Medinetz
Medinetze (auch Medibüros; Netze und Büros für medizinische Flüchtlingshilfe) sind Nichtregierungsorganisationen, die sich für die medizinische Versorgung von Menschen ohne geregelten Aufenthaltsstatus einsetzen. Dabei vermitteln sie anonym und kostenlos medizinische Hilfe für Migranten ohne Krankenversicherung.[1] Auf politischer Ebene fordern sie einen freien oder niedrigschwelligen Zugang zum Gesundheitssystem oder einen anonymen Krankenschein.[2][3][4]
Arbeitsweise
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]In der Regel arbeiten alle Mitarbeitenden, sowohl die Vermittelnden als auch die Behandelnden, ehrenamtlich. Das Spektrum der Behandelnden reicht von Ärzten und Psychotherapeuten über Krankenpfleger, Hebammen, Physiotherapeuten und Krankengymnasten bis hin zu Heilpraktikern. Vermitteln kann jeder; oft wird diese Aufgabe von Medizinstudierenden übernommen. Dolmetscher helfen oft ebenso ehrenamtlich. Anfallende Kosten, zumeist für Materialien, Medikamente oder aufwendige Operationen, die sich nicht ambulant realisieren lassen, also unter Umständen auch, wenn kostenlos behandelnde Ärzte nicht verfügbar sind, werden durch Spenden finanziert.[5]
Juristischer Hintergrund
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Um die papierlose Menschen vor Abschiebung zu schützen, binden Medinetze oftmals keine Behörden in den Behandlungsprozess ein;[6][7] eine Pflicht zu deren Einbindung besteht nicht, erscheint manchen Ärzten aber ungewohnt. In den letzten Jahren zählen vermehrt auch Einwanderer aus den osteuropäischen EU-Staaten (wie Bulgarien und Rumänien) zur Klientel, die sich zwar in Deutschland rechtmäßig aufhalten dürfen, oft aber nicht krankenversichert sind.[8]
Im Februar 2017 startete im Freistaat Thüringen zudem der Anonyme Krankenschein Thüringen (AKST), bei welchem nicht nur Migranten ohne Aufenthaltsstatus, sondern alle Menschen ohne Krankenversicherung beraten werden und bei Bedarf einen anonymen Krankenschein ausgehändigt bekommen.[9]
Geschichte
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Das älteste Medibüro besteht seit 1994 in Hamburg.[4] 1996 nahm das Büro für medizinische Flüchtlingshilfe Berlin (heute Medinetz Berlin) seine Arbeit auf. 1997 wurde die Medizinische Flüchtlingshilfe Bochum gegründet. In Deutschland bestehen 39 Medinetze und -büros, u. a. auch in München, Düsseldorf, Dresden, Leipzig, Magdeburg, Rhein-Neckar, Göttingen, Mainz, Marburg, Kiel, Lübeck und Rostock. Das jüngste Medibüro ist das in Chemnitz, welches 2019 gegründet wurde.
Gründungsjahr | Name | Ort |
---|---|---|
1994 | MediBüro | Hamburg |
1996[10] | MediBüro (vormals Büro für medizinische Flüchtlingshilfe) | Berlin |
1997 | Medizinische Flüchtlingshilfe | Bochum |
1999 | Medizinische Flüchtlingshilfe | Nürnberg+Fürth (noch als Medizinische Flüchtlingshilfe Nürnberg) |
2003[11] | MediNetz | Bonn |
2005 | MediNetz | Dresden |
2006 | MediNetz (vormals Medizinische Flüchtlingshilfe), als Teil des Arbeitskreises Asyl | Bielefeld |
2007 | MediNetz | Marburg |
2007 | MediNetz Rhein-Neckar e.V. | Rhein-Neckar Region (Mannheim Heidelberg) |
2009 | MediNetz | Ulm |
2009 | MediNetz | Essen |
2009 | MediNetz | Leipzig |
2011 | MediNetz | Jena |
2014 | MediNetz | Halle |
2014 | Medizinische Hilfe | Solingen |
2015 | MediNetz | Aachen |
2016 | MediNetz | Würzburg |
2016 | MediNetz | Koblenz |
2017 | MediNetz | Tübingen |
2019 | MediBüro | Chemnitz |
Bundeskongresse
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Seit 2008 finden sich Vertreter der meisten Medinetze und -büros jährlich zu einem bundesweiten Treffen zusammen und tauschen sich über die aktuelle Situation der medizinischen Versorgung von Migranten ohne Krankenversicherung aus.[1]
Bundeskongress-Nummer | Jahr | Ort | öffentlicher Teil |
---|---|---|---|
1. | 2008 | Bochum | |
2. | 2009 | Freiburg | |
3. | 2010 | Leipzig | |
4. | 2011 | Frankfurt am Main | |
5. | 2012 | Düsseldorf | nein |
6. | 2013 | Hamburg | ja |
7. | 2014 | Göttingen | |
8. | 2015 | Jena | ja |
9. | 2016 | Berlin | ja |
10. | 2017 | Dresden | ja |
11. | 2018 | Kiel | |
12. | 2019 | Würzburg | ja |
Auszeichnungen
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Das Medinetz Dresden wurde 2009 mit dem Sächsischen Förderpreis für Demokratie ausgezeichnet,[12][13] das Medinetz Mainz erhielt 2009 den Helmut-Simon-Preis gegen Armut und soziale Ausgrenzung der Diakonie in Rheinland-Pfalz[14] und das MediNetzBonn 2010 den Integrationspreis der Stadt Bonn, sowie 2021 den Heimatpreis der Stadt Bonn.[15]
Politische Zielsetzung und deren Umsetzung
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Viele Medinetze sehen sich als Übergangsmodell, bis politisch eine Lösung für die medizinische Versorgung von Patienten ohne geregelten Aufenthaltsstatus gefunden wird. Eine solche Lösung sind u. a. anonyme Krankenscheine, wie sie 2016 in Niedersachsen[16], 2017 in Thüringen[17][18], 2018 in Berlin und 2019 in Rheinland-Pfalz jeweils mit Mitteln der Landesregierungen eingeführt worden sind. Zudem wurden 2019 in Leipzig und München sowie 2021 in Bonn Projekte mit Mitteln der Stadt gestartet.
Literatur
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]- Maren Mylius, Wiebke Bornschlegl, Andreas Frewer: Medizin für »Menschen ohne Papiere«: Menschenrechte und Ethik in der Praxis des Gesundheitssystems, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2011, ISBN 386234844X (Vorschau)
- Jakov Gather, Eva-Maria Schwienhorst: Medinetz Mainz e.V. – Medizinische Vermittlungsstelle für Flüchtlinge, Migrant/inn/en und Menschen ohne Papiere, in: Éva Rásky (Hrsg.): Gesundheit hat Bleiberecht: Migration und Gesundheit, Festschrift zum Anlass des 10-jährigen Bestehens des Ambulatoriums Caritas Marienambulanz in Graz, Facultas, Wien 2009, ISBN 3708903757, S. 330–339
Weblinks
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]- Internetseite der deutschen Medibüros, Medinetze und Medizinischen Flüchtlingshilfen
- Gesundheit für Geflüchtete. Informationsportal von Medibüros/Medinetzen
- Anna Kühne: Migranten ohne Aufenthaltsstatus – kein Recht auf Gesundheit?, Ärzteblatt Sachsen 3/2013
Einzelnachweise
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]- ↑ a b Treffen der Medinetze in Leipzig – Medizinische Versorgung von Menschen ohne legalen Aufenthaltsstatus ( vom 25. August 2014 im Internet Archive), Sächsische Landesärztekammer, 2010
- ↑ Andreas Wiesner, Sandra Schmidt, Vera Bergmeyer, Ute Bruckermann: Gesundheitsversorgung von papierlosen Menschen in Bremen. Ergebnisse einer Umfrage bei Arztpraxen im Land Bremen, Medinetz Bremen (Hrsg.), Gesundheitsamt Bremen 2008
- ↑ Vera Dudik: Zehn Jahre Hilfe in Bonn: MediNetz fängt Flüchtlinge auf, General-Anzeiger Bonn, 25. November 2013
- ↑ a b Ilka Kreutzträger: Unerwünscht gleich unversorgt, Serie Flüchtlingsleben (III), Taz Nord, 9. Dezember 2011
- ↑ Jonas Tauber: Medizinische Hilfe für „Illegale“, Ärzte Zeitung, 19. Juni 2012
- ↑ Moritz Heiser: Medinetz Ulm: Arbeit in rechtlicher Grauzone, Stuttgarter Zeitung, 16. August 2010
- ↑ Das Mainzer Medinetz: Studenten kümmern sich um Kranke ohne Papiere, Jetzt-Magazin, 11. Dezember 2007
- ↑ Irmela Heß: Medinetz Mainz: Ein Arzt kommt auch zu Patienten ohne Papiere, Rhein-Zeitung, 21. März 2012
- ↑ Anonymer Krankenschein Thüringen. Abgerufen am 14. Oktober 2020.
- ↑ Medibüro Berlin: Über uns
- ↑ Menschenrechtsinitiative MediNetzBonn ( vom 2. April 2015 im Internet Archive)
- ↑ Rückblick 2009: Interview mit "Medinetz Dresden", Website des Sächsischen Förderpreises für Demokratie
- ↑ Medinetz Dresden e.V. erhält den Sächsischen Förderpreis für Demokratie 2009 ( vom 30. Januar 2016 im Internet Archive), Technische Universität Dresden, 12. November 2009
- ↑ Michael Heinze: Zeichen gegen Stigmatisierung ( vom 12. Dezember 2013 im Internet Archive), Allgemeine Zeitung Mainz, 28. Januar 2009
- ↑ Frank Vallender: Bonner Integrationspreis für Medinetz, General-Anzeiger Bonn, 26. August 2010
- ↑ Clearingstelle für Gesundheitsversorgung Hannover. Gesundheit ein Menschenrecht, 1. April 2021, abgerufen am 8. März 2023.
- ↑ Der anonyme Krankenschein ( vom 18. April 2017 im Internet Archive)
- ↑ Anonymer Krankenschein Thüringen – Medizinische Versorgung von Menschen ohne Krankenversicherung. Abgerufen am 8. März 2023 (deutsch).