Karlgren-Li-Rekonstruktion des Mittelchinesischen
Die Karlgren-Li-Rekonstruktion des Mittelchinesischen ist eine Darstellung der Laute des Mittelchinesischen ausgearbeitet von Bernhard Karlgren und 1971 überarbeitet von Li Fang-Kuei, indem er eine Anzahl geringfügiger Mängel behoben hat.
Quellen für das Mittelchinesische
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Das Qieyun-Reimwörterbuch wurde 601 von Lu Fayan als Leitfaden für korrekte Aussprache entwickelt, insbesondere für das Lesen klassischer Texte. Das Wörterbuch teilte die Schriftzeichen nach den Vier Tönen auf, die in 193 Reime und anschließend in homophone Gruppen eingeteilt sind. Die Aussprache jeder homophonen Gruppe wird durch eine Fanqie-Formel angegeben, einem Paar von gebräuchlichen Schriftzeichen, die jeweils respektive den An- und Auslaut der Silbe anzeigen. Lu Fayan's Werk hatte einen sehr großen Einfluss und führte zu einer Serie von erweiterten und korrigierten Versionen, die derselben Struktur folgten, von denen das wichtigste das Guangyun (1007–1008) ist. Das Qieyun wurde bis zur Mitte des 20. Jhs für verlorengegangen gehalten und die Gelehrten arbeiteten auf Grundlage des Guangyun. Glücklicherweise fand man später heraus, dass das Guangyun das phonologische System des Qieyun ohne signifikante Änderungen bewahrt hat. Der Qing-Dynastie-Gelehrte Chen Li analysierte die Fanqie-Rechtschreibung des Guangyun und bestimmte welcher Anlaut- und Auslaut-Schriftzeichen dieselben Laute repräsentieren und zählte dadurch die Anlaute und Auslaute des zugrundeliegenden Systems auf. Diese Methode gab allerdings dennoch keinerlei Hinweis auf die Aussprache derselben.[1][2]
Eine Reihe Reimtafeln aus der Song-Dynastie umfasste eine ausgeklügelterere Analyse, obwohl die Sprache sich veränderte hatte seit der Zeit des Qieyun. Die Anlaute wurden identifiziert und kategorisiert nach Artikulationsort und Artikulationsart. Auslaute wurden in 16 Reimklassen (攝 shè) unterschieden. Innerhalb jeder Reimklasse wurden die Silben als entweder „offen“ (開, kāi) oder „geschlossen“ (合, hé) klassifiziert, je nachdem zu welchem der vier Töne und je nachdem zu welcher der vier Abteilungen (等, děng) sie gehören, was durch die Zeilen der Tafel angezeigt wird. Die Qing-Philologen fanden heraus, dass einige der Auslaute der Reimwörterbücher stets in der ersten Reihe, einige stets in der zweiten und einige stets in der vierten Reihe standen und sie demzufolge „Auslaute der respektive I., II. und IV. Abteilung“ genannt wurden. Die restlichen Auslaute verteilten sich über die zweite, dritte und vierte Reihe und wurden später „Auslaute der III. Abteilung“ genannt.[3][4]
Karlgrens Rekonstruktion
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Karlgren glaubte, dass das Qieyun-System (vertreten durch das Guangyun) die Standardsprache der Hauptstadt Chang’an (heute Xi’an) der Sui- und Tang-Dynastie darstellte, das sich über das gesamte Kaiserreich erstreckte mit Ausnahme von Fujian. Er suchte die Laute dieses „historischen Chinesisch“ (Englisch: „Ancient Chinese“) (heute Mittelchinesisch genannte) zu ergründen, indem er die Komparative Methode auf Daten, die er in modernen Dialekten sowie Aussprachen chinesischer Lehnwörter in anderen Sprachen gesammelt hatte, anwendete. Seit der Entdeckung einer frühen Abschrift des Qieyun 1947 glauben die meisten Gelehrten, dass das Wörterbuch eine Kombination von Lesungsaussprachestandards der Hauptstädte der späten südlichen und nördlichen Dynastie-Periode darstellen.[4]
Karlgrens Transkription umfasste eine große Anzahl Konsonanten und Vokale, viele davon äußerst ungleich verteilt; dergestalt, dass er Phonemanalyse für eine „Wahnidee“ hielt. In einigen wenigen Fällen war er nicht in der Lage die Aussprachen historischer (mittelchinesischer) Auslaute zu unterscheiden und gab ihnen daher identische Transkriptionen.[5] Seine Notation auf Grundlage von Johan August Lundells schwedischem Dialektalphabet wurde ausgehend von seinem Buch Études sur la phonologie chinoise (1915–1926; Deutsch: Studien über die chinesische Phonologie) bis hin zu seinem Compendium of Phonetics in Ancient and Archaic Chinese (1954; Deutsch: Kompendium der Phonetik im Mittel- und Altchinesischen) mehrfach abgeändert/überarbeitet.[6][7][8] Dieselbe Notation wurde in seiner Grammata Serica Recensa (1957) verwendet, einem Wörterbuch des Mittel- und Altchinesischen, dass das Standardreferenzwerk geblieben ist, auch wenn Karlgrens Rekonstruktion des Altchinesisch durch jene von u. a. Li Fang-Kuei und William Baxter überholt ist.[9][10]
In den frühen 1970ern verwendete Li Fang-Kuei eine geänderte Fassung von Karlgrens Transkription als Ausgangspunkt für seine eigene Rekonstruktion der altchinesischen Phonologie. Li thematisierte einige seiner Kritikpunkte an Karlgrens System, revidierte einige Anlaute und unterschied Auslaute, die Karlgren zusammengefasst hatte.[11] Obwohl Karlgrens Sicht des Mittelchinesischen als eine singuläre gesprochene Varietät nicht länger breit vertreten wird, wird seine von Li überarbeitete Transkription noch stets weithin als Notation für die Qieyun-Kategorien genutzt.[12]
Anlaute
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Li ersetzte Karlgrens umgedrehten Apostroph als Zeichen für Aspiration einfachheitshalber durch den Buchstaben h (vgl. auch: Internationales Phonetisches Alphabet (IPA) ab 2005 bzw. Liste ehemaliger IPA-Zeichen). Während Karlgren ursprünglich die stimmhaften Plosiv-Anlaute als aspiriert rekonstruiert hatte, behandelte Li sie als nichtaspiriert. Li gestaltete auch Karlgrens alveolare Dentale zu Retroflexlauten um, unter Berufung auf eine ähnliche Verteilung bei den retroflexen Affrikaten.[13]
Anlaute trad. Bez. |
Anmerkungen | |||||
---|---|---|---|---|---|---|
幫 p- | 滂 ph- | 並 b- | 明 m- | |||
端 t- | 透 th- | 定 d- | 泥 n- | 來 l- | nur Abt. I und IV | |
知 ṭ- | 徹 ṭh- | 澄 ḍ- | 娘 ṇ- | Retroflexe, nur Abt. II | ||
精 ts- | 清 tsh- | 從 dz- | 心 s- | 邪 z- | Abt. I, III u. IV | |
莊 tṣ- | 初 tṣh- | 崇 dẓ- | 生 ṣ- | Retroflexe, nur Abt. II | ||
章 tś- | 昌 tśh- | 船 dź- | 日 ńź- | 書 ś- | 禪 ź- | Alveolopalatale, nur Abt. III |
見 k- | 溪 kh- | 羣 g- | 疑 ng- | 曉 x- | 匣 ɣ- | |
影 ·- | 云 j- | 以 ji- | zentrierter Punkt (·) = stimmloser glottaler Plosiv |
Die meisten Gelehrten glauben heute (2013), dass die Anlaute dź- und ź- in den Reimtafeln auswechselbar waren, zu einem Zeitpunkt, wo sie bereits zusammengefallen waren.[14]
Vokale
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Karlgren verwendete eine Auswahl Vokalsymbole aus dem Schwedischen Dialekt-Alphabet, hier durch IPA-Äquivalente dargestellt, wo sie abweichen:[15]
ungerundet | gerundet | |||
---|---|---|---|---|
vordere | zentrale | hintere | hintere | |
offen | i | u | ||
oben Mitte | e | o | ||
Mitte | ə | |||
unten Mitte | ä (ɛ) | å (ɔ) | ||
fast-offen | ɛ (æ) | ɐ | ||
offen | a | â (ɑ) |
Ergänzend hierzu kennzeichnet [ậ] eine kürzere (oder zentralere) Variante des [â], während [ă, ĕ und ə̆] kürzere Varianten von [a, e and ə] kennzeichnen.
Auslaute
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Karlgren unterteilte die Abteilung-III-Auslaute in zwei Gruppen:[16]
- Auslaute Typ-α (gemischte) können in Reihen 2, 3 und 4 der Reimtafeln auftreten mit beliebigen Anlauten.
- Auslaute Typ-β (reine) können nur in Reihe 3 der Reimtafeln auftreten und nur mit Anlaut-Labial, -Velar oder -Laryngal. Diese Auslaute bedingten auch die Labiodentalisierung im Spät-Mittelchinesischen.
Li nahm einige Änderungen vor, um Beschränkungen von Karlgrens System abzuhelfen:
- Er ersetzte Karlgrens -i̯- durch das geeignetere und konventionellere -j-.
- Wo Karlgren ein Reimpaar als -i kombiniert hatte, unterschied Li dies in -i und -ï.
- Ähnlich wurden Reimpaare, die zunächst als -ai aufgefasst wurden, zu -ai und -aï.
- Karlgren war auch nicht in der Lage die sogenannten chóngniǔ Doubletten der Abteilung-III-Auslaute zu unterscheiden, die er als Auslaute Typ-α Abt. III behandelte. Li führte die Umschreibung (Englisch: spelling) -ji- für Auslaute ein, die in der vierten Reihe der Reimtafeln auftreten und reservierte -j- für jene in der dritten Reihe.
Diese sind jedoch nur als Notationsinstrument (Platzhalter) zu sehen denn als Aussprachevorschläge.[17]
Karlgrens Schreibweise für offene Auslaute, die im ebenen, steigenden und abgehenden Ton auftreten konnten, sind unten aufgeführt mit den Namen ihrer Guangyun-Reime und nach Reimtafelklasse (攝 shè) gruppiert. Wo ungerundete (kāi) und gerundete (hé) Auslaute in demselben Guangyun-Reim auftreten, kennzeichnete Karlgren letztere durch einen -w--Inlaut. Wo sie auf zwei Guangyun-Reime aufgespalten wurden, kennzeichnete er die gerundeten Auslaute durch einen -u--Inlaut.
Reim klasse |
Abteilung | ||||
---|---|---|---|---|---|
I | II | IIIα | IIIβ | IV | |
果 | 歌戈 -(u)â | 歌戈 -j(u)â | |||
假 | 麻 -(w)a | 麻 -ja | |||
遇 | 模 -uo | 魚 -jwo | |||
虞 -ju | |||||
蟹 | 咍灰 -(u)ậi | 皆 -(w)ăi | 祭 -j(w)(i)äi | 齊 -i(w)ei | |
泰 -(w)âi | 夬 -(w)ai | 廢 -j(w)ɐi | |||
佳 -(w)aï | |||||
止 | 支 -j(w)(i)ĕ | ||||
脂 -(j)(w)i | |||||
之 -ï | 微 -j(w)ĕi | ||||
效 | 豪 -âu | 肴 -au | 宵 -j(i)äu | 蕭 -ieu | |
流 | 侯 -ə̆u | 尤 -jə̆u | |||
幽 -jiə̆u |
Auslaute auf die Nasale -m, -n und -ng konnten im ebenen, steigenden und abgehenden Ton auftreten mit parallelen Auslauten auf -p, -t und -k im eintretenden Ton.
Reim klasse |
Abteilung | ||||
---|---|---|---|---|---|
I | II | IIIα | IIIβ | IV | |
咸 | 談 -âm | 銜 -am | 鹽 -j(i)äm | 添 -iem | |
覃 -ậm | 咸 -ăm | 嚴凡 -j(w)ɐm | |||
深 | 侵 -j(i)əm | ||||
山 | 寒桓 -(u)ân | 刪 -(w)an | 仙 -j(w)(i)än | 先 -i(w)en | |
山 -(w)ăn | 元 -j(w)ɐn | ||||
瑧 | 痕魂 -(u)ən | 臻 -jɛn | 欣文 -j(u)ən | ||
真諄 -j(u)(i)ĕn | |||||
宕 | 唐 -(w)âng | 陽 -j(w)ang | |||
梗 | 庚 -(w)ɐng | 庚 -j(w)ɐng | 青 -i(w)eng | ||
耕 -(w)ɛng | 清 -j(w)äng | ||||
曾 | 登 -(w)əng | 蒸 -jəng | |||
通 | 東 -ung | 東 -jung | |||
冬 -uong | 鍾 -jwong | ||||
江 | 江 -ång |
Anmerkung:
- 嚴 und 凡 sind kaum unterschieden.
Töne
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Der steigende Ton wurde durch einen führenden Doppelpunkt, der abgehende Ton durch einen führenden Bindestrich/Divis/Teilungsstrich gekennzeichnet. Die ebenen und hineingehenden Töne waren nicht gekennzeichnet.
Coblins Überarbeitung
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Weldon South Coblin machte weitere Vereinfachungen, ohne irgendwelche Gegenüberstellungen darzubieten:[18]
- der Anlaut ·- wird als ʔ- geschrieben
- die Vokale ậ und ə̆ werden als ə geschrieben
- der Vokal ĕ wird als e geschrieben
- der Inlaut -u- wird als -w- geschrieben
Einzelnachweise
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]- Fußnoten
- ↑ Norman (1988), S. 24–28.
- ↑ Baxter (1992), S. 33–40.
- ↑ Norman (1988), S. 28–34.
- ↑ a b Baxter (1992), S. 41–43.
- ↑ Baxter (1992), S. 28.
- ↑ Karlgren (1922).
- ↑ Karlgren (1923).
- ↑ Branner (2006), S. 266–267.
- ↑ Karlgren (1957).
- ↑ Schuessler (2009), S. ix.
- ↑ Li (1974–75), S. 224–225.
- ↑ Schuessler (2009), S. 6.
- ↑ Li (1974–75), S. 225.
- ↑ Baxter (1992), S. 52–54.
- ↑ Norman (1988), S. 38–39.
- ↑ Karlgren (1915–1926), S. 140–202, 625–626.
- ↑ Li (1974–75), S. 224.
- ↑ Coblin (1986), S. 9.
Zitierte Werke
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]- David Prager Branner (Hrsg.): The Chinese Rime Tables. Linguistic Philosophy and Historical-Comparative Phonology. [Deutsch: Die chinesischen Reimtafeln. Linguistische Philosophie und historisch-komparative Phonologie] (= Current Issues in Linguistic Theory. Band 271). John Benjamins, Amsterdam 2006, ISBN 90-272-4785-4, Appendix II: Comparative transcriptions of rime table phonology [Deutsch: Anhang II: Vergleichende Transkriptionen von Reimtafel-Phonologie], S. 265–302.
- William H. Baxter: A Handbook of Old Chinese Phonology [Deutsch: Handbuch der Altchinesischen Phonologie]. Mouton de Gruyter, Berlin 1992, ISBN 3-11-012324-X.
- Weldon South Coblin: A Sinologist’s Handlist of Sino-Tibetan Lexical Comparisons [Handliste des Sinologen sino-tibetanischer Lexikvergleiche] (= Monumenta Serica monograph series. Band 18). Steyler Verlag, 1986, ISBN 3-87787-208-5.
- Bernhard Karlgren: The reconstruction of Ancient Chinese [Deutsch: Die Rekonstruktion des Altchinesischen]. In: T'oung Pao. Band 21, 1922, S. 1–42 (Textarchiv – Internet Archive).
- Bernhard Karlgren: Analytic dictionary of Chinese and Sino-Japanese [Deutsch: Analytisches Wörterbuch des Chinesischen und Sino-Japanischen]. Paul Geuthner, Paris 1974, ISBN 0-486-21887-2 (Erstausgabe: 1923).
- Bernhard Karlgren: Études sur la phonologie chinoise [Deutsch: Studien über die chinesische Phonologie] (= Archives d’études orientales. Band 15). E.-J. Brill, Leyden 1926, OCLC 420037798 (Erstausgabe: 1915).
- Bernhard Karlgren: Grammata Serica Recensa. Museum of Far Eastern Antiquities, Stockholm 1957, OCLC 1999753.
- Li Fang-Kuei: Studies on Archaic Chinese [Deutsch: Altchinesisch-Studien]. In: Monumenta Serica. Band 31. Taylor & Francis, Ltd., 1974, S. 219–287, JSTOR:40726172 (englisch, Übersetzt von Gilbert L. Mattos).
- Jerry Norman: Chinese. Cambridge University Press, Cambridge 1988, ISBN 0-521-22809-3.
- Axel Schuessler: Minimal Old Chinese and Later Han Chinese: A Companion to Grammata Serica Recensa [Deutsch: Mindest-Alt- und Spät-Han-Chinesisch]. University of Hawaii Press, Honolulu 2009, ISBN 978-0-8248-3264-3.
Weiterführende Literatur
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]- Göran Malmqvist: Bernhard Karlgren: portrait of a scholar [Deutsch: Bernhard Karlgren: Portrait eines Gelehrten]. Rowman & Littlefield, 2010, ISBN 978-1-61146-000-1.
- Edwin G. Pulleyblank: Middle Chinese: a study in historical phonology [Deutsch: Mittelchinesisch: Studie in historischer Phonologie]. University of British Columbia Press, Vancouver 1984, ISBN 0-7748-0192-1.
- Edwin G. Pulleyblank: “Qieyun” and “Yunjing”. The essential foundation for Chinese historical linguistics [Deutsch: „Qieyun“ und „Yunjing“. Wesentliche Grundlage der chinesischen historischen Linguistik]. In: The Journal of the American Oriental Society. Band 118, Nr. 2, 1998, S. 200–216, JSTOR:605891.