Jacques Roubaud

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Jacques Roubaud, 2010

Jacques Roubaud (* 5. Dezember 1932 in Caluire-et-Cuire bei Lyon; † 5. Dezember 2024 in Paris[1][2]) war ein französischer Schriftsteller, Dichter und Mathematiker. Sein Werk zeichnet sich durch die Vermischung von Poesie und Prosa, Realität und Fiktion, Literatur und Mathematik aus. Zu seinen berühmtesten Werken gehört der Hortense-Zyklus. Dieser besteht aus drei Romanen, von denen der erste, Die schöne Hortense, 1985 in Paris erschien.

Jacques Roubaud war der Sohn eines Lehrerehepaars, Suzanne und Lucien Roubaud und hatte eine Schwester und zwei Brüder. Er verbrachte seine Kindheit zunächst in Carcassonne, wo er einen speziellen Unterricht für Literatur besuchte. Er brach diesen jedoch ab und wechselte anschließend in den Mathematikunterricht. Schon früh interessierte er sich für die Poesie und das Sonett. Bereits im Alter von zwölf Jahren schrieb er seine ersten surrealistisch inspirierten Gedichte, die 1945 unter dem Titel Poésies juvéniles veröffentlicht wurden. Seine zweite Gedichtesammlung Voyage du soir erschien 1952.

Nach dem Zweiten Weltkrieg studierte Roubaud Mathematik am Institut Henri Poincaré in Paris. Hier begegnete er Pierre Lusson und er besuchte Kurse von Gustave Choquet, Laurent Schwartz und Claude Chevalley, die ihn sehr beeindruckten. Auf Empfehlung von Raymond Queneau trat Roubaud 1966 der Gruppe Oulipo (Ouvroir de litérature potentielle) bei. Gemeinsam mit Paul Braffort gründete er das Atelier de Littérature Assistée par la Mathématique et les Ordinateurs (ALAMO). Zu den zahlreichen Künstlern, mit denen Roubaud zusammengearbeitet hat, zählen u. a. Georges Perec, Florence Delay, Paul Fournel, Michel Deguy und der Komponist François Sarhan.[3] Als Professor lehrte Jacques Roubaud Mathematik an der Université Paris X Nanterre und in den 90er Jahren formale Poetik an der École des Hautes Études en Sciences Sociales, EHESS.

Bekannt wurde Jacques Roubaud für seinen 1985 in Paris erschienenen Roman Die schöne Hortense. Es ist der erste von drei Romanen, die von der Heldin Hortense handeln, welche auch die Namensgeberin für die beiden weiteren Romane ist: Die Entführung der Hortense und Das Exil der schönen Hortense. Es handelt sich dabei um Kriminalromane. Zum einen geht es um das Geheimnis der poldevischen Katze Alexandre Vladimirovitch sowie um die Verführung der Hortense durch den poldevischen Prinzen Morgan, zum anderen aber auch um die Aufklärung des Falles des „Schreckens der Haushaltswarenhändler“.

Literatur und Mathematik: OuLiPo

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Jacques Roubaud und die Zahlen

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Jacques Roubaud hatte schon als Kind eine Leidenschaft für Zahlen und für die Mathematik. Zahlen hatten für ihn eine symbolische Bedeutung und er brachte sie mit persönlichen Ereignissen in Verbindung.[4] Man kann sogar sagen, dass ohne Berücksichtigung des mathematischen Charakters eine Analyse der Werke Roubauds nur einseitig und damit unvollständig sein kann.[5]

Roubaud war ein Spezialist für Poesie. Für ihn bedeutete Poesie: Zahl und Rhythmus, Form und Formel. Lyrik artikuliert sich über Versmaß, Reim, Strophenform und eine oftmals subtile Kombinatorik von Lauten, Buchstaben, Wörtern. Genau dies hatten die Troubadours in die „modernen“ Sprachen des Abendlandes eingeführt, genau darin besteht ihr Erbe, etwa in der von Roubaud besonders geschätzten Gattung des Sonetts. Roubaud war ein sehr produktiver Dichter, ein „poeta doctus“, der mit der spätantik-mittelalterlichen Tradition der artes liberales, der freien Künste, vertraut war, in denen literarische und mathematische Kultur noch ein gemeinsames Haus bewohnten.[6]

„Es gibt ein natürliches Verhältnis zwischen der Poesie und den Zahlen. Diese Tradition geht auf Pythagoras zurück und hat sich bis ins Mittelalter fortgesetzt. Viele alte Texte sind auf der Ziffer aufgebaut, die man versteckt; auf der Zahl, die als Struktur dient. Die Zahlen der Griechen waren unendlich viel komplexer als unser arithmetisches System; sie umfassten das Gewicht, die Harmonie, die Person. Von diesem Reichtum haben wir nur die Menge, die Reihenfolge und die Benennung erhalten. Wenn sich mein Roman wirklich als ein Gerüst von Zahlen lesen lässt, so liegt das daran, dass ich, wie Queneau, an die Tradition des verschlüsselten Textes anknüpfen wollte. ... Nehmt nur die Mathematik: ihre angebliche Strenge ist nur in einem Hochsicherheitslabor gültig, wo keine Gefahr besteht, dass das Absurde eindringt. Stellt euch ein entkommenes Theorem vor! Was für eine Katastrophe! Die Mathematiker lassen sich von ihrer Neigung zum Vereinfachen dazu verleiten, pausenlos darüber nachzudenken, wie man das Denken vermeiden könnte.“

Roubaud, Juni 1985, Le Magazine littéraire

Roubauds Leidenschaft für Zahlen und Mathematik ist in zahlreichen seiner Werke deutlich erkennbar. Aufgrund seines Poesiebandes ε, poésie werden Mitglieder der Gruppe OuLiPo auf ihn aufmerksam.[7] Dies ist ein lockerer Zusammenschluss von Schriftstellern, Wissenschaftlern, insbesondere Mathematikern und Künstlern, um Raymond Queneau und Francois Le Lionnais, deren spielerisch-kombinatorische Textproduktion sich an mathematische Ordnungen anlehnt.[8] Sie schaffen sogenannte contraintes (Formzwänge), die jedoch die Produktion des Textes nicht einschränken, sondern im Gegenteil neue Möglichkeiten schaffen sollen.

Roubaud war Erfinder mehrerer contraintes, wie z. B. des Baobab (Affenbrotbaum) und des Haiku oulipien géneralisé (allgemeiner oulipotischer Haiku). Mit Hilfe der contraintes versucht Oulipo den Zufall, d. h. das Unvorhergesehene, Unbekannte in der Produktion eines Textes auszuschalten bzw. so wenig wie möglich dem Zufall zu überlassen. Ein Beispiel für eine contrainte wäre in seinem Roman Fünfundfünfzigtausendfünfhundertfünfundfünfzig Bälle, das er an Zahlen gebunden hat, die regelmäßig im Text auftauchen und in der Zahl gipfeln, die der deutschen Übersetzung ihren Titel gegeben hat.[9] Er war Mitbegründer der Zeitschrift „Change“ und schrieb zusammen mit Octavio Paz und anderen 1971 das erste europäische mehrsprachige Renga-Gedicht. Zudem übersetzte Roubaud japanische und moderne amerikanische Gedichte und Bücher wie Lewis Carrolls The Hunting of the Snark.[10]

Das Leben Jacques Roubauds ist Gegenstand mehrerer seiner Werke. Zum Beispiel:

  • Autobiographie, chapitre dix, poèmes avec des moments de repos en prose. Gallimard, 1977
  • Impératif Catégorique. Seuil, 2008

In deutscher Sprache erschienene Werke (Auswahl)

  • Die schöne Hortense. Übers. Eugen Helmlé. Hanser, München 1989 (La Belle Hortense. Points, Paris 1985)
  • Traktat vom Licht. Übers. Alexandre Métraux. Neue Bremer Presse, Bremen 1989 (Traité de la lumière)
  • Die Entführung der schönen Hortense. Übers. Eugen Helmlé. Hanser, München 1991 (L’Enlèvement d’Hortense)
  • Das Exil der schönen Hortense. Übers. Eugen Helmlé. DTV, München 1994 (L’Exil d’Hortense)
  • Die numerologische Anordnung der Rerum vulgarium fragmenta. Übers. Peter Geble. Plasma, Berlin 1997 (La disposition numérologique du Rerum vulgarium fragmenta)
  • Etwas Schwarzes. Gedichte. Übertr. Brit Bartel, Mitarb. Carla A. Rösler, Rainer Schedlinski. Zeichnungen Michael Voges. Galrev, Berlin 2000 (Quelque chose noir)
  • Stand der Orte. Gedichte. Übers. Ursula Krechel. Wunderhorn, Heidelberg 2000 (La forme d’une ville change plus vite, hélas, que le cœur des humains)
  • 55555 Bälle. Übers. Elisabeth Edl. Hanser, München 2003 (La dernière balle perdue)
  • Der verwilderte Park. Erzählung. Übers. Tobias Scheffel. Wagenbach, Berlin 2010, ISBN 978-3-8031-3227-7 (Parc sauvage, récit)

Nur in französischer Sprache erschienene Werke (Auswahl)[11]

  • Voyage du soir, Seghers, coll. P.S., 1952.
  • Renga (en collaboration avec Octavio Pas, C. Tomlison, E. Sanguinetti), poésie, Gallimard, 1971
  • Graal Fiction, Gallimard, 1978
  • La bibliothèque oulipienne, En collaboration avec Paul Fournel, 3 vol., Seghers, 1987–1990
  • Le Grand Incendie de Londres, récit avec incises et bifurcations, Seuil, 1985–1987, 1989
  • La Princesse Hoppy ou le Conte du Labrador, Hatier, 1990
  • La boucle, Seuil, 1993
  • Poésie : récit, Seuil, 2000
  • Graal théâtre, Gallimard, 1997
  • Graal théâtre, Gallimard, 2005
  • Vincent Landel: Jacques Roubaud, in Verena von der Heyden-Rynsch, Hg.: Vive la littérature! Französische Literatur der Gegenwart. Hanser, München 1989, S. 165f., mit Foto (Übers. aus: Le Magazine Littéraire, Juni 1985, Übers. Kristian Wachinger)

Einzelnachweise

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  1. Le poète mathématicien Jacques Roubaud en 2014 dans “Télérama” : “L’Oulipo, c’était à la fois très sérieux et un peu dingue”. In: telerama.fr. 5. Dezember 2024, abgerufen am 5. Dezember 2024 (französisch).
  2. Jacques Roubaud, poète et mathématicien des mots, est mort. In: lemonde.fr. 5. Dezember 2024, abgerufen am 6. Dezember 2024 (französisch).
  3. Roubaux bei der ETHZ@1@2Vorlage:Toter Link/www.lit.ethz.ch (Seite nicht mehr abrufbar, festgestellt im April 2018. Suche in Webarchiven)  Info: Der Link wurde automatisch als defekt markiert. Bitte prüfe den Link gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis.
  4. Elvira Laskowski-Caujolle: Die Macht der Vier: Von der pythagoreischen Zahl zum modernen mathematischen Strukturbegriff in Jacques Roubauds oulipotischer Erzählung "La princesse Hoppy ou le conte du Labrador". Peter Lang / Artefakt, Bern 1999, S. 55
  5. Elvira Laskowski-Caujolle: Die Macht der Vier: Von der pythagoreischen Zahl zum modernen mathematischen Strukturbegriff in Jacques Roubauds oulipotischer Erzählung "La princesse Hoppy ou le conte du Labrador". Peter Lang / Artefakt, Bern 1999, S. 17.
  6. Jürgen Ritte: Die Freiheit des Dichters. Zu Jacques Roubaud. (Memento vom 25. September 2021 im Internet Archive) 12. Internationale Frühjahrsbuchwoche, München, März 2001
  7. Elvira Laskowski-Caujolle: Die Macht der Vier: Von der pythagoreischen Zahl zum modernen mathematischen Strukturbegriff in Jacques Roubauds oulipotischer Erzählung La princesse Hoppy ou le conte du Labrador, Peter Lang / Artefakt, 1999; S. 115.
  8. Zeitschrift für französische Literatur, Band 117–118, Hg. Akademie der Wissenschaften und der Literatur, Mainz. Franz Steiner, Stuttgart 2007 ISSN 0044-2747 (Print)
  9. Christoph Vormweg: Der lange Arm des Todes. In: Deutschlandfunk. 19. Dezember 2003, abgerufen am 18. November 2020 (deutsch).
  10. Jacques Roubaud. Archiviert vom Original am 29. Januar 2020; abgerufen am 5. Dezember 2024.
  11. Jacques Roubaud. Abgerufen am 18. November 2020.