Liber graduum
Liber graduum, auch De gradibus oder Liber de gradibus quos vocant simplicium genannt, ist der Titel eines Buches des Salernitaner Arztes Constantinus Africanus. Der Liber graduum entstand in der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts. Er ist die lateinische Übersetzung und freie Überarbeitung eines arabischen Textes, den der Arzt Ibn al-Dschazzar unter dem Titel Kitāb al-Iʿtimād („Die Zuverlässigkeit der einfachen Heilmittel“) zusammengestellt hatte. Im Jahre 1233 wurde das Kitāb al-Iʿtimād auch von einem „Stephanus von Saragossa“ ins Lateinische übersetzt und trug in dieser Fassung die Titel Adminiculum („Die Stütze“) und Liber Fiduciae („Buch des sicheren Vertrauens“).[2][3]
Quellen des Kitāb al-Iʿtimād
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Ibn al-Dschazzar hatte für das Kitāb al-Iʿtimād u. a. Werke von Dioskurides, Galen, Paulos, Aristoteles (die Steinbücher), Theophrast, Ishaq ibn Imran und Ibn Ğulğul als Quellen benutzt.
Inhalt des Liber graduum
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]In Constantins Text werden 250 bis 280 pflanzliche und mineralische Einzeldrogen in vier Haupt-Kategorien, wie im damaligen Konzept der Humoralpathologie üblich,[4] nach dem Grad ihres Wärme-Kälte-Charakters eingeteilt. Zusätzlich werden sie jeweils mit dem Grad ihres Feuchtigkeits-Trockenheits-Charakters gekennzeichnet und aus diesen Merkmalen wird eine Wirkungsrichtung herausgearbeitet. Aufbauend auf dieser Charakterisierung werden anschließend Heilanzeigen für die Einzeldrogen aufgezählt.
Als Beispiele das Kapitel über die Rose (rosa) und das Kapitel über das Veilchen (viola):
Druckausgabe 1536, S. 344 | Übersetzung |
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Rosa frigida est in primo gradu, sicca in fine secundi. | Die Rose ist kalt im ersten Grad und trocken im Ende des zweiten Grades. |
Subtilem substantiam habet & stipticam. | Sie hat eine feine und adstringierende Substanz. |
Valet stomacho & epati, eius enim oppilationem aperit. | Sie ist gut für den Magen und für die Leber, deren Verschluss sie öffnet. |
Capitis dolorem ex fumo cholerae, vel sanguis usta, & naribus applicata, placat. | Sie lindert den Kopfschmerz, der durch die Ausdünstung von gelber Galle oder durch versengtes Blut entstanden ist, wenn sie über die Nasenlöcher angewendet wird. |
Aqua rosata calorem stomachi, & epatis mitigat. | Das Rosenwasser lindert die Hitze des Magens und der Leber. |
Ex qua capite sepius loto canicies testinatur. | Wenn der Kopf oft damit gewaschen wird, so werden die Haare grau. |
Sirupus rosatus cum aqua rosata dolorem stomachi de calore curat, nec non acumen febris, dolorem intestinorum & cholericas passiones placat. | Rosensirup mit Rosenwasser heilt durch Hitze entstandene Magenschmerzen wie auch die Schärfe des Fiebers, den Schmerz der Därme und Gallenbrechruhr. |
Similiter rhodosaccharum, id est, aqua rosata cocta cum vino iuvat caput. | Gleichermaßen hilft dem Kopf das Rhodosaccharum, das ist mit Wein gekochtes Rosenwasser. |
Aurium & gingivarum dolorem, si os de ea lavetur, aut gargarizetur tollit. | Den Schmerz der Ohren und des Zahnfleisches nimmt es, wenn der Mund damit ausgewaschen oder damit gegurgelt wird. |
Cataplasmata fit contra cholericas hemorrhoidas. | Gegen krampfartige Hämorrhoiden sei es als Umschlag (verwendet). |
Sperma eius pulverizatum putridas gingivas sanat. | Ihr pulverisierter Samen heilt eitrige Zahnfleischentzündungen. |
Cortex potatus sanguinem inferius manantem constringit. | Der Rindenaufguss getrunken zieht das innen verweilende Blut zusammen. |
Oleum roseum bibitum, ventrem humectat, & calorem stomachi refrigerat. | Das Rosenöl getrunken befeuchtet den Bauch und kühlt die Hitze des Magens. |
Cum aceto mixtum, & capiti impositum, dolorem cuiuscunque sit caloris interioris, vel exterioris extirpat. | Mit Essig vermischt und auf den Kopf aufgelegt beseitigt es jeden Schmerz von innerer oder äußerer Hitze. |
Calidum in aurem distillatum calidum apostema sanat. | Warm in das Ohr geträufelt heilt es warme Geschwüre. |
Cum aqua rosata bibitum, dissentericis subvenit. | Mit Rosenwasser getrunken hilft es denen, die an Dysenterie leiden. |
Universaliter etiam valet contra cholerica vulnera, & ea sive interius sive exterius sint, sanat. | Allgemein heilt es Verletzungen durch gelbe Galle, seien sie innerlich oder äußerlich. |
Viola frigida in fine primi gradus, humida in initio secundi. | Das Veilchen ist kalt im Ende des ersten Grades und feucht im Beginn des zweiten Grades. |
Choleram rubeam de stomacho & intestinis purgat, calorem eorum mitigat. | Es reinigt den Magen und die Eingeweide von roter Galle und es lindert die Hitze des Magens und der Eingeweide. |
Potata iuvat pueros suffocationem habentes, pleureticis & pectoris asperitati subvenit. | Getrunken hilft es Kindern, die zu ersticken drohen, lindert Brustfellentzündungen und Rauheit der Brust. |
Naribus applicata dolorem capitis de calidis fumis mitigat. | Durch die Nasenlöcher aufgenommen lindert es durch warmen Rauch entstandene Kopfschmerzen. |
Cataplasmata cum polline hordei, valet contra cholerica apostemata. | Mit Gerstenmehl aufgelegt nutzt es gegen durch gelbe Galle entstandene Geschwüre. |
Sirupus violatus ventrem humectat, tussim de calore mitigat. | Veilchensirup befeuchtet den Bauch und lindert den durch Hitze entstandenen Husten. |
Calorem pectoris & pulmonis sedat, pleuriticis occurrit. | Es senkt die Hitze der Brust und der Lunge und hilft den an Brustfellentzündung Erkrankten. |
Similiter oleum violaceum cum oxysaccharo facit. | Gleiches bewirkt der mit Veilchenöl bereitete Sauerzucker. |
Oleum violaceum choleram & fervorem mitigat totius corporis, maxime capitis. | Das Veilchenöl lindert Cholera und fliegende Hitze im ganzen Körper, besonders aber im Kopf. |
De quo sternutatione provocata somnum provocabitur. | Mit Veilchenöl erzeugtes Niesen bewirkt den Schlaf. |
Druck-Ausgabe des Liber graduum
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]- Constantini Africani post Hippocratem et Galenum, quorum – Graece linguae doctus – sedulus fuit lector, medicorum nulli prorsus, multis doctissimis testibus, posthabendi Opera. Henricus Petrus, Basel 1536, S. 342–387 (Digitalisat)
Literatur
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]- Moritz Steinschneider: Constantinus Africanus und seine arabischen Quellen. In: Virchow’s Archiv für pathologische Anatomie und Physiologie und für klinische Chemie. Band 37, 1866, S. 351–410. (Digitalisat). S. 361–363: De gradibus; S. 396–401: De virtutibus simpl. medicin.
- Moritz Steinschneider: Constantins Liber de gradibus und Ibn al-Gezzars Adminiculum. In: Deutsches Archiv für Geschichte der Medizin und medicinische Geographie. Bands 2, 1879, S. 1–22. (Digitalisat)
- Manfred Ullmann: Die Medizin im Islam (= Handbuch der Orientalistik, 1. Abteilung: Der Nahe und der Mittlere Osten. Ergänzungsband VI, 1). Leiden/Köln 1970, S. 268–269
- Willem Frans Daems: Die Rose ist kalt im ersten Grade, trocken im zweiten. In: Beiträge zu einer Erweiterung der Heilkunst nach geisteswissenschaftlichen Erkenntnissen. Band 25, Nr. 6, (Stuttgart) 1972, S. 204–211
- Johannes Gottfried Mayer: Das ›Leipziger Drogenkompendium‹ (Leipzig, Universitätsbibliothek, Cod. 1224) und seine Quellen ›Circa instans‹, ›Aggregator‹ (Pseudo-Serapion), ›Macer floridus‹ (bzw. ›Älterer deutscher Macer‹), ›Liber graduum‹ (Constantin) und ›Liber iste‹. In: Johannes Gottfried Mayer, Konrad Goehl (Hrsg.): Editionen und Studien zur lateinischen und deutschen Fachprosa des Mittelalters. Festgabe für Gundolf Keil zum 65. Geburtstag (= Texte und Wissen. Band 3). Königshausen & Neumann, Würzburg 2000, ISBN 3-8260-1851-6, S. 207–263, passim, insbesondere S. 216.
- Friedrun R. Hau: Ibn al-Ğazzār (Abū Gaʿfar Aḥmad ibn abī Ḫālid). In: Werner E. Gerabek, Bernhard D. Haage, Gundolf Keil, Wolfgang Wegner (Hrsg.): Enzyklopädie Medizingeschichte. De Gruyter, Berlin / New York 2005, ISBN 3-11-015714-4, S. 461.
Einzelnachweise
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]- ↑ Druck 1536, S. 344
- ↑ Lothar Volger: Der liber fiduciae de simplicibus medicinis des Ibn al-Jazzar in der Übersetzung von Stephanus de Saragossa. Übertragen aus der Handschrift München Cod. lat. 253, Dissertation Berlin 1941 (= Texte und Untersuchungen zur Geschichte der Naturwissenschaften. Band 6). Würzburg-Aumühle 1941)
- ↑ Manfred Ullmann: Die Medizin im Islam (= Handbuch der Orientalistik, 1. Abteilung: Der Nahe und der Mittlere Osten. Ergänzungsband VI, 1). Leiden/Köln 1970, S. 268
- ↑ Vgl. Konrad Goehl: Tradition, Empirie und Paradigmenwechsel. Zu Dominik Groß: Zähne und Zeiten. In: Konrad Goehl, Johannes Gottfried Mayer (Hrsg.): Editionen und Studien zur lateinischen und deutschen Fachprosa des Mittelalters. Festgabe für Gundolf Keil zum 65. Geburtstag. Königshausen & Neumann, Würzburg 2000 (= Texte und Wissen. Band 3), ISBN 3-8260-1851-6, S. 419–427, hier: S. 419.