Griolische Präzession
Die Grioli’sche Präzession (nach Giuseppe Grioli) ist in der Kreiseltheorie die reguläre Präzession eines unsymmetrischen, schweren Kreisels.
Die Bewegungsgleichungen lassen sich geschlossen integrieren, womit diese Bewegung eine der wenigen bekannten räumlichen Lösungen der Euler-Poisson-Gleichungen ist. Grioli zeigte 1947, dass reguläre Präzessionen des unsymmetrischen Kreisels dynamisch möglich sind[1]. M. P. Guljaev führte die Integration der Gleichungen aus[2] und wies nach, dass die gefundene Präzession die einzig mögliche des unsymmetrischen Kreisels ist.[3]
Bewegung des Kreisels
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Beschreibung
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Bei der regulären Präzession des schweren symmetrischen Lagrange-Kreisels bleiben der Winkel zwischen der Präzessionsachse und der Schwerpunktsachse, die vom Stützpunkt des Kreisels zum Schwerpunkt führt, gleichwie die Winkelgeschwindigkeit und die Präzessionsgeschwindigkeit zeitlich konstant. Diese Charakteristika werden hier auf den schweren unsymmetrischen Kreisel übertragen.
Die Präzessionsachse ist beim unsymmetrischen Kreisel nicht senkrecht. Der Schwerpunkt des Kreisels läuft gleichmäßig in einer raumfesten, zur Präzessionsachse senkrechten Ebene um, die den Stützpunkt enthält und passiert dabei periodisch die Horizontale. Die Hauptachse mit dem mittelgroßen Hauptträgheitsmoment ist senkrecht zur Schwerpunktsachse, umläuft diese mit derselben Drehgeschwindigkeit wie der Schwerpunkt die Präzessionsachse und tritt immer durch diese hindurch, wenn der Schwerpunkt in der Horizontalen ist.
Die Winkelgeschwindigkeit ist die Winkelhalbierende zwischen der Präzessionsachse und der Schwerpunktsachse und besitzt einen konstanten Betrag. Ähnlich wie beim symmetrischen Euler-Kreisel formt die Winkelgeschwindigkeit einen raumfesten Kegel um die Präzessionsachse und im körperfesten System einen Kegel um die Schwerpunktsachse. Die beiden Kegel haben den Öffnungswinkel 45° und rollen gleitungslos aufeinander ab. Die Umsetzung der Lageenergie in Rotationsenergie und umgekehrt geschieht hier ausschließlich durch Rotation um Achsen mit unterschiedlich großen Trägheitsmomenten.
Der Neigungswinkel der Präzessionsachse, die Winkelgeschwindigkeit und die Gesamtenergie des Kreisels sind bei gegebener Massenverteilung im Kreisel festgelegt. Die Ebene senkrecht zur Schwerpunktsachse schneidet das Trägheitsellipsoid des Kreisels in einem Kreis, was Bedingungen an die Massenverteilung im Kreisel stellt.
Die Bewegung kann vollständig mit dem Sinus und Cosinus ausgedrückt werden.
Anfangsbedingungen
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Ein Kreisel mit der geforderten Massenverteilung kann wie folgt in reguläre Präzession versetzt werden. Die Schwerpunktsachse muss senkrecht zur Präzessionsachse sein, die den geforderten Winkel mit der Senkrechten einschließt. Die Winkelgeschwindigkeit mit gegebenem Betrag halbiert den Winkel zwischen Präzessions- und Schwerpunktsachse. Die Hauptachsen müssen so ausgerichtet werden, dass sich die geforderte Gesamtenergie des Kreisels ergibt und der Winkel zwischen der Schwerpunktsachse und der Horizontalen, die senkrecht zur Präzessionsachse ist, und der Winkel zwischen der Hauptachse mit dem mittelgroßen Hauptträgheitsmoment und der Präzessionsachse übereinstimmen.
Analytische Formulierung
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Im Hauptachsensystem mit 1, 2 bzw. 3-Achsen und zugehörigen Hauptträgheitsmomenten A, B, C, müssen die Schwerpunktskoordinaten s1,2,3 die Bedingung
einhalten. Hier wurde o.B.d.A. A > B > C angenommen. Die raumfeste Standardbasis êx,y,z wird so ausgerichtet, dass die Präzessionsachse â keine x-Komponente aufweist:
mit dem Neigungswinkel
der Präzessionsachse gegenüber der Vertikalen êz und dem Drehwinkel λ des Kreisels um die Präzessionsachse. Die Schwerpunktsachse mit dem Betrag s läuft gemäß
um die Präzessionsachse um. Die Hauptachsen ergeben sich zu
mit der Winkelgeschwindigkeit
Der Parameter
ist konstant und gleich der Winkelgeschwindigkeit um die Präzessionsachse und der Schwerpunktsachse.
Es bedeuten
- m die Masse,
- g die Schwerebeschleunigung,
- λ = ωs t – ε der Drehwinkel,
- t die Zeit und
- ε ein beliebiger konstanter Phasenwinkel.
Bei λ = nπ, n = 0,1,2,… liegt wegen ê2 = (−1)n â die 2-Achse auf der Präzessionsachse. Gleichzeitig passiert wegen ŝ = (−1)n êx die Schwerpunktsachse die x-Achse.
Herleitung
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Die Berechnungen benutzen das Hauptachsensystem mit 1-, 2- und 3-Achsen mit Basiseinheitsvektoren ê1,2,3.
Voraussetzungen
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Die Schwerpunktsachse vom Stützpunkt zum Schwerpunkt ist senkrecht auf einem kreisförmigen Schnitt des Trägheitsellipsoids[2]:[3]
vgl. das Hess’sche Pendel, wo die Schnittfigur mit dem MacCullagh-Ellipsoid kreisförmig ist. Von den Identitäten
wird häufig Gebrauch gemacht.
Winkelgeschwindigkeiten
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Wie bei der regulären Präzession ist der Betrag der Winkelgeschwindigkeit und deren Projektion auf die Schwerpunktsachse konstant:
Aus den beiden Gleichungen kann r eliminiert und ein funktionaler Zusammenhang
abgeleitet werden. Die Eulerʹschen Kreiselgleichungen lauten:
Darin sind G1,2,3 die Komponenten der Gewichtskraft. Multiplikation der ersten Kreiselgleichung mit s1, der dritten mit s3 und Addition der resultierenden Gleichungen liefert die Bedingung
Zeitableitung der Konstanten ωs ergibt eine weitere Gleichung zur Berechnung der Winkelbeschleunigungen mit dem Resultat:
Einsetzen von obigem q(p) ergibt eine autonome Differentialgleichung
die gelöst werden kann und mit q(p) die gesuchten Winkelgeschwindigkeiten liefern:
Darin ist , t die Zeit und ε eine Integrationskonstante. Der Übersichtlichkeit halber wird im Folgenden die Abkürzung λ = ωs t – ε benutzt.
Gewichtskraft
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Mit der ersten Kreiselgleichung
kann nun die zweite Komponente der Gewichtskraft ausgerechnet werden:
Sie erfüllt auch die dritte Kreiselgleichung. Die zweite Kreiselgleichung und die konstante Gesamtenergie E liefern zwei Bedingungen
für die Ermittlung der Gewichtskräfte in 1- und 3-Richtung:
Darin ist die Rotationsenergie. Die Gewichtskraft ist konstant, womit ihre Zeitableitung verschwindet:
Die Zeitableitungen der Basisvektoren berechnen sich mit der Winkelgeschwindigkeit gemäß , was die Konsequenz
hat. Einsetzen obiger Komponenten G1,2,3 zeigt, dass ω⊥ = ωs und somit ω = √2 ωs ist. Außerdem gibt es für die Gesamtenergie nur einen möglichen Wert.
Energien
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Die Energien des Kreisels ergeben sich zu
Die Lageenergie schwingt um den Nullpunkt auf Höhe des Stützpunkts und die Rotationsenergie gegenläufig um den konstanten Mittelwert E.
Präzessionsgeschwindigkeit
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Die Gleichungen haben noch zwei freie Parameter ωs und ε, von denen letzterer beliebig ist. Sei λ = 0. Dann lautet die Gewichtskraft im Hauptachsensystem
Sie hat den Betrag m g mit der Masse m und der Schwerebeschleunigung g, was die Winkelgeschwindigkeit
um die Schwerpunktsachse und die Präzessionsachse festlegt.
Präzessionsachse
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Bei einer regulären Präzession rotiert die Drehachse um eine raumfeste Achse, die Präzessionsachse â. Deren Zeitableitung muss verschwinden, so dass analog zur Gewichtskraft oben für die Komponenten a1,2,3
gelten muss. Die Achse
erfüllt mit λ = ωs t – ε diese Bedingung. Aus dem Skalarprodukt mit der lotrechten Gewichtskraft
ermittelt sich der Neigungswinkel δ der Präzessionsachse gegenüber der Vertikalen. Wegen
halbiert die Winkelgeschwindigkeit jederzeit den rechten Winkel zwischen der Präzessions- und der Schwerpunktsachse. Die Skalarprodukte zeigen, dass die Drehgeschwindigkeiten um die Präzessionsachse und um die Schwerpunktsachse beide gleich dem Parameter ωs sind.
Hauptachsen
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Die Schwerpunktsachse führt eine Kreisbewegung um die Präzessionsachse â aus und passiert dabei periodisch die x-Achse. Das raumfeste Basissystem {êx, êb = â × êx, â} wird für die Darstellung
- ŝ = cos( λ ) êx + sin( λ ) êb
der Schwerpunktsachse benutzt, wo ŝ der Einheitsvektor in deren Richtung ist. Um diese kreist der Körper, was mit den Basisvektoren {ŝ, ĥ = â × ŝ, â} beschrieben werden kann. Die Basisvektoren
- î = sin( λ ) â + cos( λ ) ĥ
- ĵ = cos( λ ) â – sin( λ ) ĥ
rotieren wie gefordert um ŝ. Die zweite Hauptachse ist senkrecht zur Schwerpunktsachse und liegt bei λ = 0 auf der Präzessionsachse, was ê2 = ĵ impliziert. Die beiden anderen Hauptachsen ergeben sich aus
- s ŝ = s1 ê1 + s3 ê3
- s ê2 × ŝ = s î = s3 ê1 – s1 ê3
in der im Abschnitt #Analytische Formulierung angegebenen Form.
Symmetrische Kreisel
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Die Herleitung und die Formeln sind auch für den schweren symmetrischen Kreisel mit A = B gültig. Dann ist s1 = s2 = 0 und s3 = s, sodass der Schwerpunkt auf der Symmetrie- oder Figurenachse liegt. Die Präzessionsachse â ist wegen tan( δ ) = 0 lotrecht und die dazu senkrechte Schwerpunkts- und Figurenachse ist horizontal. Die Winkelgeschwindigkeit überstreicht wegen
sowohl um die z-Achse als auch um die Figurenachse einen Kegel mit dem Öffnungswinkel 45°. Dieser Spezialfall ist demnach die reguläre Präzession eines Lagrange-Kreisels mit horizontaler Figurenachse bei Gleichheit der Präzessionsgeschwindigkeit und der Eigendrehgeschwindigkeit um die 3-Achse. Mit dem Drehimpuls
wird die Bedingung
- Lz · L3 = Amgs
für die reguläre Präzession mit horizontaler Figurenachse erfüllt.
Bei B = C ergibt sich eine analoge Bewegung mit der 1-Achse als Figurenachse.
Der Fall von Harlamowa
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]E. I. Harlamowa konstruierte eine Lösung der Kreiselgleichungen, die die einzige, dynamisch mögliche Präzession eines unsymmetrischen Kreisels um eine vertikale Achse darstellt. Die Präzessionsgeschwindigkeit ist dort nicht konstant und die Hauptträgheitsmomente müssen die Bedingung C > 2A > 2B einhalten. Die Lösung beschreibt deshalb keinen starren Körper, denn bei dem ist A + B > C. M. P. Guljaev bemerkte, dass ein starrer Körper mit Hohlräumen, die mit einer inkompressiblen idealen Flüssigkeit gefüllt sind, die Bedingung einhalten kann.[Anmerkung 1]
Anmerkungen:
- ↑ Leimanis (1965), S. 116.
Literatur
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]- ↑ Giuseppe Grioli: Existenz und Bestimmung von regelmäßigen, dynamisch möglichen Präzessionsbewegungen eines asymmetrischen schweren Körpers. In: Annali di Matematica Pura ed Applicata. Band 26, Nr. 1. Swets & Zeitlinger, 1947, ISSN 0373-3114, S. 271–281, doi:10.1007/BF02415381 (italienisch, Originaltitel: Esistenza e determinazione delle precessioni regolari dinamicamente possibili per un solido pesante asimmetrico.).
- ↑ a b Eugene Leimanis: The General Problem of the Motion of Coupled Rigid Bodies about a Fixed Point. Springer Verlag, Berlin, Heidelberg 1965, ISBN 978-3-642-88414-6, S. 109 ff., doi:10.1007/978-3-642-88412-2 (englisch, eingeschränkte Vorschau in der Google-Buchsuche [abgerufen am 21. März 2018]).
- ↑ a b K. Magnus: Kreisel: Theorie und Anwendungen. Springer, 1971, ISBN 978-3-642-52163-8, S. 143 (eingeschränkte Vorschau in der Google-Buchsuche [abgerufen am 20. Februar 2018]).