Lieutenant Gustl

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Umschlag der Erstausgabe, 1901

Lieutenant Gustl (in späteren Ausgaben in Folge der Orthographischen Konferenz von 1901 angepasste Titelschreibung Leutnant Gustl) ist eine Novelle von Arthur Schnitzler. Sie wurde von Schnitzler am 23. November 1900 in Breslau öffentlich vorgelesen[1] und einen Monat und zwei Tage später in der Weihnachtsbeilage der Wiener Neuen Freien Presse erstmals gedruckt. 1901 erschien die Buchausgabe mit Illustrationen von Moritz Coschell im S. Fischer Verlag (Berlin).

Der Text ist fast gänzlich als innerer Monolog gestaltet, was als Neuheit in der deutschsprachigen Literaturgeschichte gewürdigt wird; er stellt die Ängste, Obsessionen und Neurosen eines jungen Leutnants der k.u.k. Armee aus der Innenperspektive des Protagonisten dar.

Im Anschluss an ein abendliches Konzert, das er gelangweilt verfolgt hat, gerät der Offizier Gustl an der Garderobe des Konzerthauses wegen einer Nichtigkeit in einen Streit mit dem ihm bekannten Bäckermeister Habetswallner. Der Bäckermeister versucht, Gustls Säbel zu ziehen, und droht ihn zu zerbrechen. Zusätzlich wird Gustl vom Bäckermeister als „dummer Bub“ beschimpft. Die Schmach, von einem gesellschaftlich tiefer stehenden Bäckermeister beleidigt worden zu sein, ohne angemessen reagiert zu haben, vermag Gustl nicht zu verwinden. Dem geltenden Ehrenkodex verhaftet, beschließt er, am nächsten Morgen um sieben Uhr Selbstmord zu begehen, unabhängig davon, ob der Bäckermeister den Vorfall publik machen wird oder nicht.

Auf seinem Weg nach Hause durchquert Gustl den Wiener Prater. Der Duft der ersten Frühlingsblumen lässt ihn in seinem Selbstmordentschluss wanken. Das Bewusstsein, von all diesen schönen Dingen Abschied nehmen zu müssen, entfacht in ihm eine neue Lebenslust. Die Erinnerung an seine Familie, insbesondere seine Mutter und seine Schwester, sowie an diverse aktuelle und verflossene Geliebte versetzt ihn in eine tiefe Betrübnis, die er mit der Feststellung, als österreichischer Offizier zum Suizid verpflichtet zu sein, um seine vermeintlich gekränkte Ehre zu retten, vergeblich zu betäuben versucht.

Er schläft auf einer Parkbank ein und erwacht erst am frühen Morgen. Bevor er nach Hause zurückkehrt, wo er seinen Revolver gegen sich zu richten beabsichtigt, besucht er sein Stammkaffeehaus. Der dort arbeitende Kellner Rudolf berichtet ihm, sein Beleidiger, der Bäcker Habetswallner, sei in der Nacht unerwartet an einem Schlaganfall gestorben. Über alle Maßen erleichtert, nimmt Gustl freudig von seinen Suizidplänen Abstand und ergeht sich in Betrachtungen anstehender Unternehmungen. So wird er sich schon am Nachmittag desselben Tages duellieren – mit dem Gedanken an seinen Kontrahenten endet der Text:

„Dich hau' ich zu Krenfleisch!“

Lieutenant Gustl ist ein Paradebeispiel für die Erzähltechnik des ununterbrochenen inneren Monologs. Schauplatz der Handlung ist ausschließlich Gustls Denken. Daher wird der Akzent auch nicht von einem Erzähler auf bestimmte Aspekte der Handlung gelegt, sondern der Leser muss Gustls Gedanken selbst werten.

Gustl bezieht sein Selbstwertgefühl allein aus der Tatsache, dass er eine Uniform trägt. Er bedauert es, keinen Krieg erlebt zu haben, und verachtet Nichtmilitärs, wie man an seiner groben Behandlung des Bäckers sieht. Als diese Autorität erschüttert wird, scheint Gustl konsequent zu seinen Ehrbegriffen zu stehen. Doch sobald er vom Tod Habetswallners erfährt, vergisst er seinen Vorsatz sofort und ist erleichtert. So wird der Ehrbegriff des k.u.k.-Militärs als äußerlich, hohl und selbstgerecht entlarvt. Dass bürgerliche Zivilisten schon längst gefahrlos den Respekt vor einem jungen, vorlauten Leutnant verlieren können, zeigt außerdem die bröckelnde Fassade des militärischen Selbstbilds.

Viele Gedanken Gustls drehen sich um Frauen, mit denen er Affären hatte. Er ist überzeugt, ungemein attraktiv auf diese Frauen gewirkt zu haben, hat längerfristige Bindungen aber immer abgelehnt, da diese Mädchen („Menscher“) nicht gesellschaftsfähig gewesen seien. Gleichzeitig vertritt der Leutnant einen rüden Antisemitismus, der sich gegen die Juden im Zivilleben und Militär gleichermaßen richtet. Einen Bezugspunkt hierzu bildet die Dreyfus-Affäre, die sich zur selben Zeit in Frankreich abspielte.

Um die Jahrhundertwende pflegte das Militär in Österreich-Ungarn einen Ehrenkodex, der zeittypische Besonderheiten aufwies: So bestand noch bis 1911 die Pflicht für jeden Offizier, einer Duellforderung unbedingt nachzukommen.[2] Schnitzler traf mit seiner Novelle die Schwachstelle dieses Ehrenkodexes, denn „satisfaktionsfähig“, also mit der Waffe zur Rechenschaft zu ziehen, waren nur Adlige, Militärs und Akademiker, da nur sie als ehrbar galten. Gustl, der sich von einem einfachen Bäckermeister bedroht fühlt, kann seine Ehre also nicht mittels eines Duells verteidigen oder zurückerlangen, weshalb er glaubt, seine verlorene Würde nur durch einen Suizid wiederherstellen zu können.

In Zur Physiologie des Schaffens hat Schnitzler die Entstehung systematisiert dargestellt:

„Ein Einfall war da, die Gestalt tritt hinzu, die dazu dient, den Einfall zu illustrieren, und der Einfall tritt im Laufe der Überlegung, eventuell erst im Laufe der Arbeit hinter der Gestalt zurück. („Leutnant Gustl“)“

Arthur Schnitzler: Zur Physiologie des Schaffens[3]

Diesen Einfall benennt er in einem anderen Text, Leutnant Gustl – Äußere Schicksale, der aus dem Nachlass veröffentlicht wurde:

„Geschrieben im Sommer 1900. Reichenau, Kurhaus. Zum Teil nach einer tatsächlich vorgefallen Geschichte, die einem Bekannten von Felix Salten passiert ist, einem Herrn Lasky (?), im Foyer des Musikvereinssaals.“

Arthur Schnitzler: Leutnant Gustl – Äußere Schicksale[4]

Im Tagebuch ist der Schreibvorgang nachvollziehbar:

„27/5 [1900] S.– Mit S. und M. – Puchberg – Baumgartnerhaus — Dort oben Lieutenantgesch skizzirt – nach Payerbach. Wien.–“

„17/7 […] Arbeite: Nilquellen, Lieuten. Gustl.–“

„19/7 […] Nachm. „Ltn. Gustl“ vollendet, in der Empfindung, dass es ein Meisterwerk.“

Arthur Schnitzler: Tagebuch[5]

Als offene Anklage des Militarismus und des Gesellschaftsbildes vom kaiserlichen Offizier erfuhr die Erzählung schon kurz nach ihrer Veröffentlichung harsche Kritik, vor allem von Seiten des Militärs.[6] Sie wurde als Angriff auf die unantastbare Ehre der kaiserlichen und königlichen Armee und somit auf eines der Fundamente der Doppelmonarchie verstanden. Sie goss aufgrund der Person des Autors und des Herausgebers indirekt auch Öl ins Feuer der antisemitischen Hetze. Der jüdische Autor und die „Judenpresse“, angeführt von Moriz Benedikt, dem Chef der Neuen Freien Presse, wurden als Staatsfeinde ausgemacht und gebrandmarkt. Schnitzler, selbst Oberarzt und Leutnant der Reserve, galt als Nestbeschmutzer und wurde infolgedessen von einem Ehrengericht des Offiziersstandes enthoben; er galt fortan nur noch als gewöhnlicher Soldat. Die Neue Freie Presse übte sich in Schadensbegrenzung und lobte in einem Leitartikel die „hervorragenden Eigenschaften des Österreichischen Offizierskorps“.[7] Schnitzler verfasste zu einem nicht genauer bestimmbaren Zeitpunkt eine kurze parodistische Fassung des Texts – Leutnant Gustl. Parodie –, in der er den Antisemitismus der Kritiker satirisch aufs Korn nimmt.[8]

Literaturgeschichtliche Bedeutung

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Die literaturgeschichtliche Besonderheit und Leistung der Erzählung begründet Hartmut Scheible in seiner Schnitzler-Monographie mit der durch die erzähltechnische Ausweitung des inneren Monologs ermöglichten kritischen Darstellung der Einheit von Seelen- und Gesellschaftsleben: Schnitzler, der diese Technik in die deutschsprachige Literatur eingeführt habe, steigere sie im Lieutenant Gustl zu einem Gipfel ihrer Leistungsfähigkeit: „Drei Dutzend Seiten genügen, um ein erstaunlich vollständiges Bild der österreichischen Republik zu entwerfen […]“.[9]

Schnitzlers Novelle wurde 1962 mit Peter Weck in der Hauptrolle, Hans Moser als Bäckermeister Johann Habetswallner sowie Christiane Hörbiger verfilmt.

  • Markus Schwahl: Arthur Schnitzler, Leutnant Gustl/Traumnovelle. Oldenbourg Textnavigator für Schüler – Inhaltsangabe, Analyse des Textes und Abiturvorbereitung. Oldenbourg, München 2011, ISBN 978-3-637-01300-1.
  • Horst Grobe: Arthur Schnitzler: Lieutenant Gustl. Königs Erläuterungen: Textanalyse und Interpretation (Band 463). C. Bange Verlag, Hollfeld 2011, ISBN 978-3-8044-1944-5.
  • Ursula Renner: Lassen sich Gedanken sagen? Mimesis der inneren Rede in Arthur Schnitzlers 'Lieutenant Gustl'. In: Sabine Schneider (Hrsg.): Die Grenzen des Sagbaren in der Literatur des 20. Jahrhunderts. Königshausen & Neumann, Würzburg 2010, ISBN 978-3-8260-4084-9, S. 31–52.
  • Ursula Renner: Dokumentation eines Skandals. Arthur Schnitzlers „Lieutenant Gustl“. In: Hofmannsthal-Jahrbuch 15/2007, S. 33–216. PDF; detaillierte historische Darstellung
  • Ursula Renner: „Lieutenant Gustl zittert vor den Folgen“. Ein Nachtrag. In: Hofmannsthal-Jahrbuch zur europäischen Moderne 18, 2010, S. 139–142. PDF
Wikisource: Leutnant Gustl – Quellen und Volltexte

Einzelnachweise

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  1. Arthur Schnitzler: Tagebucheintrag zum 23. November 1900. In: Tagebuch. 23. November 1900, abgerufen am 6. November 2024.
  2. Später galt diese Pflicht nur noch bei Ehebruch und wenigen weiteren Ausnahmen.
  3. Schnitzler, Arthur: Zur Physiologie des Schaffens. Die Entstehung des ‚Schleiers der Beatrice‘. In: Neue Freie Presse, 25. Dezember 1931, S. 38–39. Online
  4. Deutsches Literaturarchiv Marbach, A:Schnitzler, 85.1.70. Abgedruckt als: Die Wahrheit über ›Leutnant Gustl‹ in der Neuen Freien Presse, 25. 12. 1959, S. 9 u. ö., darunter: Arthur Schnitzler: Lieutenant Gustl. Text und Kommentar. Hrsg. und komm. v. Ursula Renner. Frankfurt/Main: Suhrkamp 2007, S. 57 und Irène Lindgren: „Seh'n Sie, das Berühmtwerden ist doch nicht so leicht!“. Peter Lang 2002, S. 253.
  5. Schnitzler, Arthur: Tagebuch 1879–1931. Herausgegeben von der Kom- mission für literarische Gebrauchsformen der Österreichischen Aka- demie der Wissenschaften, Obmann: Werner Welzig. Wien: Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, 1981–2000.
  6. vgl. Ursula Renner, Dokumentation eines Skandals. Arthur Schnitzlers „Lieutenant Gustl“. In: Hofmannsthal-Jahrbuch zur europäischen Moderne 15/2007, S. 33–216
  7. Werner Mück (Hrsg.): Österreich: das war unser Jahrhundert. Kremayr & Scheriau, 1999, S. 152
  8. Arthur Schnitzler: Leutnant Gustl. Parodie. Abgedruckt in der Ausgabe von Ursula Renner: Dokumentation eines Skandals. S. 50–53. Zur Datierung und Textgeschichte vgl. S. 76f.
  9. Hartmut Scheible: Arthur Schnitzler. mit Selbstzeugnissen u. Bilddokumenten dargest. von Hartmut Scheible. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 1986, ISBN 3-499-50235-6, S. 79 f.