Ernst Bornemann

aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie
(Weitergeleitet von Ernst Wilhelm Julius Bornemann)
Zur Navigation springen Zur Suche springen

Ernst Wilhelm Julius Bornemann (* 12. April 1915 in Berlin; † 4. Juni 1995 in Scharten, Oberösterreich), auch bekannt als Ernest Borneman, war ein deutscher Anthropologe, Psychoanalytiker, Filmemacher, Sexualforscher, Publizist und Hochschullehrer. Von 1978 bis 1981 war er Titularprofessor für Psychologie an der Universität Salzburg. Neben wissenschaftlichen Beiträgen verfasste er auch Jazz­kritiken und (unter dem Pseudonym Cameron McCabe) Kriminalromane.

Familie und Jugend

[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Ernst Bornemann war das einzige Kind des jüdischen Ehepaars Curt und Hertha (geb. Blochert) Bornemann, die im Berliner Westend am Kaiserdamm ein Geschäft für Kinderbekleidung betrieben. Er besuchte zunächst das Grunewald-Gymnasium.

1931 schloss er sich der von dem marxistischen Psychoanalytiker Wilhelm Reich gegründeten und geleiteten Sexpol-Organisation, dem „Reichsverband für proletarische Sexualpolitik“ an,[1] einer Unterorganisation der KPD: Er beriet gleichaltrige Jugendliche in sexuellen Fragen und verschaffte ihnen Verhütungsmittel.[2] Er war auch als Schnittmeister tätig.[3]

Als Mitglied des Sozialistischen Schülerbunds wechselte er 1932, nachdem er wegen eines politisch anstößigen Aufsatzes einen Schulskandal erregt hatte, an die von Fritz Karsen geleitete Karl-Marx-Schule in Neukölln.

Flucht vor der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft

[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

1933 ging Bornemann ohne Schulabschluss unter einem Decknamen als Austauschschüler nach England und anglisierte seinen Namen zu Ernest Borneman. Dort begegnete er nach eigenen Angaben dem Ethnologen und Psychoanalytiker Géza Róheim, durch den er auch Zugang zu Problemen der Anthropologie fand. Bei Róheim machte er, nach eigenen Angaben, eine psychoanalytische Lehranalyse.[4]

In London lernte er 1933 die drei Jahre ältere, in London gebürtige Eva Geisel kennen. Sie war in Berlin zur Schule gegangen, wo sie 1932 die Abiturprüfung ablegte. Ihr Studium in Deutschland brach sie ab, als sie im Herbst 1933 nach London zurückkehrte, da sie jüdischer Abstammung war. Sie siedelte später nach Kanada über, wo sie 1943 den inzwischen dorthin deportierten Ernest Borneman heiratete. Aus dieser Ehe ging der 1947 geborene Stephen Borneman hervor.

Bornemann schrieb 1937 die „Detektivgeschichte, mit der alle Detektivgeschichten ein Ende haben“ (Julian Symons), einen Kriminalroman mit dem Titel The Face on the Cutting-Room Floor unter dem Pseudonym Cameron McCabe.[5] Er begann diesen Roman im Alter von 18 Jahren, als er die englische Sprache noch nicht beherrschte. Das Buch wurde dennoch von der Kritik sehr gelobt, so z. B. von dem angesehenen Kritiker Herbert Read. Es hatte acht Folgeauflagen und wurde ins Französische übersetzt. Auf Deutsch erschien es 1969 unter dem Titel Stumme Zeugen lügen nicht.[6]

1940 wurde Bornemann als „feindlicher Ausländer“ festgenommen und im nördlichen Ontario interniert. Alexander Paterson, der britische Kommissar für Gefängnisse, der Borneman aus London kannte, erkannte ihn auf einer Inspektion des Gefängnisses und veranlasste seine Freilassung. Paterson brachte ihn in Kontakt mit John Grierson, der am Aufbau des kanadischen National Film Board beteiligt war und Bornemann eine Stelle als Filmschneider vermittelte. Er war unter anderem am Schnitt des Propagandafilms Action Stations beteiligt.[3] Graham McInnes beschreibt seine Arbeit als eine Mischung aus teutonischer Genauigkeit und jüdischem extrovertierten Lyrizismus.[7] In Kanada schrieb er sechs weitere Kriminalromane, während er als Autodidakt weiterhin anthropologische Studien trieb. Er publizierte ferner ein Buch über Jazz, eine Sammlung von Artikeln aus seiner Londoner Zeit.[8] In den 1950er Jahren kehrte er nach Großbritannien zurück. Dort schrieb er Drehbücher für die Serie Die Abenteuer von Robin Hood und den Film Bang! You’re Dead. Sein Buch Tremolo and Face the Music, das in der Londoner Jazz-Szene spielt, wurde 1954 verfilmt.[3]

Rückkehr nach Deutschland

[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

1960 kehrte Bornemann, der in Großbritannien erfolgreich als Schnittmeister und Drehbuchautor gearbeitet hatte, aus der Emigration zurück, weil ihm der Posten eines Programmleiters im sogenannten Freien Fernsehen angeboten worden war, einer von Bundeskanzler Konrad Adenauer geplanten Konkurrenz-Anstalt zur ARD. Dort konnte sich Bornemann mit seinen Vorstellungen nicht durchsetzen. Wenig später konzipierte er für Radio Bremen das legendär gewordene Fernsehformat Beat-Club, kam aber wegen seines Alters als Moderator nicht in Frage.[9]

Wirken in Österreich und Deutschland

[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Bornemann ließ sich 1970 auf Dauer in Scharten in Oberösterreich nieder. Hier schrieb er sein Hauptwerk Das Patriarchat. Ursprung und Zukunft unseres Gesellschaftssystems, eine umfangreiche Studie, die er selbst als „Das Kapital“ der Frauenbewegung bezeichnete. Mit ihr wurde er 1976 an der Universität Bremen bei Gerhard Vinnai promoviert.

Seit den 1970er Jahren konnte Bornemann, obschon ohne reguläre akademische Laufbahn, an der Salzburger Universität Vorlesungen halten, ab 1978 als Professor (= Titularprofessor). „Er war“, berichtet 1994 die ehemalige Studentin Gerhild Trübswasser, „für mich und vermutlich ebenso für eine ganze Generation von Studentinnen und Studenten […] ein äußerst wichtiger Lehrer. Jeden Freitag trafen sich in der Vorlesung ‚beim Bornemann‘ psychoanalytisch interessierte und politisch engagierte“ Studenten.[10]

Die Deutsche Gesellschaft für Sozialwissenschaftliche Sexualforschung (DGSS) ehrte ihn 1990 mit der Verleihung der Magnus-Hirschfeld-Medaille für Sexualwissenschaft.[11] Bornemann war bis zu seinem Tod Ehrenvorsitzender der DGSS sowie der von ihm 1979 gegründeten Österreichischen Gesellschaft für Sexualforschung.

Enttabuisierung der Pädophilie

[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Ernest Bornemann vertrat 1988 die Meinung, pädosexuelle, physisch wie psychisch gewaltfreie Sexualhandlungen müssten nicht unbedingt negative Folgen für das Kind haben.[12] Er argumentierte u. a.: „Wenn man jede Form der Liebe, die sich nicht innerhalb der gleichen Generation bewegt, von vornherein verdammt, schädigt man das Kind.“[13]

Bornemann, der seit dem Tod seiner Frau Eva 1987 verwitwet war, starb nach dem Scheitern einer Beziehung zu einer jüngeren Kollegin durch Suizid. Seine Urne wurde im Garten seines Hauses in Scharten beigesetzt und später auf den katholischen Friedhof der Gemeinde umgebettet.

Veröffentlichungen

[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]
  • The Face on the Cutting-Room Floor. Withy Grove Press, London 1937; Mit Einleitung von Jonathan Coe. Picador Classic, London 2016, ISBN 978-1-5098-2981-1.
    • deutsch: Stumme Zeugen lügen nicht. Übers. Eva Geisel. Scherz, Bern 1969.
  • Tremolo. Jarrolds, London 1948; unter dem Titel Something Wrong. Four Square Books, London 1960.
    • deutsch: Am Apparat das Jenseits. Übers. Eva Geisel. Scherz, Bern 1968.
  • The Man who Loved Women. Coward McCann, New York 1968; Bruce & Watson, London 1970.
  • Lexikon der Liebe und Sexualität. 2 Bände. Paul List Verlag, München 1968.
  • Sex im Volksmund. Die sexuelle Umgangssprache des deutschen Volkes. Wörterbuch und Thesaurus. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 1971, ISBN 3-498-00428-X.
  • Studien zur Befreiung des Kindes. 3 Bände. 1973 ff.
    • Band 1: Unsere Kinder im Spiegel ihrer Lieder, Reime, Verse und Rätsel. Walter Verlag, Olten 1973; Neudruck: Ullstein, Frankfurt am Main/Berlin/Wien 1980, ISBN 3-548-35027-5.
    • Band 2: Die Umwelt des Kindes im Spiegel seiner „verbotenen“ Lieder, Reime, Verse und Rätsel. Walter Verlag, Olten 1974; Neudruck: Ullstein, Frankfurt am Main/Berlin/Wien 1980, ISBN 3-548-35045-3.
    • Band 3: Die Welt der Erwachsenen in den „verbotenen“ Reimen deutschsprachiger Stadtkinder. Walter Verlag, Olten 1976; Neudruck: Ullstein, Frankfurt am Main/Berlin/Wien 1981, ISBN 3-548-35078-X.
  • mit Heinz Körner u. a.: Eifersucht. Ein Lesebuch für Erwachsene. Lucy Körner Verlag, Fellbach (Oktober) 1979, ISBN 3-922028-01-2.
  • mit Heinz Körner und Roland Kübler: Männertraum(a): Ein Lesebuch für Erwachsene. Lucy Körner Verlag, Fellbach (Oktober) 1984, ISBN 3-922028-08-X.
  • Psychoanalyse des Geldes. Eine kritische Untersuchung psychoanalytischer Geldtheorien. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1973, ISBN 3-518-02241-5.
  • Sex im Volksmund. Der obszöne Wortschatz der Deutschen. 2 Bände. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 1974; einbändige Neuausgabe ebenda 1991.
    • Band 1: Der obszöne Wortschatz der Deutschen. Wörterbuch von A – Z. ISBN 3-499-16852-9 (= rororo 6852).
    • Band 2: Der obszöne Wortschatz der Deutschen. Wörterbuch nach Sachgruppen. ISBN 3-499-16853-7 (= rororo 6853).
  • Das Patriarchat. Ursprung und Zukunft unseres Gesellschaftssystems. S. Fischer, 1975; als Fischer-TB, Frankfurt am Main 1979, ISBN 3-596-23416-6.
  • Die Ur-Szene. Das tragische Kindheitserlebnis und seine Folgen. S. Fischer 1977; als Fischer-TB, Frankfurt am Main 1980, ISBN 3-596-26711-0.
  • Reifungsphasen der Kindheit. Jugend und Volk, München 1981, ISBN 3-7141-5262-8.
  • Wir machen keinen langen Mist... 614 Kinderverse, gesammelt in Deutschland, Österreich und der Schweiz in den 2 Jahrzehnten 1960–1980. Fischer-TB, Frankfurt am Main 1981, ISBN 3-596-23045-4.
  • als Hrsg.: Arbeiterbewegung und Feminismus. Berichte aus vierzehn Ländern. Ullstein, Frankfurt am Main/Berlin/Wien 1982, ISBN 3-548-35138-7.
  • als Hrsg.: Der Neanderberg. Beiträge zur Emanzipationsgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts. Ullstein, Frankfurt am Main/Berlin/Wien 1983, ISBN 3-548-35183-2.
  • Lexikon der Sexualität. Herrsching 1984.
  • Das Geschlechtsleben des Kindes. Urban und Schwarzenberg, München/Wien 1985; dtv-TB, München 1988, ISBN 3-423-15041-6.
  • Rot-weiß-rote Herzen. Das Liebes-, Ehe- und Geschlechtsleben der Alpenrepublik. Hannibal, Wien 1985, ISBN 3-85445-019-2.
  • Die neue Eifersucht. Heyne-TB, München 1986, ISBN 3-453-43081-6.
  • Ausgewählte Texte. Goldmann-TB, München 1990, ISBN 3-442-11052-1.
  • Ullstein Enzyklopädie der Sexualität. Ullstein, Frankfurt am Main/Berlin 1990, ISBN 3-550-06447-0.
  • Sexuelle Marktwirtschaft. Vom Waren- und Geschlechtsverkehr in der bürgerlichen Gesellschaft. Promedia, Wien 1992; Neudruck: Fischer-TB 12025, Frankfurt am Main 1994, ISBN 3-596-12026-8.
  • Die Zukunft der Liebe (= Fischer-TB. Band 13232). Frankfurt am Main 1997, ISBN 3-596-13232-0.
  • Ein lüderliches Leben. Portrait eines Unangepaßten. Festschrift für Ernest Borneman zum achtzigsten Geburtstag. In: Sigrid Standow (Hrsg.): Der grüne Zweig. Band 179. Pieper’s MedienXperimente, Löhrbach 1995, ISBN 3-925817-79-4.
  • Nicole Brunnhuber: Ernest Borneman: Popular Fiction and the Political Cause. In: Nicole Brunnhuber: The faces of Janus: English language fiction by German speaking exiles in Great Britain, 1933–1945. Lang, New York 2005, S. 237–257.
  • J. M. Ritchie: Ernst Bornemann and “The Face on the Cutting Room Floor”. In: J. M. Ritchie: German exiles: British perspectives. Lang, New York 1997, ISBN 0-8204-3743-3, S. 47–78.
  • Detlef Siegfried: Moderne Lüste. Ernest Borneman – Jazzkritiker, Filmemacher, Sexforscher. Wallstein, Göttingen 2015, ISBN 978-3-8353-1673-7.
  • Volkmar Sigusch: Geschichte der Sexualwissenschaft. Campus, Frankfurt am Main / New York 2008, ISBN 978-3-593-38575-4, S. 443–448.
  • Volkmar Sigusch: Ernest Borneman (1915–1995). In: Volkmar Sigusch, Günter Grau (Hrsg.): Personenlexikon der Sexualforschung. Campus, Frankfurt am Main / New York 2009, ISBN 978-3-593-39049-9, S. 73–78.
  1. Ernst Bornemann im Munzinger-Archiv (Artikelanfang frei abrufbar)
  2. Zur „Sexpol“ vgl. deren Zeitschrift für Politische Psychologie und Sexualökonomie
  3. a b c Jonathan Coe: Whodunnit and whowroteit. In: Guardian 2. September 2016, Review S. 20.
  4. Diese Angabe wurde, wie andere „Ungereimtheiten“ in seiner Karriere, später von Kritikern, etwa Volkmar Sigusch (Der Ratschläger. Sexologie als Phrase. In: Pro Familia Magazin 15, 12–16, 1987; erweitert in Volkmar Sigusch: Anti-Moralia. Sexualpolitische Kommentare. Campus Verlag, Frankfurt/M. / New York 1990, S. 84–94 und Belege S. 208–209), in Zweifel gezogen. – Auch für Bornemanns Mitarbeit in Wilhelm Reichs „Sexpol“-Organisation gibt es keinen anderen Beleg als seine eigene Aussage.
  5. Die Identität des Autors wurde erst aufgedeckt, als der Verlag Gollancz 1974 eine Faksimile-Ausgabe der 1937er Edition veranstaltete und Nachforschungen nach Erben oder anderen Rechteinhabern einleitete.
  6. Siehe dazu: A Dossier on a vanished author and a vanished book. In: Sigrid Standow (Hrsg.): Ein lüderliches Leben. Pieper’s MedienXperimente, Löhrbach 1995, S. 87–107.
  7. Gene Walz (Hrsg.): Graham McInnes, One Man’s Documentary: A Memoir of the Early Years of the National Film Board. University of Manitoba Press 2004, ISBN 978-0-88755-679-1.
  8. Ernest Jules Borneman: A critic looks at Jazz. Jazz Music Books, London 1946.
  9. Detlef Siegfried: Moderne Lüste. Ernest Borneman – Jazzkritiker, Filmemacher, Sexforscher. Wallstein, Göttingen 2015, ISBN 978-3-8353-1673-7.
  10. Gerhild Trübswasser: Ernest Bornemann. In: Werkblatt. Zeitschrift für Psychoanalyse und Gesellschaftskritik, Nr. 33, 2/1994, S. 4–5 (Digitalisat).
  11. Späth / Aden (Hrsg.): Die missbrauchte Republik – Aufklärung über die Aufklärer. Hamburg/London 2010, S. 128.
  12. Ernest Bornemann: Das Geschlechtsleben des Kindes – Beiträge zur Kinderanalyse und Sexualpädologie. Deutscher Taschenbuch Verlag, München 1988, ISBN 3-541-14191-3.
  13. Falsche Kinderfreunde. Emma, 1. September 1993, abgerufen am 19. Januar 2023.