Mäßigung

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Temperantia von Jacques de Gheyn, 1587, Quelle: Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg

Die Mäßigung oder das Maß bzw. die Maße, die Mäßigkeit (altgriechisch σωφροσύνη sōphrosýne, lateinisch temperantia) ist eine der vier platonischen Kardinaltugenden.

Temperantia-Darstellung, Gerechtigkeitsbrunnen (Frankfurt am Main)
Temperantia-Darstellung, Anna-Seiler-Brunnen, Bern

Der von Platon in die Tugendethik eingeführte griechische Ausdruck σωφροσύνη sophrosyne wurde im Lateinischen mit temperantia (und auch moderatio) übersetzt.

Im Deutschen hat sich keine einheitliche Übersetzung von sophrosyne bzw. temperantia herausgebildet, so dass sich verschiedene Namen mit unterschiedlichen Bedeutungen und Konnotationen finden. Die deutsche Sprache hat kein geeignetes Wort, um „auch nur einigermaßen den Kern und den Umfang des Begriffes temperantia widerzuspiegeln“.[1]

Sophrosyne wird im Deutschen direkt unter anderem mit „Besonnenheit[2], „Mäßigkeit“[3] oder „Beherrschung“[4] übersetzt. Temperantia als Übersetzung von sophrosyne kommt von temperare, dessen erster Sinn sein soll, „aus verschiedenartigen Teilen ein einiges geordnetes Ganzes fügen“ (vergleiche auch englisch temperance).[5]

Dies betont Josef Pieper, um den bejahenden und ganzheitlichen Sinn der Tugend herauszustellen.

Im Deutschen konkurrieren die Ausdrücke „Besonnenheit“ (Olof Gigon), „Beherrschung“ (Nicolai Hartmann), „Selbstbeherrschung“ (Hügli), „Maß“ bzw. „Tugend des Maßes“, „Maßhaltung“ (Arthur F. Utz), „Mäßigkeit“, „Mäßigung“, „Zucht und Maß“ (Josef Pieper) bzw. „Tugend von Zucht und Maß“. Nicolai Hartmann hält durch die Übersetzung mit „Besonnenheit“ die Tugend der sophrosyne „ins falsche Licht gerückt“[6] und zieht den Ausdruck „Beherrschung“ vor. Dieser hat sich aber nicht durchgesetzt. Josef Pieper hält der Übersetzung mit „Mäßigung“ entgegen, dass dieser Ausdruck in einer zu großen Nähe zum Zorn (Mäßigung des Zorns) als bloßer Teilaspekt, eine „fatale […] Nachbarschaft mit der Angst vor jeglichem Überschwang“ und einen „verneinenden Klang“ und Assoziationen wie „Einschränkung, […], Zurückdämmung, […], Zügelung“ mit sich führe.[7] Pieper schlägt stattdessen „Zucht und Maß“ vor, hat sich damit aber kaum durchgesetzt.

Platon postulierte drei Seelenteile (Vernunft, Mut, Begierde) und ordnete jedem Seelenteil eine bestimmte Tugend zu (Vernunft – Weisheit; Mut – Tapferkeit; Begierde [Begehren] – sophrosyne, Besonnenheit/Mäßigung). Diesen drei Tugenden war bei Platon die Gerechtigkeit übergeordnet.[8] Für Platon war die sophrosyne „das harmonische Zusammenspiel zwischen den verschiedenen Ebenen der Seele, genauer zwischen Begierde, Mut und Vernunft“.[9]

Bei Aristoteles ist die sophrosyne die Mitte (Mesotes) – im Sinn eines Optimums – hinsichtlich der Lust (hedoné): sie steht zwischen Empfindungslosigkeit (Stumpfheit) und Zügellosigkeit (Unmäßigkeit, Zuchtlosigkeit). Das Mitte-Halten ist hier, genau wie in Bezug auf den Mut in der Tapferkeit, das Ziel ethischen Verhaltens.

Das Wort »Zedek« (Gerechtigkeit) kommt im 5. Buch Mose 18-mal vor, das Wort »Mischpat« (Recht) 48-mal. Gerechtigkeit ist ein zentrales Anliegen. Es beinhaltet das Streben das auserwählte Volk zu bleiben. Daher sind viele jüdische Bürger Anwälte geworden.[10]

Das Christentum hat sich in seinem Gedankengut stark an die antike Philosophie angelehnt und die Mäßigungsphilosophie der Stoiker in die christliche Ethik übernommen. Mäßigung wird nicht nur als Verzicht verstanden. Die richtige Balance zu finden ist wichtig.[11]

In der Antike galt und in der christlichen Tugendethik gilt die Mäßigung als eine grundlegende menschliche Tugend. Die genaue Bedeutung hängt von dem zugrundegelegten Menschenbild ab. Sie gilt einerseits als bloße „Mindestanforderung“, die dem Charakter eine „moralische[.] Grundlage“ verleihe. Fehle sie, bestehe im Ethos eines Menschen aber „eine Lücke“.[12]

Im Mittelalter sieht Hildegard von Bingen im rechten Maß (lateinisch discretio) die „Mutter aller Tugenden“.[13]

Anderenorts wird betont, dass „Zucht“ nicht mit der Sittlichkeit überhaupt gleichgesetzt werden dürfe.[14]

  • Die Mäßigung ist jene sittliche Tugend, welche die Neigung zu verschiedenen Vergnügungen zügelt und im Gebrauch geschaffener Güter das rechte Maß einhalten läßt. (Katechismus der Katholischen Kirche, Nr. 1809.)
  • Aus Mäßigkeit entspringt ein reines Glück. (Johann Wolfgang von Goethe, Die natürliche Tochter, 1803. 2. Akt, 5. Szene, Hofmeisterin zu Eugenie)
  • Eher alltagssprachlich weise: „Das Maß halten“, statt zu zerreden etc.
  • Aristoteles: Die Nikomachische Ethik. III. Buch, 13-15 - 117b - 119b (, z. B. übersetzt von Olog Gigon. Artemis & Winkler, Düsseldorf, Zürich 2001, S. 131–139 (σωφροσύνη mit "Besonnenheit" übersetzend))
  • Thomas von Aquin: Summa Theologica II-II q. 141-170. [1] (lateinisch, englisch) ("temperantia" und ihre Gegensätze - in Anlehnung an Aristoteles)
  • Nicolai Hartmann: Ethik. - 3. Auflage. - Walter de Gruyter, Berlin 1949, S. 435–439, 443 (in Auseinandersetzung mit Aristoteles)
  • Otto Friedrich Bollnow: Wesen und Wandel der Tugenden. Ullstein, Frankfurt, 1958, S. 89–98 (den Ausdruck "Besonnenheit" bevorzugend)
  • Josef Pieper: Zucht und Maß: Über die vierte Kardinaltugend. 9. Aufl. Kösel, München 1964 = auch in: Josef Pieper: Werke. Bd. 4: Schriften zur Philosophischen Anthropologie und Ethik: Das Menschenbild der Tugendlehre. Meiner, Hamburg 1996, ISBN 3-7873-1224-2, S. 137–197 (Ausführungen in Anlehnung an Thomas von Aquin)
  • Josef Pieper: Das Viergespann – Klugheit, Gerechtigkeit, Tapferkeit, Maß. München 1998, ISBN 3-466-40171-2 (Kurzfassung der Tugenden-Tetralogie, d. h. auch Kurzfassung von Zucht und Maß)
  • Thomas Vogel: Mäßigung. Was wir von einer alten Tugend lernen können. oekom, München 2018, ISBN 978-3-96238-065-6.
Commons: Mäßigung – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien
Wiktionary: Mäßigung – Bedeutungserklärungen, Wortherkunft, Synonyme, Übersetzungen

Einzelnachweise

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  1. Josef Pieper: Zucht und Maß., in: Josef Pieper: Werke. Bd. 4: Schriften zur Philosophischen Anthropologie und Ethik: Das Menschenbild der Tugendlehre. Meiner, Hamburg 1996, ISBN 3-7873-1224-2, S. 137 (138)
  2. Olog Gigon in seiner Übersetzung von Aristoteles: Die Nikomachische Ethik. III. Buch, 13, 117b, Artemis & Winkler, Düsseldorf, Zürich 2001, S. 131; ebd., S. 141 auch mit „Mäßigkeit“ übersetzend
  3. Alfred Dunshirn: Griechisch für das Philosophiestudium. - Wien: Facultas.wuv, 2008, S. 131
  4. So Nicolai Hartmann: Ethik. - 3. Auflage. - Walter de Gruyter, Berlin 1949, S. 436
  5. Josef Pieper: Zucht und Maß., in: Josef Pieper: Werke. Bd. 4: Schriften zur Philosophischen Anthropologie und Ethik: Das Menschenbild der Tugendlehre. Meiner, Hamburg 1996, ISBN 3-7873-1224-2, S. 137 (138)
  6. So Nicolai Hartmann: Ethik. 3. Auflage, Walter de Gruyter, Berlin 1949, S. 436
  7. Josef Pieper: Zucht und Maß., in: Josef Pieper: Werke. Bd. 4: Schriften zur Philosophischen Anthropologie und Ethik: Das Menschenbild der Tugendlehre. Meiner, Hamburg 1996, ISBN 3-7873-1224-2, S. 137 (139)
  8. Vgl. P. Kunzmann; F.-P. Burkard; F. Wiedemann: dtv-Atlas Philosophie München, dtv, 13. Aufl. 2007, S. 43
  9. Hügli, Anton; Poul Lübcke (Hrsg.): Philosophielexikon. - 5. Auflage. - Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 2003: sophrosyne.
  10. Rabbiner Salomon Almekias-Siegl: Sinn für Gerechtigkeit. Die Tora lehrt, dass Richter ohne Ansehen der Person entscheiden sollen. 9. August 2019, abgerufen am 22. Januar 2023.
  11. MÄSSIGUNG - SEHNSUCHT NACH EINER ALTEN TUGEND. 8. März 2019, abgerufen am 22. Januar 2024.
  12. Nicolai Hartmann: Ethik. - 3. Auflage. - Walter de Gruyter, Berlin 1949, S. 436
  13. Vgl. G. Gresser: Medizinische Ethik bei Hildegard von Bingen (Beitrag der Schweizerischen Akademie für Medizin und Ethik) (Memento vom 7. Oktober 2007 im Internet Archive)
  14. Nicolai Hartmann: Ethik. - 3. Auflage. - Walter de Gruyter, Berlin 1949, S. 438