Mizrachim

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Mizrachim, auch Mizrachen oder in eingedeutschter Schreibung Misrachim[1] bzw. Misrachen (hebräisch מִזְרָחִים, Plural von Mizrachi, deutsch Orientale), in Israel auch als Adot ha-Mizrach („Gemeinden des Ostens, des Orients“) bezeichnet, ist der gebräuchliche hebräische Name für aus Asien und Afrika und besonders aus dem Nahen Osten stammende jüdische Bevölkerungsgruppen oder Personen, der sich inzwischen auch in anderssprachigen Literaturen durchsetzt.

Zu den Mizrachim zählen insbesondere die Juden der arabischen Welt und anderer muslimischer Länder wie die persischen, bucharischen, kurdischen Juden sowie die indischen Juden, die Bergjuden aus dem Kaukasus und die Juden aus Georgien. Zuweilen werden die Mizrachim als Sepharden bezeichnet, da sich Jahrhunderte lang sephardische mit orientalisch-jüdischen Siedlungsräumen überschnitten und zudem in Israel die mizrachischen Gemeinden dem sephardischen Oberrabbinat zugeordnet sind.

Das Denkmal zur Vertreibung und Flucht der Juden aus arabischen Ländern und dem Iran, auf der Scherower-Promenade in Jerusalem (2021)

Bezeichnung und Herkunft

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Die Bezeichnung „Mizrachim“ entspringt dem israelischen Sprachgebrauch. Vor der Errichtung des Staates Israel wurde sie in diesem Sinne, also für die orientalischen Juden, nicht verwendet, sondern war eine Selbstbezeichnung der Misrachi-Aktivisten, einer 1902 in Wilna von Isaac Jacob Reines gegründeten religiös-zionistischen Bewegung. Das israelische Zentralbüro für Statistik definiert Mizrachim als „aus Asien und Afrika stammende“ Jüdinnen und Juden.[2] Die jüdischen Bewohner Palästinas in präzionistischer Zeit waren überwiegend Mizrachim und Sepharden.

Viele Mizrachim identifizieren sich mit ihrem Geburtsland bzw. dem ihrer Vorfahren und nennen sich entsprechend – so die irakischen, marokkanischen, persischen Juden. In Israel nennen sie sich oft schlicht Irakis, Marokkaner, Perser etc. Hingegen ist die Bezeichnung als arabische Juden weniger gebräuchlich, und „jüdische Araber“ kommt fast gar nicht vor.

Viele arabische Mizrachi-Gemeinden sprachen judäo-arabische Mundarten, wie das heute noch als Zweitsprache vorkommende Moghrabi der marokkanischen Juden. Andere Mundarten der Mizrachim sind Judäo-Persisch, Judäo-Georgisch, Judäo-Tadschikisch (Bucharisch), Judäo-Berberisch, Juhuri und Judäo-Aramäisch.

Die meisten der zahlreichen bedeutenden philosophischen, religiösen und literarischen Werke der Mizrachim im Mittelalter wurden auf Arabisch (mit einem an die arabische Phonetik angepassten hebräischen Alphabet) verfasst.

Je nach dem Grad ihrer Assimilation und Integration in die seit dem 19. Jahrhundert neu entstehenden Stadtviertel (außerhalb der traditionellen Judenviertel) und sozialen Schichten und damit in die nicht jüdischen Milieus der Umgebung sprachen sie auch die arabischen Mundarten der Bevölkerungsmehrheit bzw. Hocharabisch, Türkisch, Persisch etc. und mitunter, aufgrund der europäischen Präsenz in der Kolonialzeit, der Rolle des Französischen als internationale Bildungssprache und der Schulgründungen der Alliance Israélite Universelle auch Französisch und Englisch.

Auch das Hebräische spielte eine gewisse Rolle im Schrifttum und der Synagoge.

Geschichte nach 1948

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Die meisten Mizrachim verließen ihre überwiegend muslimisch geprägten Geburtsländer nach der Ausrufung des Staates Israel. Zionistische Abgesandte hatten zudem im Vorfeld durch gezielte Werbung, hebräische Sprachkurse und Ähnliches die bei den Mizrachim nur schwach ausgeprägte Bereitschaft verstärkt, die Heimat zu verlassen und sich dem zionistischen Projekt anzuschließen. Auswanderung z. B. aus dem Irak erfolgte eher nach Großbritannien, Indien, Persien, Südafrika etc. Doch antijüdische Maßnahmen arabischer Regierungen in den 1950er und 1960er Jahren, z. B. die Vertreibung von 25.000 Juden aus Ägypten in der Suez-Krise 1956, machten zahlreiche Mizrachim zu Flüchtlingen, von denen die meisten unkompliziert Zuflucht in Israel fanden. Im Irak hatten illegale zionistische Gruppen sich 1949 so weit organisiert, dass es gelang, monatlich rund 1000 Juden ins Ausland zu schmuggeln. In der Hoffnung, den Abfluss von Vermögenswerten aus dem Land zu stoppen, erließ die irakische Regierung im März 1950 ein Gesetz, das die Registrierung zur Emigration vorübergehend genehmigte. Nach anfänglichem Zögern beschloss die israelische Regierung, eine Luftbrücke einzurichten, über die in wenigen Monaten rund 100.000 Personen über den Iran und Zypern nach Israel ausgeflogen wurden. Die Bereitschaft zur Auswanderung wuchs aufgrund von Unruhen und mehreren Bombenanschlägen (u. a. auf die Masuda-Schemtob-Synagoge). Die Vermögen der Emigranten wurden eingefroren.

Algerische Juden besaßen seit dem Décret Crémieux von 1870 die französische Staatsbürgerschaft, weshalb die meisten von ihnen infolge des Algerienkrieges ins französische Mutterland zogen. Nach den Pogromen von Oujda und Jerada begannen marokkanische Juden 1948 ihr Land zu verlassen; die Mehrheit zog jedoch erst in den 1960er Jahren nach Frankreich, Kanada und Israel. Auch Tausende Juden aus Syrien und Ägypten leben heute in den Vereinigten Staaten.

Im Jahr 2012 lebten noch mehr als 40.000 Mizrachim in Gemeinden der nicht-arabischen muslimischen Welt, hauptsächlich im Iran, aber auch in Usbekistan, Aserbaidschan und der Türkei.[3] Von den in der arabischen Welt Verbliebenen leben mehr als 5.000 in Marokko und weniger als 2.000 in Tunesien, in anderen Ländern jeweils weniger als 100. Gegenwärtig ist eine Auswanderung hauptsächlich nach Israel und in die USA zu verzeichnen. Die Angaben über die Situation der iranischen Juden sind widersprüchlich, da die islamisch ausgerichtete Regierung des Iran Christen und Juden als Angehörige einer „Buchreligion“ toleriert, diese aber auch als ideologische Gegner einschätzt. Während einheimische Juden von einem weitgehend friedlichen Miteinander der Religionen berichten, weisen israelische Quellen auf gelegentliche antisemitische Übergriffe hin.[4]

In den arabischen Ländern 1948–2008

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Im Jahr 1948 existierten jüdische Gemeinden noch in der gesamten arabischen Welt. Die gesamte jüdische Bevölkerung umfasste etwa 758.000 bis 881.000 Personen (siehe Tabelle). Heute sind es weniger als 8.600. In einigen arabischen Staaten, wie etwa Libyen, gibt es praktisch keine Juden mehr; in anderen Ländern verbleiben noch einige Hundert.

Jüdische Bevölkerung der arabischen Länder: 1948, 1972, 2000 und 2008
Land oder Gebiet jüdische
Bevölkerung
1948
jüdische
Bevölkerung
1972
jüdische
Bevölkerung
2001[5]
jüdische
Bevölkerung
2008
Aden 8.000[6] ~0 ~0
Ägypten zwischen 75.000[6] und 80,000[7] 500 ~100 100 im Jahr 2006[8]
Algerien 140.000[6][7] 1.000[9] ~0 ~0
Bahrain zwischen 550 und 600[10] 36 etwa 50[11]
Irak zwischen 135.000[6] und 140.000[7] 500[9] ~200 weniger als 100[12]
7 bis 12 in Baghdad[13][14][15]
Jemen zwischen 45.000[7] und 55.000[6] 500 zwischen 400 und 600 zwischen 330[16] und 350[17]
Libanon zwischen 5.000[6] und 20.000[18] 2.000[9] < 150 zwischen 20 und 40, ausschließlich in Beirut
Libyen zwischen 35.000[7] und 38.000[6] 50 0 0
Marokko zwischen 250.000[7] und 265.000[6] 31.000 5.230 3.000 im Jahr 2006
Mandatsgebiet Palästina (jordanischer Teil) 10.000 0 (West Bank neu besiedelt) 0 (West Bank neu besiedelt) 0 (West Bank neu besiedelt)
Sudan 350 ~0 ~0
Syrien zwischen 15.000[7] und 30.000[6] 4.000 ~100 100 im Jahr 2006
Tunesien zwischen 50.000[7] und 105.000[6] 8.000 ~1.000 geschätzte 1.100 im Jahr 2006
Insgesamt zwischen 758.350 und 881.350 weniger als 7.300 weniger als 6.400

Mizrachim in Israel

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Seit Ankunft von Mizrachim in Israel schien die Kluft zwischen ihnen und den aschkenasischen Juden hinsichtlich des religiösen und weltlichen Brauchtums, der Sprache und der historischen Erfahrung nahezu unüberbrückbar. Viele orientalische Juden hatten Verfolgung erstmals im 20. Jahrhundert in ihren Heimatländern als Folge der sich zuspitzenden Spannungen in Palästina vor und nach der israelischen Staatsgründung erlebt und waren emotional und kulturell immer noch tief in den Milieus ihrer Geburtsländer verwurzelt. Zudem kannten die meisten Hebräisch nur als Gebetssprache. Die aus Nordafrika kommenden Juden sprachen arabische Dialekte, die Muttersprache der iranischstämmigen war Persisch, die Bagdad-Juden aus China sprachen Englisch, die Grusinim Georgisch, weitere Sprachen waren Tadschikisch, Juhuri sowie zahlreiche weitere je nach Herkunftsland. Teilweise sprechen israelische Mizrachim noch heute in informellen Kontexten bevorzugt diese Sprachen.

Viele Mizrachim wurden in Israel anfangs in armselige, eilig errichtete Zeltstädte einquartiert und später zum Städtebau abkommandiert. Die Ansiedlung in Moschawim (Landwirtschaftskooperativen) scheiterte zumeist, da viele Mizrachim Handwerker und Kaufleute ohne landwirtschaftliche Erfahrung waren. Auch Angehörige der städtischen Eliten (Rechtsanwälte, Verwaltungsbeamte etc.) fanden in Israel kaum Arbeit in ihren angestammten Berufen. Kulturelles Wissen aus ihren Herkunftsländern wurde von den europäisch geprägten Institutionen in Israel kaum geschätzt.

Soziologen haben zahlreiche Faktoren ausgemacht, die die Integration der Orientalen beeinträchtigten und zu einem jahrzehntelangen Prozess machten, darunter insbesondere ihre Ausbildung in ihren Herkunftsländern, aber auch Rassismus und kulturelle Ablehnung seitens des aschkenasischen Establishments und der zuvor überwiegend europäischstämmigen Bevölkerung Israels. Dagegen bildete sich 1971 die Bewegung der Black Panthers,[19] deren Gründer der zweiten Generation mizrachischer Israelis angehörten. Generell tendierten die Mizrachim in dieser Zeit dazu, sich aus Enttäuschung von der von osteuropäischen Juden geprägten, seit der Staatsgründung regierenden Arbeitspartei ab- und dem national-konservativen Likud zuzuwenden; unter anderem dies bewirkte den Wahlsieg Menachem Begins im Jahr 1977.[20] Im selben Jahr wurden jedoch auch Vertreter der Black Panthers auf der kommunistischen Liste Demokratische Front für Frieden und Gleichheit[19] in die Knesset gewählt.

Inzwischen haben die verbreiteten Mischehen von Aschkenasim und Mizrachim in Israel sowie der allgemeine Gebrauch des Hebräischen so nachhaltig unter der jüngeren, der dritten Generation gewirkt, dass neue Einwanderungsgruppen aus anderen Ländern, etwa die äthiopischen und aus dem postsowjetischen Raum stammenden Juden, die Mizrachim heute oft für einen Teil des israelischen Establishments halten. Dennoch lag das Durchschnittseinkommen der Aschkenasim im Jahr 2004 noch um 36 Prozent höher als das der Mizrachim.[21]

In religiöser Hinsicht werden die Mizrachim in Israel zu den Sepharden gerechnet. Insbesondere die Schas-Partei versteht sich als Wahrerin sephardischer Ansprüche in der Politik. Neben den Aschkenasim stellen die Sepharden in Israel einen eigenen Oberrabbiner, der für die nicht-aschkenasischen Bevölkerungsgruppen zuständig ist.

  • Orit Bashkin: Impossible Exodus Iraqi Jews in Israel. Stanford University Press, Redwood 2017, ISBN 978-0-8047-9585-2.
  • Yfaat Weiss: Wadi Salib. In: Dan Diner (Hrsg.): Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur (EJGK). Band 6: Ta–Z. Metzler, Stuttgart/Weimar 2015, ISBN 978-3-476-02506-7, S. 315–319.
  • Omar Kamil: Die Wüstengeneration. Die „arabischen Juden“ in der zionistischen Ideologie von den Anfängen bis in die 1950er Jahre. In: Klaus-Gerd Giesen (Hrsg.): Ideologien in der Weltpolitik. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden 2004, S. 211–226 (Vorschau).
  • Ella Shohat: The Invention of the Mizrahim. In: Journal of Palestine Studies. Band 29, 1999, Nr. 1, S. 5–20, doi:10.2307/2676427, JSTOR:2676427.
  • Maurice M. Roumani: The Silent Refugees: Jews from Arab Countries. Mediterranean Quarterly 14 (2003), S. 41–77, doi:10.1215/10474552-14-3-41.
  • Georges Bensoussan: Die Juden der arabischen Welt. Die verbotene Frage. Einleitung Stephan Grigat. Übersetzung Jürgen Schröder. Hentrich & Hentrich, Berlin 2019, ISBN 978-3-95565-327-9.

Einzelnachweise

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  1. Meir Amor, Chen Bram: Misrachim. In: Dan Diner (Hrsg.): Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur (EJGK). Band 4. J. B. Metzler, Stuttgart/Weimar 2013, ISBN 978-3-476-02504-3, S. 200–204.
  2. Zvi Ben-Dor Benite: Zwischen Ost und West - Die Mizrachim. Rosa-Luxemburg-Stiftung Israel, 9. Oktober 2016, abgerufen am 17. Februar 2017.
  3. Sergio Della Pergola: World Jewish Population, 2012. In: Arnold Dashefsky, Ira Sheskin (Hrsg.): Current Jewish Population Reports. Nr. 7, 2013, S. 61, doi:10.1007/978-94-007-5204-7_6 (Studie zum Download bei der Berman Jewish DataBank [PDF; abgerufen am 3. Januar 2017]).
  4. Jews in Islamic Countries: Iran. In: Jewish Virtual Library. American-Israeli Cooperative Enterprise, 2014, abgerufen am 3. Januar 2017.
  5. Jacqueline Shields: Jewish Refugees from Arab Countries. Jewish Virtual Library, abgerufen am 22. Mai 2006.
  6. a b c d e f g h i j Aryeh L. Avneri: The claim of dispossession: Jewish land-settlement and the Arabs, 1878-1948. Yad Tabenkin Institute, 1984, ISBN 0-87855-964-7, S. 276.
  7. a b c d e f g h The Encyclopedia of World History, Sixth Edition, Peter N. Stearns (general editor), © 2001 The Houghton Mifflin Company, 2001, S. 966. (Englisch)
  8. Jewish Virtual Library (englisch)
  9. a b c Leon Shapiro, World Jewish Population, 1972 Estimates. American Jewish Year Book vol. 73 (1973), S. 522–529. (englisch)
  10. The Virtual Jewish History Tour - Bahrain. Abgerufen am 5. Dezember 2011. (englisch)
  11. Bahrain Names Jewish Ambassador, BBC News, 29. Mai 2008 (englisch)
  12. Jerusalem Post (Memento des Originals vom 13. Juli 2011 im Internet Archive)  Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis.@1@2Vorlage:Webachiv/IABot/fr.jpost.com (französisch)
  13. Baghdad's last rabbi to leave Iraq (Memento des Originals vom 6. Oktober 2006 im Internet Archive)  Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis.@1@2Vorlage:Webachiv/IABot/www.haaretz.com, Haaretz (englisch)
  14. Baghdad Jews Have Become a Fearful Few, The New York Times (englisch)
  15. David Van Biema: The Last Jews of Baghdad In: Time, 27. Juli 2007. Abgerufen am 5. Dezember 2011 (englisch)
  16. Haaretz.com
  17. Yemenite Jews {Note: On November 1, 2009, The Wall Street Journal reports in June 2009 that an estimated 350 Jews were left—of whom by October 2009–60 had immigrated to the United States and 100 were considering to leave}
  18. Jews of Lebanon. Abgerufen am 5. Dezember 2011. (englisch)
  19. a b Henrietta Singer, Sara Neuman et al.: 70 Jahre Israel in 70 Plakaten. Verlag Hermann Schmidt, Mainz 2018, ISBN 978-3-87439-906-7, S. 162–165.
  20. Ran Greensteint: Colonialism, Apartheid and the native Question: The case of Israel / Palestine. In: Racism After Apartheid. Vishwas Satgar, 2019, S. 87, abgerufen am 23. Juli 2022.
  21. מרכז אדוה. (PDF) In: Adva-Center. 2005, archiviert vom Original am 17. Dezember 2005; abgerufen am 25. Mai 2017 (hebräisch).