Durchgangsstraße IV
Durchgangsstraße IV (abgekürzt DG IV oder Dg. 4, auch bekannt als Rollbahn Süd oder Straße der SS) war die Bezeichnung für eine 2175 km lange Fernverkehrsstrecke, die nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion von Berlin durch die besetzten Gebiete der Sowjetunion bis in den Kaukasus führen sollte. Als Hauptnachschublinie für die Heeresgruppe Süd war der Ausbau der Durchgangsstraße von zentraler strategischer Bedeutung.[1]
Verlauf
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Die DG IV führte wie eine Teilstrecke der heutigen Europastraße 40 von Breslau über Kattowitz, Przemyśl, Tarnopol, Lemberg, Winnitza, Dnjepropetrowsk und Kirowograd bis nach Stalino (Donezk).[2] Sie sollte später über Taganrog in den Kaukasus führen. Die ukrainische Fernstraße M 12 nutzt den Streckenverlauf der vormaligen DG IV.
Bau
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Die Bauleitung oblag der Organisation Todt, die private Firmen mit der Durchführung beauftragte. Als Arbeitskräfte waren zunächst sowjetische Kriegsgefangene vorgesehen, bald nach Beginn der Arbeiten im Sommer 1941 wurden aber auch Zwangsarbeiter, vor allem jüdische Einwohner Galiziens, herangezogen.
Zur Sicherung der Strecke und zur Bewachung der Zwangsarbeiter richtete der Höhere SS- und Polizeiführer „Rußland-Süd“ ein eigenes Kommando für die DG IV ein. Einheiten der Ordnungspolizei und sogenannte Schutzmannschaften, bestehend aus lettischen, litauischen und ukrainischen Hilfspolizisten, wurden dafür abkommandiert. Entlang der Strecke wurden zahlreiche kleinere und größere Zwangsarbeitslager errichtet, die der Kontrolle der SS unterlagen. Die DG IV war Bestandteil des Programms Vernichtung durch Arbeit; mehr als 25.000 jüdische Zwangsarbeiter wurden zwischen 1942 und 1944 im Bereich der Streckenführung ermordet. Dort kamen auch die Eltern des Lyrikers Paul Celan ums Leben.
Auf dem Abschnitt zwischen Gaissin und Uman kam die Bewachung der Zwangsarbeitslager der SS-Bauabschnittsleitung von Gaissin zu. Vorsteher dieser SS-Bauabschnittsleitung von Mai bis Oktober 1942 war der SS-Hauptsturmführer Franz Christoffel, anschließend bis April 1943 der SS-Untersturmführer Oskar Friese. Christoffel und Friese gehören mit SS-Obersturmbannführer Bernhard Maaß zu den „Hauptakteuren der Ausrottung“ der Juden am Abschnitt von Gaissin.[3]
Auf dem Abschnitt östlich von Lemberg existierten mehrere Arbeitslager, darunter ein Lager in Kurowice, zeitweise unter dem Kommando von SS-Unterscharführer Ernst Epple. Über die Arbeits- und Lagerbedingungen und die dort begangenen Grausamkeiten und Verbrechen der Lagermannschaften legte Eliyahu Yones als Überlebender 1954 Zeugnis ab.
Juristische Aufarbeitung nach 1945
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Ab den 1960er Jahren ermittelte die Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen in Ludwigsburg 70 Beschuldigte, von denen in 39 Fällen der Aufenthaltsort ausfindig gemacht werden konnte.[4] Die Staatsanwaltschaft Lübeck bereitete 1967 einen Prozess beim Landgericht Itzehoe vor, für den 1.500 Zeugen verhört (davon 100 überlebende Juden in Israel) und 39 Beschuldigte ermittelt wurden, einer davon war Christoffels Stellvertreter Oskar Friese. Christoffel war zu diesem Zeitpunkt bereits verstorben. Den Anstoß dafür gab der autobiographische Bericht des Malers Arnold Daghani.[5][6] Gegen 10 weitere Personen führten ab 1970 verschiedene Staatsanwaltschaften die Verfahren weiter. Die Ermittlungen gegen die Hauptverantwortlichen wurden eingestellt.[4] Der Leiter des Lagers in Michailowka, in dem die Dichterin Selma Meerbaum-Eisinger ums Leben kam, war der SS-Unterscharführer Walter Mintel.[7]
Literatur
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]- Wissenschaftliche Literatur
- Andrej Angrick:
- Annihilation and Labor: Jews and Thoroughfare IV in Central Ukraine. In: Ray Brandon, Wendy Lower (Hrsg.): The Shoah in Ukraine. History, Testimony, Memorialization. Indiana University Press, Bloomington 2008, ISBN 978-0-253-35084-8, S. 190–223.
- The Escalation of German-Rumanian Anti-Jewish Policy after the Attack on the Soviet Union, June 22, 1941. Yad Vashem Studies, Bd. XXVI, Jerusalem 1998, S. 203–238.
- Forced Labor along the “Straβe der SS”. pdf, In: Forced and Slave Labor in Nazi-Dominated Europe. United Holocaust Memorial Museum, 2004, S. 83–93.
- George Henry Bennett: The Nazi, the painter, and the forgotten story of the SS road. Reaktion Books, London 2012, ISBN 978-1-86189-909-5.
- Wolfgang Benz u. a. (Hrsg.): Enzyklopädie des Nationalsozialismus. Stichwort DG 4, S. 431–432.
- John Goetz, Wiebke Hollersen: Felder der Erinnerung. In: Der Spiegel. Nr. 37, 2009, S. 45–47 (online – 7. September 2009).
- Hermann Kaienburg: Jüdische Arbeitslager an der „Straße der SS“. In: 1999 – Zeitschrift für Sozialgeschichte des 20. und 21. Jahrhunderts, Heft 1/96. Hamburger Stiftung für Sozialgeschichte des 20. Jahrhunderts (Hrsg.) Janus Verlagsgesellschaft, Köln 1996.
- Wendy Lower: Nazi Empire-Building and the Holocaust in the Ukraine. The University of North Carolina Press 2005, ISBN 0-8078-2960-9.
- Olga Radchenko: Zwangsarbeit von Juden im Straßenbau zwischen Uman und Kirowograd, 1942–1943 http://www.holocaust.kiev.ua/Files/golSuch2005/Olga_Radchenko_1_17_2019.pdf
- Thomas Sparr: Todesfuge. Biographie eines Gedichts. Mit zahlreichen Abbildungen und Faksimiles. Deutsche Verlags-Anstalt, München 2020. 336 S. ISBN 978-3-421-04787-8.
- Siegfried Wolf: Durchgangsstr. IV (PDF, 3 S.)
- Petru Weber: Regime Changes, Public Memory and the Pursuit of Justice: The Case of German-Speaking Jews in Bukovina ( 1920-1960) Doktorarbeit an der Universität Sussex (Großbritannien), 223 S. http://doktori.bibl.u-szeged.hu/id/eprint/10323/25/weber.pdf
- Autobiographische Berichte der Zwangsarbeit
- Arnold Daghani: The Grave is in the Cherry Orchard. In: ADAM International Review. 1961 No. 291–293.
- Arnold Daghani: Arnold Daghani's Memories of Mikhailowka: The Illustrated Diary of a Slave Labour Camp Survivor. Vallentine Mitchell, London 2009, ISBN 978-0-85303-639-5.
- Eliyahu Yones: Die Straße nach Lemberg. Zwangsarbeit und Widerstand in Ostgalizien 1941–1944. Aus dem Hebr. übers. im Auftr. der Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Verfolgung der NS-Verbrechen, Ludwigsburg. Bearbeitet von Susanne Heim. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 1999, ISBN 3-596-14258-X.
Einzelnachweise
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]- ↑ Tanja Penter: Arbeiten für den Feind in der Heimat – der Arbeitseinsatz in der besetzten Ukraine 1941–1944. S. 91.
- ↑ Conrad Kunze: Deutschland als Autobahn – Eine Kulturgeschichte von Männlichkeit, Moderne und Nationalismus. Transcript 2022, S. 261.
- ↑ Mykhaililivka: Camp to village. By Marie Moutier. S. 2.
- ↑ a b Mario Wenzel: Zwangsarbeitslager für Juden in den besetzten polnischen und sowjetischen Gebieten. S. 147. In: Der Ort des Terrors, Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager, Band 9. C.H. Beck, München 2009. ISBN 978-3-406-57238-8.
- ↑ Sozialdemokratischer Pressedienst (Hrsg.): "Das Grab im Kirschgarten." Bonn, P/XXII/60, 29. März 1967.
- ↑ Arnold Daghani: The Grave is in the Cherry Orchard. In: ADAM International Review. 1961 No. 291–293.
- ↑ Jürgen Serke: Geschichte einer Entdeckung. In: Selma Meerbaum-Eisinger. Ich bin in Sehnsucht eingehüllt. Gedichte. Hrsg. Jürgen Serke. Hamburg: Hoffmann und Campe 1980, S. 5–33. ISBN 3-455-04790-4.