkstümelnd oder nazistisch, jugendbewegt, kirchennah oder anderer Provenienz bzw. vor dem Ersten Weltkrieg und danach, zur Zeit des Nazi-Regimes und nach dem Zweiten Weltkrieg in der DDR oder der BRD. In England ist es als The night of winter’s over, the light of spring is here bekannt. Mit dem italienischen L’inverno è passato, l’aprile non c’è più wird es wegen des fast identischen Textbeginns häufig verwechselt. Das aus dem italienischen stammende „Der Winter ist vorüber“ weicht jedoch in Text und Melodie deutlich ab und ist durch den Wechselgesang über den Kuckuck ungleich fröhlicher und beschwingter.
Rezeption
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Sicherlich kann man die Popularität eines Liedes nicht an allein an den Veröffentlichungen in Liederbüchern und Tonträgern (einschließlich Partituren) festmachen, aber sie können doch gewisse Aufschlüsse über seine Rezeption geben, wenngleich damit keine Aussage über die Häufigkeit des Singens oder Anhörens getroffen werden kann.
1908 bis 1933
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Nach den ersten Veröffentlichungen im 20. Jahrhundert im Zupfgeigenhansl (1908)[1] und in Fahrender Gesellen Liederborn (1910)[2] ist das Lied auch in Schulbüchern zu finden, so im Liederbuch, 2. Teil, Mittelstufe (3. Auflage 1912) und in Der Maibaum – neues deutsches Schulsingbuch (1927). In der Jugendbewegung taucht es nach dem Ersten Weltkrieg zahlreich auf: von Wandervogels Singebuch (1915) und dem Jungvolker – Lieder neudeutscher Jugend (1921) bis hin zu Lieder der bündischen Jugend (1929). Darüber hinaus wurde es ins Liederbuch der Gewerkschaft der Angestellten Seit an Seit (1923) und vom rechtskonservativen Stahlhelm in das Stahlhelm Bundesliederbuch (4. Band 1924) aufgenommen. Bereits vor 1933 übernahmen völkische Kreise das Lied in ihre Liederbücher, beispielsweise in das Liederbuch der Deutschen (Hrsg. Ludendorffs Volkswarte Verlag 1931).[2]
1933 bis 1945
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Nach 1933 erlebte – betrachtet man die Veröffentlichung in zahlreichen Liederbüchern – das Lied geradezu einen Boom. Von der Hitlerjugend (Uns geht die Sonne nicht unter, 1934) über die NS-Gemeinschaft Kraft durch Freude (Werkleute singen, 1936) oder die Deutsche Arbeitsfront bis zum Bund Deutscher Mädel (Wir Mädel singen, 1937) und zum Reichsarbeitsdienst (Lieder der Arbeitsmaiden, 1938) – überall wurde Der Winter ist vergangen gesungen. Auch in vielen Schulbüchern mochte es das NS-Regime nicht missen: sowohl in der Volksschule (z. B. im Thüringer Volksliederbuch 2. Teil. 1934) als auch an höheren Schulen (z. B. in Frisch gesungen, Band 3 – Chorbuch für die höheren Lehranstalten der weiblichen Jugend. 1936) und allgemein als Schulbuch für die deutsche Jugend Sing Kamerad (Hrsg. Zentralverband der NSDAP, 1937). Noch 1944 wurde das Lied in das vom Oberkommando des Heeres herausgegebene Chorbuch für Front und Heimat Kameradschaft im Lied aufgenommen. Auffällig bei den von den Nazis edierten Liederbüchern ist, dass bei der Mehrzahl der niederländische Ursprung verschwiegen wird; man „war bestrebt, diesem Lied eine deutsche Abkunft zu bescheinigen“.[1]
Ab 1946
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]In den ersten nach dem Zweiten Weltkrieg erschienenen Liederbüchern war Der Winter ist vergangen ebenfalls vertreten, so 1946 in: Wir Falken singen und Wo wir uns finden. Auch in der DDR wurde es 1951 in Reicht euch die Hände – Liederbuch des Friedens übernommen und – obwohl unpolitisch – sogar in das FDJ-Liederbuch Leben Singen Kämpfen (1964) und später auch in das Volks- und Zeitliederbuch: Wohlan die Zeit ist kommen (Leipzig 1954). Im „Großen Steinitz“ (Frankfurt am Main 1983) dagegen wurde es nicht aufgenommen. Wie beliebt das Frühlingslied war und ist, zeigt die Übernahme auf zahlreiche Langspielplatten und CDs, von denen die Alben der Büchergilde Gutenberg Freche Lieder – liebe Lieder (Folge 1, 1987), von Das Beste aus Reader Digest Die schönsten Volkslieder (1989) sowie von Nena – mit abgewandeltem Text – Unser Apfelhaus (1995) und vor allem von Hannes Wader Volkssänger (1975) und Der Volkssänger (Disc 2, 2004) hohe Auflagen erreicht haben.
Von den nach 1946 zahlreich erschienenen Liederbüchern (allein die umfangreiche Sammlung des kanadischen Sammlers Hubertus Schendel weist über 350 Liederbücher mit dem Frühlingslied auf)[2] werden hier nur einige genannt, so die 1953 erschienene Mundorgel mit einer bis Ende 2012 verkauften Textauflage von zehn Millionen (Notenauflage vier Millionen) und das wohl umfangreichste deutschsprachige Liederbuch Deutschland im Volkslied – 714 Lieder aus deutschsprachigen Landschaften und Europa (1958) sowie vermutlich die schönste, von Tomi Ungerer illustrierte, Edition Das große deutsche Liederbuch – 204 deutsche Volkslieder und Kinderlieder (1975). Wie gern Der Winter ist vergangen heutzutage noch gesungen wird, zeigen auch die beachtliche Anzahl von Partituren, von denen das Deutsche Musikarchiv 17 allein in den vergangenen fünf Jahren gesammelt hat.
Literatur
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]- Ludwig Erk, Franz Magnus Böhme: Deutscher Liederhort. Band 2. Breitkopf & Härtel, Wiesbaden 1894, S. 204 f. (Digitalisat).
Weblinks
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]- Der Winter ist vergangen im Liederprojekt von Carus-Verlag und SWR2
- Chorsatz (SATB): Noten und Audiodateien im International Music Score Library Project
Einzelnachweise
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]- ↑ a b c d Frauke Schmitz-Gropengiesser, Eckhard John: Der Winter ist vergangen (2009). In: Populäre und traditionelle Lieder. Historisch-kritisches Liederlexikon
- ↑ a b c d Der Winter ist vergangen auf deutscheslied.com
- ↑ a b August Heinrich Hoffmann von Fallersleben: Niederländische Volkslieder, gesammelt und erläutert von Hoffmann von Fallersleben. Zweite Ausgabe. Carl Rümpler, Hannover 1856. S. 151, Nr. 63 (Digitalisat in der Google-Buchsuche).
- ↑ a b c Franz Magnus Böhme: Altdeutsches Liederbuch: Volkslieder der Deutschen nach Wort und Weise aus dem 12. bis zum 17. Jahrhundert. Breitkopf und Härtel, Leipzig 1877. S. 212 ff., Nr. 114 (eingeschränkte Vorschau in der Google-Buchsuche).
- ↑ a b Ludwig Erk, Franz Magnus Böhme: Deutscher Liederhort. Band 2. Breitkopf & Härtel, Wiesbaden 1894, S. 204 f. (Digitalisat).
- ↑ The Thysius Lute Book / Het Luitboek van Thysius. Facsimile Edition of Leiden, Bibliotheca Thysiana 1666. 3 Bände. Koninklijke Vereniging voor (omifacsimiles.com).
- ↑ Jacob Cornelis van Slee: Smout, Adrian Jorisz. In: Allgemeine Deutsche Biographie (ADB). Band 34, Duncker & Humblot, Leipzig 1892, S. 498 f.
- ↑ De Winter is ons verganghen (Lautenbuch-Adaption 1884). Edition und Scan in: Populäre und traditionelle Lieder. Historisch-kritisches Liederlexikon
- ↑ So bei Hoffmann von Fallersleben (1856). Im Volksliederarchiv heißt es abweichend und näher am modernen niederländischen Text: „Und als die Allerliebste / sein Reden hatt’ gehört / da stand sie Traurigliche / und sprach zu ihm ein Wort“.
- ↑ Hans Breuer (Hrsg.): Der Zupfgeigenhansl. 10. Auflage. Friedrich Hofmeister, Leipzig 1913, S. 121 f. (Digitalisat).
- ↑ Niederländische Originalfassung in modernisierter Rechtschreibung und Grammatik nach http://www.liedjeskist.nl/liedjes_a-z/d-liedjes/die_winter_is_vergangen.htm
- ↑ Der Winter ist vergangen auf ingeb.org