Ohrwurm
Ohrwurm ist die umgangssprachliche Bezeichnung für ein eingängiges, leicht merkbares Musikstück, das dem Hörer für einen längeren Zeitraum in Erinnerung bleibt und einen hohen akustischen Wiedererkennungs- und Reproduktionswert besitzt. Der Duden definiert Ohrwurm als „Lied, Schlager, Hit, der sehr eingängig, einprägsam ist“, abgeleitet von den gleichnamigen Insekten, die nach volkstümlicher Vorstellung „gern in Ohren“ kriechen.[1]
Begriffsverwendung
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Die Verwendung von „Ohrwurm“ für eine Melodie, einen „erfolgreichen Schlager, denn er bohrt sich in das Gehör und ist daraus schwer zu vertreiben“,[2] geht auf den deutschen Operettenkomponisten Paul Lincke (1866–1946) zurück.[2][3]
Dieser Begriff wurde als Lehnwort earworm ins Englische übernommen. Weitere im Englischen gebräuchliche Begriffe sind sticky music (‚klebrige Musik‘) oder head music (‚Kopfmusik‘).[4]
Gedächtnisforschung
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Störende Ohrwürmer, die sich nicht oder nur sehr schwer „ausschalten“ lassen, sind Gegenstand der Gedächtnisforschung. So wurde festgestellt, dass die Wahrscheinlichkeit des „Einschaltens“ (Wiedererinnerung und Festsetzung) eines Ohrwurms dann am größten ist, wenn das Arbeitsgedächtnis wenig ausgelastet ist, zum Beispiel bei Routine-Arbeiten, Autofahren oder Spazierengehen. Ohrwürmer können dann freie Kapazitäten des Arbeitsgedächtnisses besetzen und sich dort festsetzen. Umgekehrt lassen sich Ohrwürmer am besten aus dem Arbeitsgedächtnis vertreiben durch erhöhte andere Anforderungen, wie Rätselaufgaben (etwa Sudoku) oder ein spannendes Buch. Interessanterweise gelingt diese „Vertreibung“ des Ohrwurms nicht oder weniger effektiv, wenn die andere Anforderung zu hoch ist. Wenn die Rätselaufgabe zu schwer ist, wird das Arbeitsgedächtnis nicht erfolgreich beschäftigt und der Ohrwurm behält dort seinen Freiraum.[5][6]
Eine weitere Möglichkeit der „Vertreibung“ eines Ohrwurms aus dem Arbeitsgedächtnis besteht in der Aktivierung von motorischen Programmen der beim Sprechen (Artikulation) beteiligten Organe. Hier hat sich gezeigt, dass einfaches Kauen von Kaugummi diese motorischen Programme ausreichend aktivieren kann, um Ohrwürmer zu vertreiben. Das bedeutet, dass das Arbeitsgedächtnis nicht mit sprachlichen oder bildlichen Inhalten gefordert werden muss. Die rein mechanische, inhaltsleere Aktivierung der Sprechorgane – bei Kauen von Kaugummi – ist ausreichend.[7]
Voraussetzungen
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Ohrwürmer können aus sämtlichen Genres der Musikwelt stammen. Der Musikwissenschaftler und Musikpädagoge Hermann Rauhe sieht ein Motiv aus nur drei Tönen, das sich durch ständige Wiederholungen einprägt, als wesentliche Grundlage für die Entwicklung zum Ohrwurm.[8]
Das Prinzip der Wiederholung dürfe dann allerdings nicht überstrapaziert werden, weil dies kurzlebige Schnulzen zur Folge habe. Ein Evergreen, der Jahrzehnte überdauert hat, beinhalte nach zwei- oder dreimaliger Wiederholung dieses Motivs eine Überraschung. Diese könne aus einem besonders erregenden Tonsprung bestehen wie etwa der Sextsprung bei Tea for Two oder Strangers in the Night. In der Dosierung von Vertrautheits- und Überraschungseffekt liege Rauhe zufolge das Erfolgsgeheimnis. Wesentlich sei auch die Ausstrahlungskraft des Interpreten bei der Entwicklung zum Evergreen. Von ganz besonderer Bedeutung für den Ohrwurm sind die Hookline und der Riff. Die Hookline ist eine griffige und eingängige Text- und/oder Musikpassage innerhalb eines Musikstückes, die dessen Wiedererkennungswert enorm steigert und dessen Reproduzierbarkeit aus der Erinnerung ermöglicht. Der Riff, oft im Intro begonnen und während des Stücks häufig wiederholt, ist eine prägnante instrumentale Klangfigur, deren markante Tonfolge ebenfalls für einen hohen Wiedererkennungswert sorgt.
Markante Passagen
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Musikwissenschaftler Jan Hemming ist der Auffassung, dass ein Ohrwurm unbewusst und unwillkürlich aus der Erinnerung hervortrete, jedoch insbesondere subjektiver Natur sei und häufig von Hörer zu Hörer differiere.[9] Ohrwürmer seien eine emotionale Angelegenheit und würden vor allem bei Musikstücken auftreten, denen man entweder sehr positiv oder sehr negativ gegenüberstehe. Nicht ganze Titel würden zu Ohrwürmern, vielmehr bohrten sich markante Passagen ins Unbewusste, die die Aufmerksamkeitsschwelle und das Kurzzeitgedächtnis des Hörers keinesfalls überforderten. Wichtig sei auch die emotionale Einstellung: herrscht beim Hören eine starke Gefühlsregung vor, so grabe sich die Musik stärker ins Gedächtnis ein.[10]
Sofern ein Zuhörer mit einem bestimmten Titel gut vertraut ist, erhöht dies die Chancen des Musikstücks, zum Ohrwurm zu werden. In einer Versuchsreihe am Kasseler Institut für Musik zeigte sich, dass 60,5 % der Stücke, die sich bei den Probanden zum Ohrwurm entwickelten, den Betroffenen bereits bekannt waren. 24,4 % der Stücke, die sich zur musikalischen „Endlosschleife“ entwickelten, waren für die Probanden dagegen neu. Eine wichtige Rolle spiele offenbar der Text. So waren bei der Kasseler Testreihe drei der fünf eingängigsten Titel Lieder mit deutschen Texten, während reine Instrumentalstücke nur selten Ohrwurmstatus erreichten.[11]
James Kellaris, Professor an der University of Cincinnati, wies in seinen Studien nach, dass Menschen unterschiedliche Anfälligkeiten für das Ohrwurmphänomen besitzen, dass aber nahezu jeder mindestens einmal im Laufe der Zeit mit einem Ohrwurm zu tun hatte. Auch seien Frauen und Musiker eher dafür anfällig als andere Personen.[12]
Ein Team um Nicolas Farrugia von der University of London hat den Zusammenhang zwischen Ohrwürmern und neuroanatomischen Besonderheiten nachgewiesen. So sind bei Menschen, die besonders häufig Ohrwürmer haben, diejenigen Hirnrindenbereiche im rechten Schläfenlappen kleiner, die für das Musikhören zuständig sind. Eventuell führt die geringere Größe zu einer erhöhten Reizbarkeit dieser neuronalen Netzwerke.[13]
Rezeption in der Popmusik
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Das Lied Ohrwurm von den Wise Guys („Weil ich in deinen Ohren steck, und ich geh hier nie mehr weg!“, „Ich bin zwar nicht grad virtuos, doch du wirst mich nie mehr los!“, „Ich bin ziemlich penetrant, sonst wär ich nicht so bekannt!“; Juni 2004)[14] und The Chicken Song von Spitting Image (mit der Textzeile „And though you hate this song, you’ll be humming it for weeks“, April 1986; deutsch: „Und obwohl du dieses Lied hasst, wirst du es wochenlang summen.“)[15] beschreiben anschaulich das Phänomen des Ohrwurms, dessen Melodie so eingängig ist, dass man sie nicht mehr loswird, auch wenn sie nicht dem eigenen Geschmack entspricht.
Die deutsche Mittelalter-Rock-Band Feuerschwanz hat 2014 ebenfalls ein Lied mit dem Titel Ohrwurm veröffentlicht.[16][17]
Im Jahr 1982 wurde dem Ohrwurm durch Fred Sonnenschein alias Frank Zander in Person von Dr. Pachulke im Titel „Der Ohrwurm“ auch ein „lateinischer“ Name verliehen. So wird er als „Audiopenetrantus schleimum“ bezeichnet. Genauso wurde im selben Titel auch die Lebenszeit eines Ohrwurms auf einen Monat oder manchmal auch 4 Wochen festgelegt. Im selben Jahr wurde dieses Lied auch von Gottlieb Wendehals gesungen.[18]
Einzelnachweise
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]- ↑ Ohrwurm, duden.de, abgerufen am 4. Januar 2012
- ↑ a b Kurt Krüger-Lorenzen: Aus der Pistole geschossen. Wien, Econ Verlag, 1966, S. 172 (google.com).
- ↑ Susanne Wagner, Thomas Spillmann: Augenblicke für das Ohr: der Mensch und sein Gehör. Rüffer&Rub Sachbuchverlag, 2004, ISBN 978-3-907625-15-6, S. 143 (google.com).
- ↑ Wie werde ich bloß den Ohrwurm los?, Frankfurter Rundschau vom 13. Dezember 2011.
- ↑ Ira E. Hyman, Naomi K. Burland, Hollyann M. Duskin, Megan C. Cook, Christina M. Roy, Jessie C. McGrath, Rebecca F. Roundhill: Going Gaga: Investigating, Creating, and Manipulating the Song Stuck in My Head. In: Applied Cognitive Psychology. 27, 2013, S. 204–215, doi:10.1002/acp.2897.
- ↑ Richard Gray: Get that tune out of your head - scientists find how to get rid of earworms In: The Daily Telegraph, 24. März 2013. Abgerufen am 25. März 2013
- ↑ C. P. Beaman, K. Powell, E. Rapley: Want to block earworms from conscious awareness? B(u)y gum! In: Quarterly journal of experimental psychology (2006). Band 68, Nummer 6, 2015, S. 1049–1057, doi:10.1080/17470218.2015.1034142, PMID 25896521.
- ↑ Anatomie des Ohrwurms ( vom 14. April 2018 im Internet Archive) In: spiegel.de, SPIEGEL SPECIAL 12/1995 vom 1. Dezember 1995, S. 21.
- ↑ Tatjana Mehner: Lenas Song: Musikprofessor untersucht. In: Thüringische Landeszeitung. 18. Februar 2011, archiviert vom am 8. Dezember 2015; abgerufen am 27. März 2024 (auch Ostthüringer Zeitung).
- ↑ Virtuos - Das Magazin der GEMA, April 2012, S. 52
- ↑ Scinexx Das Wissensmagazin vom 28. Mai 2010, Was macht einen Song zum Ohrwurm?
- ↑ BBC: Kellaris über den Ohrwurm
- ↑ Nicolas Farrugia, Kelly Jakubowski, Rhodri Cusack, Lauren Stewart: Tunes stuck in your brain: The frequency and affective evaluation of involuntary musical imagery correlate with cortical structure. In: Consciousness and Cognition. Band 35, 1. September 2015, ISSN 1053-8100, S. 66–77, doi:10.1016/j.concog.2015.04.020 (sciencedirect.com [abgerufen am 18. Januar 2020]).
- ↑ Ohrwurm. ( vom 10. August 2018 im Internet Archive) In: wiseguys.de.
- ↑ Liedtext von The Chicken Song
- ↑ Songtext "Ohrwurm" von Feuerschwanz. songtexte.com, abgerufen am 9. Juni 2020.
- ↑ Track-List von Feuerschwanz-Album "Auf's Leben" (2014). discogs.com, abgerufen am 9. Juni 2020.
- ↑ Gottlieb Wendehals - Der Ohrwurm 1982 auf YouTube
Literatur
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]- Engmann, Birk; Reuter, Mike: Melodiewahrnehmung ohne äußeren Reiz. Halluzination oder Epilepsie? Nervenheilkunde 2009 28 4: 217–221. ISSN 0722-1541
- Sacks, Oliver: Der einarmige Pianist. Über Musik und das Gehirn. Rowohlt. Reinbek. 2008.
- Manfred Spitzer: Musik im Kopf: Hören, Musizieren, Verstehen und Erleben im neuronalen Netzwerk, Schattauer, 2002. ISBN 3-7945-2427-6
- Hemming, Jan: Zur Phänomenologie des 'Ohrwurms.' In: Wolfgang Auhagen, Bullerjahn, Claudia & Höge, Holger (Hrsg.): Musikpsychologie – Musikalisches Gedächtnis und musikalisches Lernen (S. 184–207). Göttingen 2009: Hogrefe (= Jahrbuch der Deutschen Gesellschaft für Musikpsychologie; 20).